Gemeinsam fuhren Tom und Isabelle mit dem Aufzug zurück auf Sylvies Station, und keiner von ihnen wusste, was er sagen sollte. Das Schweigen kreischte in Toms Ohren.
Isabelle hatte so viel Abstand wie nur möglich zwischen sich und ihn gebracht. Ihre Augen waren feuerrot, aber trocken. Er hasste es, dass sie so beherrscht wirkte, so gefasst. So kühl. Es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte ihn angeschrien, hätte ihn mit Vorwürfen überschüttet. Warum ohrfeigte sie ihn nicht, wie er es verdient hatte?
Der Fahrstuhl ruckelte leicht. Im Spiegel an der Rückwand starrte Tom sich selbst in die Augen. Sein Blick flackerte, und nur die Tatsache, dass sich die Aufzugtüren genau in dieser Sekunde öffneten, hielt ihn davon ab, sich selbst die Faust ins Gesicht zu rammen.
Als er und Isabelle die Schutzkleidung wieder übergestreift hatten und Sylvies Zimmer betraten, saß seine Tochter aufrecht in den Kissen. Sie hielt ihr Handy in diesem speziellen Winkel, der Tom zeigte, dass sie sich selbst filmte. »Oh«, sagte sie nach einem kurzen Blick auf ihn und wandte sich dann wieder der Kamera zu. »Meine Eltern kommen gerade rein, Leute. Ich halte euch auf dem Laufenden, was bei dem Gespräch mit dem Arzt rausgekommen ist. Bleibt zuversichtlich, ich bin es auch!« Es war die Standardfloskel, mit der sie jeden Beitrag ihres Vlogs beendete, den sie auf Instagram und YouTube hochlud. Sie hatte damit begonnen, um Jugendliche in ihrem Alter über Mukoviszidose aufzuklären, aber seit sie an diesem teuflischen Keim erkrankt war, drehten sich viele ihrer Beiträge darum.
Tom biss die Zähne zusammen.
Sylvie stellte ihren Beitrag online. Dann ließ sie das Handy auf die Bettdecke fallen und lächelte erst Tom und gleich darauf auch Isabelle an. »Und?«, fragte sie. »Was hat der Doc gesagt? Warum ist er nicht mit euch gekommen? Er kommt doch sonst immer …« Sie hielt inne und betrachtete forschend ihre Mienen. »Oh, oh.«
Tom kam es vor, als hätten seine Füße Wurzeln geschlagen. Wie nur sollte er es schaffen, seiner Tochter die Hiobsbotschaft zu überbringen? Er schluckte schwer. Er hatte Sand in der Kehle. Wenn er jetzt den Mund aufmachte, würde nichts rauskommen außer einem tonlosen Krächzen.
Isabelle allerdings war stärker als er. Sie trat zu Sylvie ans Bett und nahm ihre Hand.
Tom konnte sehen, wie Sylvie die Lippen zusammenpresste. »Okay«, murmelte sie. »Wie lange habe ich noch?«
Ihr Tonfall zog Tom den Boden unter den Füßen weg. Wie konnte sie nur so sachlich sein? So schrecklich gefasst?
»Nein!«, stieß Isabelle hervor. »Nein, Schätzchen, das … es ist nicht so, dass … du …«
Doch, dachte Tom. Ist es. Jedenfalls wenn diese verdammte letzte Medikamententherapie nicht wirkte. Er wollte etwas empfinden, aber er konnte es nicht. All seine Gefühle hatten sich von der Realität abgekoppelt. Es kam ihm vor, als hätte das hier nichts mehr mit ihm zu tun.
Isabelle wandte ihm das Gesicht zu, und ausnahmsweise war da kein Vorwurf in ihrem Blick, sondern nur ein stummes Flehen um Hilfe.
Tom überwand seine Starre und trat an die andere Seite von Sylvies Bett, sodass ihre Tochter jetzt von ihren beiden Eltern eingerahmt war. Als würden wir sie beschützen, dachte Tom. Er war sich der Ironie dieses Gedankens bewusst. Es war doch seine verdammte Pflicht, sein kleines Mädchen vor allem Dreck dieser Welt zu beschützen. Wie konnte es da sein, dass er machtlos war gegen …
»Sylvie …«, begann er, verstummte.
