»Ich sollte diesen verflixten Klingelton ändern«, sagte er anderthalb Stunden später zu sich selbst. Und dann – völlig zusammenhanglos: »Isabelle war immer diejenige, die das große Geld nach Hause gebracht hat.« Seine Frau stammte aus dem Hause einer reichen französischen Familie, deren Mitglieder es gar nicht gutgeheißen hatten, dass ihr wohlerzogenes, hochgebildetes Töchterlein sich ausgerechnet in die Unabhängigkeit und Abenteuerlust eines Vagabunden verliebt hatte. Tom hatte sie nur heiraten dürfen, weil er sich bereiterklärt hatte, ihren Nachnamen anzunehmen. Dummerweise hatte sich dann aber ausgerechnet seine Abenteuerlust als jene Eigenschaft an ihm herausgestellt, der Isabelle nicht gewachsen war. Und um das zu kompensieren, hatte sie angefangen, ihm gegenüber ihre finanzielle Überlegenheit rauszukehren und ihn kleinzumachen.
»Das Einzige, was ich mit nach Hause gebracht habe«, fuhr Tom fort, »ist dieser elende Keim, mit dem ich Sylvie …« Er hielt inne, als ihm klar wurde, dass er mit der Palme sprach.
Mit Schwung holte er aus und schmetterte das Glas an die Wand. Es zerbarst in tausend Scherben, die auf den Teppich fielen und dort glitzerten wie der gefrorene Regen in der sibirischen Tundra. Er stützte den Kopf in die Hände und verfluchte sein Hirn, weil es schon wieder anfing, über die Zeitbombe nachzugrübeln, die er in seinem eigenen Körper herangezüchtet hatte. Die Zeitbombe, die am Ende im Körper seines einzigen Kindes explodiert war …
Schluss jetzt!
Er ließ seine verkrampften Schultern kreisen. Heinemanns Zettel lag noch immer auf dem Bett. Er nahm ihn und kontrollierte, ob er sich vorhin zweimal verwählt hatte, aber das war nicht der Fall. Weil er keine bessere Idee hatte, setzte er sich erneut an das Notebook und gab den Namen Max Seifert in eine Suchmaschine ein. Er bekam eine ganze Reihe Hits. Einige davon führten auf Seiten von Online-Zeitungen, die über die Arbeit dieses Mannes berichteten. Den Artikeln zufolge war dieser Seifert der Inhaber von Medic Affairs, einer Agentur für strategische Kommunikation in der Gesundheitsbranche. Darüber hinaus war er ziemlich aktiv für die Initiative der Pandemic Fighters und organisierte in ihrem Auftrag gerade eine Gala, die in knapp drei Wochen im Rathaus von Charlottenburg stattfinden sollte.
Ein Lobbyist, dachte Tom. Na toll!
Er schob seine Vorurteile gegen diese Art Mensch von sich. Es ging hier nicht um seine verdammten Ideale, sondern darum, eine Behandlungsalternative für Sylvie zu finden! Mit zusammengepressten Lippen klickte er die Website von Seiferts Firma an und las sich durch die übliche großspurige Selbstdarstellung. Wir bieten Ihnen Zugang zu Entscheidungsträgern, bla, ein internationales Netzwerk aus Wissenschaft und Politik, blablabla. Seinem Foto nach zu urteilen, war Seifert noch recht jung. Einer von diesen dynamischen, aber leicht qualligen Typen, die Tom immer ein bisschen an Versicherungsvertreter erinnerten. Seifert war allerdings alles andere als das. Wenn man seinem Lebenslauf auf der Seite glauben konnte, hatte er mit summa cum laude promoviert, dann eine Zeitlang als Chirurg in namhaften Krankenhäusern in New York, Antwerpen und Paris gearbeitet, diesen Beruf jedoch vor ein paar Jahren zugunsten seiner jetzigen Tätigkeit an den Nagel gehängt.