»Nicht Dikdik?« Sylvie mühte sich vergeblich um einen leichtherzigen Tonfall. »Du machst mir echt Angst, Paps!«
Er unterdrückte ein betretenes Lächeln.
»Okay.« Sylvie setzte sich noch ein bisschen aufrechter hin. Für den Videobeitrag hatte sie ihre Haare gekämmt und sie sorgfältig über ihrer linken Schulter drapiert, doch jetzt schleuderte sie sie über die Schulter nach hinten. »Die Therapie wirkt auch nicht, stimmt’s? Das ist es, was der Doc euch erzählt hat: Die ganzen Torturen waren umsonst. Gut. Und jetzt? Du hast gesagt, dass ich noch nicht sterben muss, Mama. Was kommt also als Nächstes?«
Sie schwiegen beide.
»Es gibt noch eine weitere Behandlungsmöglichkeit, oder?«, flüsterte Sylvie.
Isabelle ließ sich auf die Kante des Bettes sinken.
Sylvie wurde noch blasser. »Raus mit der Sprache, Paps! Was ist es diesmal?«
Und da erzählte Tom es ihr.
Nina war wieder Kind. Sie ritt auf Georgys Knien und wurde von ihm an einer Hand und einem Fuß gehalten und wie ein Flieger im Kreis gewirbelt. Sie stand das erste Mal an einem Labortisch, vor sich in einem Metallständer die Bunte Reihe, eine Galerie von Reagenzgläsern mit verschiedenfarbigen Testmedien, mit denen man Bakterien über ihre Stoffwechselaktivitäten nachweisen konnte. Georgys Augen leuchteten vor Stolz. Sie sah sich selbst ein paar Jahre später, als sie ihm gesagt hatte, dass sie keine Mikrobiologin werden würde, sondern Journalistin. Auch da war der Glanz nicht aus seinen Augen gewichen. »Bist du jetzt enttäuscht?«, hatte sie ihn gefragt, und seine Antwort war ganz ruhig gekommen: »Wie könnte ich enttäuscht sein darüber, dass du gefunden hast, wofür du brennst?« Er hatte sie immer unterstützt, egal, was sie getan hatte. Selbst als sie sich als Teenager die blonden Haare, die er an ihr so liebte, knallrot gefärbt hatte, war er nicht …
Er.
Ist.
Tot.
Sie lehnte an der Wand eines Gebäudes, das dem Institut gegenüber auf der anderen Seite der Levan-Gouta-Straße lag. Wie war sie hierhergekommen? Und warum war sie hier? Georgy! Sie wollte zurück zu ihm, doch gerade, als sie das dachte, fiel ihr die Bombe wieder ein. Gott im Himmel! Ihre Beine. Warum trugen sie sie noch? Brich zusammen, wie es sich gehört, verdammt! Aber sie stand immer noch. Sie stand einfach nur da, starrte ins Leere, und da war nichts mehr, das sie fühlte.
Bis im Institut die Bombe explodierte.
Die Druckwelle erfasste sie, schleuderte sie herum und warf sie gegen die Wand. Sie badete in Schmerz. Bekam keine Luft. Schrie sie? Sie wusste es nicht. Ihre Ohren klingelten. Alles bewegte sich wie in Zeitlupe: sie selbst, als sie sich auf Hände und Knie stemmte. Maren, die sich mit hängendem Kopf aufrappelte …
Sie blutete aus einer Wunde an der Schläfe! Der Anblick brannte sich rot und grell durch Ninas Betäubung, brachte sie dazu, sich zusammenzureißen. Aufzustehen. Zu Maren zu wanken. Sie erreichte sie genau in dem Augenblick, als ihre Freundin wieder zusammenbrach, und fing sie auf. Ihr Körper protestierte mit dumpfen Schmerzen gegen das zusätzliche Gewicht, aber das war jetzt nicht wichtig.
»Hilfe!«, wisperte sie und wusste, dass niemand sie hören würde. Aber das war auch nicht nötig, denn die Explosion schien das halbe Viertel erschüttert zu haben. In der Ferne ertönten bereits Martinshörner.