»Tz«, machte Tom, nachdem er Seifert eine Weile lang in das von rotblonden Haaren umrahmte, pausbäckige Gesicht gestarrt hatte. Sein Blick wanderte zu dem Logo der Pandemic Fighters, das unten rechts am Fuße der Seite prangte. Es ähnelte einer stilisierten Welle, die sich schäumend brach und die Tom vage an dieses berühmte Kunstwerk von Kanagawa erinnerte, das sogar als Emoji existierte. Er klickte darauf und landete auf der Seite dieser Initiative, deren Informationstext er kurz überflog.
Anschließend ging er nach draußen auf den Balkon, um seine Nikotinsucht zu befriedigen. Während er den ersten Zug inhalierte, griff er zu seinem Handy und wählte zum dritten Mal Seiferts Nummer. Diesmal klingelte es bei dem Mann.
Max Seifert rieb sich die Augen, vor denen es unangenehm flimmerte. Wie lange saß er jetzt schon an diesem verflixten Eröffnungsvortrag für die Gala in drei Wochen? Allein heute waren es etliche Stunden gewesen – seit er mitten in der Nacht mit einer Idee dafür aus dem Schlaf hochgefahren war. Trotzdem war er bis jetzt noch nicht in Ansätzen zufrieden.
Seufzend gab er seiner Maus einen Schubs, sodass die idyllische Berglandschaft des Bildschirmschoners verschwand und sein Entwurf wieder auftauchte. Einige Minuten lang starrte er den Text an, der immer noch nichts weiter war als ein verdammtes, nichtssagendes Fragment.
… die Entscheidung liegt in Ihren Händen …
… wir versorgen Sie mit den wichtigen Fakten …
Und immer wieder: die Gefahr der Antibiotikaresistenzen.
Alles lahm, alles Mist.
Es nutzte nichts. Die zündende Idee dafür, wie er die Teilnehmer der Gala für den Kampf gegen den schleichenden Tod entflammen konnte, wollte und wollte ihm nicht kommen, und er wusste auch, warum das so war. Weil ihnen das passende Narrativ fehlte! Die Story hinter den ganzen Fakten und Zahlen, die er schön säuberlich und seriös in Tabellen und PowerPoint-Folien verpackt hatte. Aber die Leute interessierten sich nicht für Zahlen. Sie brauchten etwas, das ihnen ans Herz ging, nur das trieb sie zum Handeln.
Er hob seine Kaffeetasse an die Lippen, aber sie war leer, darum stellte er sie auf den Stapel Kopien zurück. Grübelnd biss er sich auf die Unterlippe, wo ein kleiner Hautfetzen ihn schon seit einer ganzen Weile nervte. Er klemmte ihn zwischen die Zähne, zog daran und schmeckte Blut. Klasse. Wie vielen Milliarden Erregern hatte er da gerade den Zutritt zu seinem Blutkreislauf gewährt?
Mit einem Schnaufen stand er auf, um sich neuen Kaffee zu machen. Auf dem Weg durch den langen Flur der Altbauwohnung, in der sein Büro lag, tupfte er sich das Blut von der Lippe. In der Küche fiel sein Blick auf das graue Laborjournal und den Brief, die auf dem Tisch lagen – zusammen mit dem Packpapier, in dem beides gestern aus Tiflis gekommen war. Die kleine Box mit Phagen, die Georgy Anasias in dem Paket mitgesendet hatte, lag vorsorglich in Max’ Kühlschrank. Er hatte schon gestern versucht, den Forscher in Tiflis anzurufen und ihn zu fragen, warum er ihm die Sachen geschickt hatte, aber er hatte ihn nicht erreicht. Danach war er zu beschäftigt gewesen, um allzu viele Gedanken an die seltsame Sendung zu verschwenden.