Als Nächstes bekam sie noch mit, wie jemand ihr den Arm um die Schultern legte und sagte: »Kommen Sie. Wir kümmern uns jetzt um Sie.«
In der Küche des Alten- und Pflegeheimes St. Anton herrschte Hochbetrieb. Der Lieferwagen eines Großküchenunternehmens brachte gerade das Essen für die Bewohner. Die Küchenmitarbeiterinnen waren damit beschäftigt, die auf Metalltellern angerichteten Essensportionen auszuladen und auf die Servierwagen zu schichten. Eine ältere Köchin stand mit einem Klemmbrett in der Hand dabei und sorgte dafür, dass jeder Bewohner das für ihn passende Essen bekam.
Niemand achtete auf den Mann mit der Glatze, der mit schnellen Schritten den Flur entlangeilte. Er trug einen hellgrünen Kittel wie die Pfleger des Heimes, und nur wenn man genau hinsah, hätte man merken können, dass seine militärisch anmutende Art ebenso wenig zu einem Altenpfleger passte wie der Siegelring mit dem blau-roten Kreuz des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, den er am kleinen Finger trug.
Aber in der Hektik des Alltags schaute niemand genauer hin. Der Glatzköpfige gelangte ungehindert in die Küche, und ebenso ungehindert steuerte er auf eine große Schüssel mit Quarkspeise zu. Die Köchin von St. Anton war stolz darauf, dass sie wenigstens das Dessert für ihre Schützlinge noch selbst zubereitete und nicht von einer Fremdfirma liefern ließ.
Der Glatzköpfige umfasste eine Spritze in seiner Kitteltasche. Er wartete einen passenden Moment ab, und als die Köchin eine der Aushilfen zur Schnecke machte und alle anderen darum den Kopf einzogen, nahm er die Spritze aus der Tasche. Mit einer geübten Bewegung zog er die Schutzkappe ab. Nur eine Sekunde später war der Inhalt der Spritze durch die Klarsichtfolie hindurch in den Quark injiziert.
Zufrieden steckte der Glatzköpfige die nun leere Spritze wieder ein. Der Blick einer Küchenhilfe, einer Frau in den Zwanzigern, fiel auf ihn, und er winkte ihr freundlich zu, woraufhin sie verlegen errötete.
Dann ging er.
Die Küchenhilfe runzelte die Stirn, hatte den Mann in der Hektik jedoch gleich darauf wieder vergessen.
Sylvie saß ungefähr fünf Minuten schweigend da. Fünf Minuten, in denen Tom sehen konnte, wie die Gedanken hinter ihrer Stirn rotierten. Fünf Minuten, in denen er sich vorkam, als würde er auf einem Hochseil balancieren und unter sich einen Abgrund gähnen sehen, dessen Boden sich in tiefster Finsternis verlor.
»Krass«, hörte er sie flüstern.
»Schätzchen …«, setzte Isabelle an, aber Sylvie ließ sie nicht zu Wort kommen.
»Nein, Mama. Schon okay. Ich habe das verstanden. Und ich …« Sie hielt inne, überlegte. Ein feines, wehmütiges Lächeln glitt über ihre Lippen. »Ich habe mich schon länger mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass ich vielleicht meinen nächsten Geburtstag nicht mehr erlebe.« Sie hob die Hand, weil Isabelle ihr ins Wort fallen wollte. »Schon okay. Ehrlich!« Ihr Blick fiel auf ihr Handy, das unbeachtet auf der Bettdecke lag. »Meine Follower werden vermutlich traurig sein.«
Und was ist mit uns?, schrie eine Stimme in Toms Kopf. Was ist mit mir?
»Herrgott!«
Hatte er das laut gesagt? Offenbar, denn Isabelle wandte ihm den Kopf zu. Warum waren ihre Augen immer noch trocken? Da er sich lieber aus dem Fenster gestürzt hätte, als hier als Einziger in Tränen auszubrechen, stieß er hervor: »Entschuldigt mich bitte kurz!«
Bevor die beiden etwas erwidern konnten, floh er aus dem Zimmer. Er rannte hinaus auf den Krankenhausflur und durch die Stationstür, die sich automatisch vor ihm öffnete, dabei aber so langsam war, dass er sich fast den Schädel daran eingerammt hätte. Vor den Fahrstühlen blieb er stehen, umklammerte das Genick mit beiden Händen. Ging drei Schritte, blieb wieder stehen. Ein Mann im Arztkittel kam vorbei, schaute ihn fragend an. Tom wandte sich ab. Selbst der Blick eines Fremden war ihm unerträglich.
»Herr Morell?« Die dunkle Stimme einer Frau erklang hinter ihm. »Ist alles in Ordnung?«
Er wandte sich um. Schwester Tanja, eine der Krankenschwestern von Sylvies Station, musste gesehen haben, wie er davongestürzt war.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. Wusste sie bereits, was Dr. Heinemann ihm und Isabelle gesagt hatte? Um ihrem mitfühlenden Blick auszuweichen, starrte er an ihrer Lockenmähne vorbei in Richtung Fahrstuhl. »Danke«, murmelte er. »Das ist sehr freundlich, aber nicht nötig.«
Da berührte sie ihn am Oberarm. »Das, was Sie und Ihre Tochter durchmachen müssen, ist nicht leicht. Aber ich bin sicher, es wird ein gutes Ende haben. Sie müssen zuversichtlich bleiben!«
Das klang so sehr nach den Worten, mit denen Sylvie stets ihre Videoblog-Beiträge beendete, dass Tom sich fragte, ob Schwester Tanja vielleicht eine von Sylvies Followerinnen war. Er zwang sich zu einem Lächeln und war froh, dass er sich selbst dabei nicht sehen konnte. »Wie gesagt: sehr freundlich von Ihnen.« Er deutete in Richtung Stationstür. »Ich gehe dann mal wieder zu ihr.«
»Ja, tun Sie das.«
Tom nickte der Krankenschwester zu, ließ sie stehen und kehrte zu seiner Frau und seiner Tochter zurück. Ungefähr eine Stunde brauchten sie, um die nächsten Behandlungsschritte gemeinsam mit Sylvie durchzugehen. Danach verabschiedeten Tom und Isabelle sich von ihrer Tochter. Beide versprachen, morgen wiederzukommen. Dann gingen sie zu Dr. Heinemann und gaben ihr Okay für die Behandlung. Sie unterschrieben die dafür nötigen Formulare und verließen danach still und bedrückt das Krankenhaus. Sie waren kaum durch den Haupteingang in die Spätsommerhitze hinausgetreten, da erstarrte Isabelle. Es sah aus, als sei in ihrem Inneren ein Mechanismus zum Stehen gekommen, der allein durch Willenskraft angetrieben worden war.
Tom schluckte die Worte herunter, die sich in seiner Kehle stauten.
Es tut mir alles so unendlich leid.
Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren.
Wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen, Isabelle!
Statt irgendwelche dämlichen Plattitüden von sich zu geben, hob er den Arm und winkte ein Taxi heran, das langsam die Föhrer Straße heruntergerollt kam. Der Fahrer hielt, und Tom öffnete die Tür zum Fond.
Isabelle rührte sich nicht.
Mehrere Sekunden verstrichen, dann stieß sie einen Laut aus, der ihn an ein sterbendes Tier erinnerte. »Wir teilen uns die Fahrtkosten«, murmelte sie in dem vergeblichen Versuch, ihre Emotionen im Zaum zu halten.
Tom jedoch spürte, dass sie ihn keine Sekunde länger in ihrer Nähe ertragen konnte. »Ich nehme die U-Bahn«, widersprach er.
Ihr Blick ruhte schwer auf ihm. »Gut«, sagte sie nur.
Er nickte ihr zu. »Wir sehen uns morgen.«
Sie nickte zurück, dann stieg sie in den Wagen. Tom schloss die Tür hinter ihr. Der Fahrer setzte den Blinker und fädelte sich in den Verkehr ein. Das Letzte, was Tom von seiner Frau sah, war ihr blasses Gesicht hinter der schmutzigen Wagenscheibe.
»Herr Morell?« Dr. Heinemann tauchte plötzlich hinter ihm auf.
Tom drehte sich um. Der Arzt war ihm nach draußen gefolgt, offenbar hatte er ihn vom Fenster seines Büros aus gesehen. In seinem Gesicht stand noch immer Mitgefühl, aber nun waren auch noch tiefe Falten rings um seinen Mund hinzugekommen. Er machte den Eindruck, als ringe er mit sich.
»Ja?«, schaffte Tom es hervorzupressen.