Auch jetzt kümmerte er sich nicht darum, sondern startete den Kaffeevollautomaten, der ihn mit einem kleinen roten Lämpchen daran erinnerte, dass er schon seit Tagen gereinigt werden wollte. Mit einem leicht mulmigen Gefühl drückte Max die Meldung weg. Wer wusste schon, ob er in diesem schwarzen Kasten hier nicht genau die Mikroben heranzüchtete, die den Exitus der Menschheit noch beschleunigen würden? Na ja, seinen eigenen allerhöchstens. Aber der würde vermutlich eher durch zu viel Kaffee und zu viel Fertigpizza herbeigeführt werden.
Er stellte eine Tasse unter die Auslassöffnung, füllte den Wassertank der Maschine und drückte dann auf den Knopf für Caffè Crema. Während die Maschine rasselnd und lärmend zu arbeiten begann, holte Max die Milch aus dem Kühlschrank. Georgys Phagen musste er dafür ein Stück beiseiteschieben. Genau in dem Moment, als er mit der Milch in der Hand die Kühlschranktür wieder schloss, klingelte im Nachbarzimmer sein Handy. Max stellte die Milch weg und ging nach nebenan.
Die Nummer auf dem Display sagte ihm nichts, aber das war nichts Ungewöhnliches. Die Fighters waren eine hochdynamische Organisation, bei der die Verantwortlichkeiten manchmal mehrmals innerhalb eines Monats wechselten.
»Seifert!«, meldete er sich und saugte dabei an seiner noch immer blutigen Unterlippe.
Der Anrufer zögerte kurz. »Dr. Seifert?«, sagte er. »Gut, dass ich Sie erreiche. Mein Name ist Tom Morell.«
»Seifert!« Die Stimme, die sich meldete, war ein wenig schrill. Darüber hinaus lag ein ungehaltener Unterton darin. Kein Wunder, dachte Tom. Es war schon spät, Seifert hatte bestimmt vorgehabt, seinen Feierabend zu genießen.
Er legte seine Zigarette auf den Rand des Aschenbechers und sammelte sich. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät noch belästige.«
»Womit kann ich Ihnen behilflich sein?« Der ungehaltene Unterton verstärkte sich noch.
Tom ignorierte ihn. »Ich bin Vater einer fünfzehnjährigen Tochter, die im Loring-Klinikum liegt und …«
»Hören Sie«, fiel Seifert ihm ins Wort. »Wenn Sie Informationen über resistente Erreger suchen, finden Sie alles Wissenswerte auf der Seite der Pandemic Fighters. Ich …«
»Ich weiß«, unterbrach Tom ihn seinerseits. »Und ich weiß auch, dass ich Ihre Zeit beanspruche, aber meine Tochter leidet an einem multiresistenten Stamm von Pseudomonas aeruginosa und wird vielleicht daran sterben.«
»Sie haben mein Mitleid, aber ich wüsste nicht, wie ich Ihnen helfen könnte. Ich bin zwar Mediziner, aber ich praktiziere nicht, sondern arbeite für …«
»Auch das ist mir bewusst«, unterbrach Tom ihn erneut. »Aber Dr. Heinemann – das ist der behandelnde Arzt meiner Tochter – hat mir Ihre Nummer gegeben. Er meinte, dass Sie eventuell Informationen über eine neuartige Phagentherapie haben, die …«
»Dr. Heinemann in allen Ehren …«
»Dr. Seifert, bitte! Werfen Sie einen Blick auf meine Tochter, bevor Sie mich abwimmeln!« In der Hoffnung, dass Seifert nicht zwischenzeitlich auflegte, nahm er das Smartphone vom Ohr und schickte den Link von Sylvies letztem Vlogeintrag an ihn.