Heinemann kratzte sich am Kinn. »Es gibt jemanden, der Ihnen vielleicht helfen kann, wenn sich tatsächlich herausstellt, dass die alternativen Therapien unsere letzte Hoffnung sind.«
Tom erschauderte. »Sie gehen nicht davon aus, dass diese letzte Antibiotikakombination wirkt, oder?«
»Solange wir es nicht ausprobiert haben, können wir das nicht mit Sicherheit sagen.«
Tom ahnte, dass die Antwort auf seine Frage eigentlich Ja lautete. Bevor er etwas erwidern konnte, reichte Heinemann ihm einen Zettel, den er von einem Notizblock abgerissen hatte. Tom griff danach. Ein paar Zähne der Perforation hingen noch daran. »Was ist das?« Er faltete den Zettel auf. Heinemann hatte einen Namen daraufgeschrieben. Dr. Max Seifert. Darunter stand eine Handynummer.
»Dr. Seifert ist ein sehr geschätzter ehemaliger Kollege von mir«, sagte Heinemann. »Er hat Kontakt zu einem der führenden Phagenforscher in Tiflis, und wenn es hart auf hart kommt, Herr Morell, dann bleibt Ihnen vielleicht nur, dort hinzufliegen, die entsprechenden Phagen für Ihre Tochter herzuholen oder sie dort behandeln zu lassen.« Er hielt inne. Dann fügte er hinzu: »Aber das habe ich Ihnen nie empfohlen.«
Gleich zwei Sanitäter kümmerten sich um Marens Kopfverletzung, während ein weiterer Nina zu einem der beiden Rettungswagen führte und sie drinnen auf die Trage setzte, um sie zu untersuchen.
»War ein ganz schöner Knall, würde ich sagen.« Er leuchtete ihr in die Augen, um herauszufinden, ob sie eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte.
»Hmhm«, murmelte Nina. Nachdem sich der Schock der Explosion ein wenig gelegt hatte und ihr Kopf sich nicht mehr anfühlte, als habe ihr jemand Watte bis tief in die letzte Gehirnwindung gestopft, sprang nun auch langsam ihr Verstand wieder an. Georgy war tot. Und wenn Maren die Bombe in dem Labor nicht zufällig entdeckt hätte, wären sie beide es jetzt auch.
Eine Bombe!
Sie krümmte sich, weil ihr bewusst wurde, dass sie jetzt nicht einmal mehr einen Leichnam von Georgy hatte, den sie beerdigen konnte.
»Hey!« Der Sanitäter hielt sie aufrecht. »Alles in Ordnung?«
Sie nickte. Ihr Kopf bestrafte sie dafür mit dumpfem Dröhnen und fiesem Schwindel. »Ja«, sagte sie trotzdem. »Mir ist nur gerade klar geworden …« Sie winkte ab. »Egal!«
Der junge Sanitäter sah sie ernst an. »Sie hatten großes Glück, dass Sie nicht ein paar Meter näher am Explosionsherd waren.«
»Vermutlich.« Nina ließ den Mann ihren Kopf hin- und herbewegen und ihre Schädeldecke abtasten.
»Tut das weh?«
»Nein.«
»Sehr gut. Und das?« Während der Sanitäter weiter an ihr rumdrückte, versuchte Nina, ihre Gedanken zu ordnen.
Georgy war tot und …
Der Gedanke pulverisierte jeden Versuch, sich zu sortieren.
Sie ächzte leise. Warum eigentlich weinte sie nicht um ihren Ziehvater? Auf einmal war es, als betrachte sie sich selbst von außen. Als würde das hier nicht ihr geschehen, sondern einer völlig Fremden. Schock führt zu emotionaler Distanzierung, dachte sie. Es war ein Schutzmechanismus ihrer Seele. Zu furchtbar waren die Dinge, die sie gesehen und erlebt hatte. Ihr Verstand musste sie davor schützen.
Sie schloss die Augen, während der Sanitäter ihre Schürfwunden behandelte. Das Desinfektionsmittel brannte, aber der Schmerz fühlte sich ebenso fern und unwirklich an wie alles andere.
»Das war’s«, sagte der junge Mann schließlich. »Sie scheinen nicht ernstlich verletzt zu sein, aber ich würde Sie gern ins Krankenhaus fahren, damit Sie dort nochmal eingehender untersucht werden können.«
»Später.« Durch die offene Tür fiel Ninas Blick auf den zweiten Rettungswagen. Bevor der Sanitäter sie daran hindern konnte, hüpfte sie von der Trage.
»He! Machen Sie auf jeden Fall langsam!«, mahnte er, aber sie achtete kaum auf ihn. Hastig kletterte sie ins Freie und ging die paar Schritte zu dem anderen Wagen, wo jetzt ein Notarzt die beiden Sanitäter abgelöst hatte. Sein Körper verdeckte Maren auf der Trage zum Teil, aber Nina konnte genug sehen, um all das Blut zu erkennen, das ihre Freundin bedeckte.
Nur ein Teil davon ist ihres, dachte sie dumpf. Und dann erneut: Georgy!
Sie musste sich an der Tür des Wagens festhalten, um nicht zu Boden zu gehen. »Wie geht es ihr?«, fragte sie mit kläglich piepsiger Stimme.
Der Notarzt warf ihr einen Blick zu, aber bevor er antworten konnte, erklang schon Marens Stimme: »Nina? Bist du das? Bist du okay?«
Ohne den Arzt um Erlaubnis zu fragen, kletterte Nina in den Wagen. Maren hatte bereits einen Verband um den Kopf.
»Sie hat eine ziemlich tiefe Platzwunde und vermutlich eine schwere Gehirnerschütterung«, sagte der Arzt. »Wir bringen sie ins Krankenhaus.«
»Gleich«, murmelte Maren und streckte die Hand nach Nina aus. »Bist du …«
»Mir geht es gut«, versicherte Nina, während sie Marens Hand ergriff. »Was ist dadrinnen eben passiert?«
Maren schloss die Augen. Sie war so blass, dass ihre brünetten Haare dagegen fast schwarz wirkten. »Keine Ahnung. Jemand hat … das Institut …«
In die Luft gesprengt. Eine Erkenntnis traf Nina mit der Wucht eines Vorschlaghammers: Georgys gesamte Forschung. Die Phagensammlung. Und auch seine innovativen Superphagen … Alles war vernichtet.
»Grundgütiger, Maren!«, hörte sie sich wispern.
»Max«, sagte Maren. Im ersten Moment wusste Nina nicht, was das bedeutete, doch dann fiel ihr wieder ein, dass das die letzten Worte von Georgy gewesen waren.
Max. Meine Phagen. Und Gefahr.
Meine Phagen. Damit konnten nur die zwölf neuen Phagencocktails gemeint sein, Georgys hochinnovative Therapiephagen gegen resistente Superkeime, die er wie einen Schatz gehütet hatte.
Nina rann ein Kribbeln den Rücken hinunter. »Glaubst du, dass er die zwölf Cocktails bei diesem Max in Sicherheit gebracht hat?«, fragte sie.
Maren nickte, verzog schmerzerfüllt das Gesicht. »Möglich. Er hat keinem seiner Mitarbeiter verraten, wo er sie aufbewahrt hat. Nicht einmal mir.«
»Wir müssen jetzt los«, mahnte der Arzt.
Nina ignorierte ihn. »Max ist …«
»Max Seifert«, sagte Maren.
Nina wusste, wer Max Seifert war. Er war eine Weile lang Georgys Assistent und wissenschaftlicher Mitarbeiter gewesen, bevor er sich entschlossen hatte, in die Politik zu gehen. Sie waren sich einige Male begegnet, und Nina erinnerte sich an einen eifrigen, etwas kauzigen Mann, dessen unbeholfene Flirtversuche sie anfangs ganz süß gefunden hatte, die ihr aber recht schnell auf die Nerven gegangen waren.
»Georgy hat oft mit Max telefoniert«, erklärte Maren. Sie tastete in der Tasche ihres Blazers nach ihrem Handy und zog es heraus.
»Ich muss Sie bitten …«, versuchte der Notarzt es erneut.