»Herr … Morell …« Seifert zögerte. Dann seufzte er. »Also gut, warten Sie bitte einen Moment!« Es klang, als tippe er auf einer Computertastatur herum. Gleich darauf ertönte die Stimme von Toms Tochter, die sagte: »Hey, Leute, schön, dass ihr wieder da seid.«
Mit zusammengebissenen Zähnen hörte Tom mit an, wie Sylvie ihren Followern berichtete, was heute passiert war. »Ich hab euch ja vorhin erzählt, dass meine Eltern bei meinem Arzt waren. Tja. Ich vermute, sie haben da nicht allzu gute Nachrichten erhalten. Sieht so aus, als würde der blöde Keim in meinem Körper sich auch noch gegen die letzten Therapien wehren. Jetzt bleiben uns bald keine Möglichkeiten mehr. Ich habe euch ja neulich schon erzählt, was es heißt, wenn das passiert.«
Tod, dachte Tom dumpf. Es bedeutete, dass sie sterben würde.
»Aber wisst ihr was?«, fuhr Sylvie fort. »Es klingt vielleicht komisch, aber ich habe überhaupt keine Angst.« An dieser Stelle unterbrach Seifert die Aufnahme, und da merkte Tom erst, wie sehr er die Hand um sein Handy geklammert hielt. Die Muskeln an seinem Unterarm zitterten.
Als Seifert nun wieder das Wort ergriff, klang er sehr viel freundlicher als zuvor. »Wie wird Ihre Tochter aktuell behandelt?«
Tom rieb sich erleichtert die Augen. »Dr. Heinemann zufolge hat ihr Pseudomonas-Stamm auch noch eine Colistin-Resistenz entwickelt und ist jetzt pan-resistent. Die Ärzte versuchen eine letzte intravenöse Kombi-Therapie. Wenn die nicht wirkt, ist Sylvie austherapiert. Wir sind also dankbar für jeden nützlichen Hinweis.« Die Zigarette im Aschenbecher war bis fast auf den Filter heruntergebrannt. Er nahm sie, sog daran und wechselte dann das Smartphone auf die andere Seite.
»Ich möchte Ihnen keine übermäßigen Hoffnungen machen«, sagte Seifert. »Die Phagentherapie, von der Dr. Heinemann Ihnen erzählt hat, ist in Deutschland nicht zugelassen. Darüber hinaus weiß ich nicht genau, wie weit man überhaupt mit der Entwicklung der für Ihre Tochter passenden Phagen ist. Aber das ließe sich eventuell herausfinden.« Er machte eine Pause und überlegte in Toms Augen überraschend lange. »Was halten Sie davon, wenn wir beide uns morgen Vormittag treffen und sehen, dass wir ein paar mehr Informationen darüber bekommen?«
Es war glasklar, dass Seifert sich von diesem Treffen etwas versprach, auch wenn Tom keine Ahnung hatte, was genau. Aber so liefen die Dinge nun mal. Eine Hand wusch die andere.
Er verzog das Gesicht. »Gern«, sagte er.
»Wunderbar!« Seifert seufzte, es klang irgendwie erleichtert. Dann gab er Tom eine Adresse. »Das ist mein Büro. Kommen Sie morgen Vormittag zu mir, dann reden wir in Ruhe über alles.«
Das Gesicht von dieser Sylvie Morell füllte den gesamten Bildschirm und bereitete Max eine Gänsehaut, die ihm vom Nacken bis hinunter zum Rückgrat rieselte. Große Augen, in denen die Schmerzen beim Atmen deutlich zu erkennen waren. Dazu dieses tapfere Lächeln.
Max streckte die Hand aus und ließ das Video weiterlaufen.
Diese ruhige, fast gelassene Art, in der das Mädchen über ihre furchtbare Krankheit sprach!
»Kind«, murmelte er. »Du bist besser als Greta Thunberg.« Mit einem Lächeln öffnete er sein Mailprogramm und schrieb in die Betreffzeile: »Geschenk des Himmels?«
Innerhalb von Sekunden hatte er eine kurze Mail formuliert und den Link von Sylvies Vlog-Beitrag darunter eingefügt. Dann gab er eine Adresse ein und klickte auf Senden. Es dauerte nur ein paar Minuten, bevor sein Handy einen eingehenden Videoanruf meldete. Auf dem Display erschien ein Mann in den Siebzigern mit dichten weißen Haaren und markanten Falten um die Mundwinkel.