Maren beachtete ihn nicht einmal. Sie rief einen Eintrag in ihrem Telefonbuch auf und schickte ihn an Ninas Handy. Es war eine Anschrift in Berlin. »Das sind seine Nummer und seine Adresse. Wenn Georgy Max die Phagen geschickt hat, solltest du …«
»Warum Max?«
Maren verzog das Gesicht. »Max unterstützt die Pandemic Fighters. Ich glaube, Georgy wollte die zwölf mit seiner Hilfe der Menschheit zur Verfügung stellen.«
Ja, dachte Nina. Ja, das sähe ihm ähnlich. Die Superphagen konnten bei der Heilung bakterieller Infektionen in Entwicklungsländern eine Menge Leben retten. Sie frei zur Verfügung zu stellen, statt sie erfolgreich zu vermarkten, hätte genau Georgys Charakter entsprochen. Ganz kurz schnitt die Trauer schmerzhaft durch den Schutzwall, den Ninas Verstand um sie errichtet hatte. Sie kämpfte dagegen an. Sie musste in Bewegung bleiben, musste etwas tun, um den Schmerz von sich fernzuhalten. »Das ist gut«, sagte sie. »Vielleicht sollte ich nach Berlin fliegen und dafür sorgen, dass sein Vermächtnis wirklich …«
»Berlin?« Eine neue Stimme ertönte von außerhalb des Rettungswagens. Ein übergewichtiger Mann in einem dunkelgrauen Wollmantel streckte den Kopf zur Tür herein. Er hatte buschige Augenbrauen und einen forschenden Blick, den er erst über Nina, dann über Maren schweifen ließ. »Sind Sie die beiden Frauen, die die Explosion miterlebt haben?«
Nina bejahte.
Der Mann zückte einen Dienstausweis, der so abgegriffen war, dass sie Mühe hatte, die georgischen Schriftzeichen darauf zu entziffern.
»Barataschwili«, stellte der Mann sich vor. »Kriminalpolizei. Ich fürchte, so schnell werden Sie nicht nach Berlin fliegen können.«
Die Pension, in der Tom wohnte, lag ganz in der Nähe vom Bergmannkiez am Südrand von Kreuzberg. Sie befand sich im obersten Stock einer alten Villa, die komplett umgebaut worden war und nur noch Fremdenzimmer beherbergte. Sämtliche Räume atmeten allesamt noch den alten Charme der meterhohen Decken und Stuckverzierungen. Tom wohnte hier, seit Isabelle ihn aus der gemeinsamen Wohnung geschmissen hatte. Er hatte sich aus mehreren Gründen für diesen Ort entschieden. Zum einen waren es von hier aus nur ein paar Minuten Fußweg bis zu seinem alten Zuhause. Darüber hinaus war hier die Miete einigermaßen bezahlbar, aber was hauptsächlich für diese Pension gesprochen hatte, war die Tatsache, dass man beim Umbau auf jeder Etage die Küche belassen hatte, die die Mieter nutzen durften. Ohne Küche hätte er es bei seiner Leidenschaft fürs Kochen und für exotische Lebensmittel aus aller Welt keinen einzigen Tag ausgehalten.
Nach seinem Gespräch mit Heinemann war er eine Weile lang ziellos durch die Stadt gestreift, darum dämmerte es schon, als er das Zimmer betrat, das von schweren Samtvorhängen und uralten orientalischen Teppichen dominiert wurde. Er hängte seine Lederjacke an die Garderobe hinter der Tür, streifte die Boots von den Füßen und tappte auf Socken ins Bad. Dort öffnete er den Wasserhahn, ließ das Wasser laufen, bis es so kalt wie möglich war, und hielt dann den Kopf darunter. Mit einem Handtuch kehrte er anschließend ins Zimmer zurück. Er kramte Heinemanns Zettel aus der Hosentasche und rief die Nummer an.
Eine Mailbox antwortete. »Guten Tag. Sie haben die Nummer der Kommunikationsagentur Medic Affairs gewählt. Leider ist zurzeit niemand …«
Tom legte auf. Eine Kommunikationsagentur? Er hatte gedacht, dass es sich bei diesem Dr. Seifert um einen Arzt handeln würde. Nachdenklich starrte er auf den alten Sekretär, auf dem neben ein paar Büchern, die er bei seinem Auszug mitgenommen hatte, auch sein Notebook stand. Er klappte es auf, um Medic Affairs zu recherchieren, aber ihm fehlte die Energie dazu. Eine Zeit lang blieb er wie betäubt vor dem Monitor sitzen, dachte an Sylvies Vlog und war versucht, ihren letzten Beitrag aufzurufen, den sie vorhin im Krankenhaus gedreht hatte. Aber die Gefahr bestand, dass er beim Anblick ihres blassen Gesichtes auf dem Monitor aus dem Fenster gesprungen wäre, also saß er einfach nur da und starrte auf das Desktopbild. Es zeigte ihn und Isabelle mit der dreijährigen Sylvie in ihrer Mitte. Ein Freund hatte das Foto auf einem gemeinsamen Ausflug in den Spreewald aufgenommen, und in Toms Augen war es der perfekte Beweis dafür, wie verschieden er und seine Noch-Ehefrau tickten. Während er auf dem Foto die übliche Kluft aus Jeans, Boots und Hemd anhatte, die er schon trug, seit er bei der Antifa aktiv gewesen war, hatte Isabelle auch an diesem Wochenende ausgesehen wie eine Geschäftsfrau. Zwar hatte sie ihren üblichen Bleistiftrock gegen eine praktischere Hose getauscht, aber mit der Silberkette, den passenden Ohrringen und vor allem mit dem teuren Wollmantel war sie so ziemlich das Gegenteil von ihm gewesen.
Er erinnerte sich noch gut daran, wie er ihr ein Taschentuch auf eine Bank am Wegrand gelegt hatte, damit sie sich überhaupt setzen konnte. Mit den Fingerspitzen berührte er Isabelles Gesicht auf dem Monitor und seufzte, als zu allem Überfluss auch noch sein Handy zu klingeln begann. Ain’t no Sunshine, when she’s gone von Bill Withers erklang, der Klingelton, den er in einem bescheuerten Anflug von Sentimentalität allein für Isabelles Nummer hinterlegt hatte.
Obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte, jetzt mit seiner Noch-Ehefrau zu reden, ging er ran, weil er fürchtete, es könne etwas mit Sylvie sein. »Ja?«
»Tom?« Er konnte hören, dass sie geweint hatte.
»Was ist, Isabelle?«
Sie atmete einmal tief durch. »Ach nichts. Entschuldige! Ich dachte, es wäre eine gute Idee, dich anzurufen.« Sie legte auf, bevor er noch etwas erwidern konnte.
Fassungslos starrte er auf sein Handy, dann drückte er auf Wahlwiederholung, und wieder erklärte ihm die Automatenstimme, dass bei Medic Affairs niemand zu erreichen war.
Mit einem frustrierten Ruck klappte er das Notebook zu. Der Verkehr auf der Gneisenaustraße war durch die gut isolierten Fenster kaum zu hören. Das gedämpfte Rauschen erinnerte Tom an das stetige Geräusch des Orinoco, das er in einem ranzigen Hotel in Puerto Ayacucho wochenlang im Ohr gehabt hatte. Wie lange war das jetzt her? Fast zehn Jahre. Er hatte damals für einen Bekannten aus München nach Originalrezepten der kreolischen Küche gesucht, und der Mann hatte im Jahr darauf vom Guide Michelin einen Stern für seine Künste erhalten. Dieser Auftrag war der Beginn seiner Karriere als Foodhunter gewesen. Seither bereiste er die Welt auf der Suche nach immer neuen Kreationen.
Wie weit das zurücklag! Und vor allem: wie unwichtig es jetzt war. Seine Tochter würde vielleicht sterben, und er konnte nichts dagegen tun. Der Gedanke, den er die ganzen letzten Stunden verzweifelt von sich ferngehalten hatte, brach jetzt über ihn herein.
Er stand auf, ging zum Bett und nahm eine Flasche Scotch aus dem Nachtschrank, das Geschenk eines zufriedenen Kunden, das er sich eigentlich für einen besonderen Anlass hatte aufheben wollen.
Meine Tochter wird sterben.
»Wenn das kein besonderer Anlass ist …«, murmelte er.
Bevor er erneut in Schuldgefühlen ertrank, ertrank er lieber in Whisky. Er schraubte die Flasche und war kurz versucht, sie direkt an den Mund zu setzen, aber so runtergekommen war er dann doch noch nicht. Er nahm das Glas, das er immer neben seinem Bett stehen hatte, und goss den Rest Wasser darin in die peinliche Yuccapalme auf dem Fensterbrett.
Himmel, mit dem Blumentopf im Arm war er aus seiner und Isabelles gemeinsamer Wohnung geschlichen wie das personifizierte Klischee.
»Scheiß drauf!«, murmelte er. Er schenkte sich zwei Fingerbreit von dem Scotch ein, prostete der Palme zu, dann trank er.