»Herr von Zeven!« Max senkte den Kopf zu einer höflichen Begrüßung.
Frederic von Zeven schien noch im Büro zu sein. Hinter ihm an der Wand konnte Seifert die beiden vertrauten Kupferstiche sehen, die Szenen aus der griechischen Mythologie abbildeten. Einer zeigte einen Mann, der einen Felsen einen Berg hinaufrollte, der andere einen, der bis zum Hals im Wasser stand und sich vergeblich nach einer Rebe mit Weintrauben reckte.
Sisyphos und Tantalos.
Max starrte auf die beiden Bilder, bevor er sich auf den Großindustriellen konzentrierte, der seit ein paar Monaten sein Gehalt bezahlte.
»Sie haben sich den Link angesehen?«, fragte er.
Die warme Luft des Spätsommers drang durch das offene Fenster von Voss’ kleiner Wohnung. Mit einem Glas Cola in der Hand kletterte sie durch das Fenster hinaus auf den Balkon. Die Balkontür war seit Längerem kaputt, sodass sie diesen ungewöhnlichen Weg nehmen musste. Zu Anfang hatte es sie genervt, aber mittlerweile hatte sie sich so daran gewöhnt, dass sie immer wieder vergaß, einen Handwerker anzurufen, damit er sich um das Problem kümmerte.
Der Liegestuhl auf dem Balkon hatte den ganzen Tag in der Sonne gestanden und strahlte deren Wärme noch ab, obwohl der Balkon längst im Schatten lag. Voss stellte das Glas auf den Beistelltisch, knallte sich auf die Liege, lehnte den Kopf an und schloss die Augen.
Wenn sie bloß nicht so fertig gewesen wäre!
Sie wartete darauf, dass ihr die Augen zufielen, aber wie vermutet zirkulierte das viele Koffein durch ihre Adern und hielt sie wach. Vielleicht sollte sie laufen gehen, dachte sie. Aber sie hatte nicht die geringste Lust dazu. Ohne die Augen zu öffnen, tastete sie nach dem Glas und trank einen Schluck. Aus irgendeinem bescheuerten Grund ging ihr die Prometheus-Sache nicht aus dem Kopf.
Nachdem Tannhäuser ihr diesen Fall vorhin übertragen hatte, war sie nur kurz ins Büro zurückgekehrt, um Computer und Kaffeemaschine auszuschalten. Dann war sie auf direktem Wege hierher nach Hause gefahren. Jetzt versuchte sie vergeblich, auch ihren Kopf abzuschalten und an etwas anderes zu denken. Irgendwann gab sie es seufzend auf. Sie nahm ihr Handy heraus und programmierte einen Google-Alert für Prometheus. Über die meisten Einträge in der langen Liste, die ihr die Suchmaschine lieferte, ging sie hinweg, weil sie auf irgendwelche Seiten der Hauptstadtpresse leiteten, auf denen von den Botschaften berichtet wurde.
Ein Link jedoch irgendwo weiter hinten führte nicht zu einer Zeitung und auch nicht zu einem Regionalradiosender, sondern zu einem YouTube-Kanal. Sie klickte darauf.
Der Kanal schien nagelneu eingerichtet worden zu sein. Es gab nur einen einzigen Film mit Datum von heute, und der Film zeigte nichts weiter als ein Bild des bereits bekannten Kupferstichs, allerdings unterlegt mit düsterer, unheilverkündender Musik. Voss sah sich das Ganze ungefähr zehn Sekunden lang an. Es geschah nichts. Beinahe hätte sie den Film schon weggeklickt, als schließlich doch noch ein Schriftzug erschien.
Ihr werdet lernen, mich zu fürchten.
Die geschwungenen Buchstaben leuchteten eine Weile lang dunkelrot auf dem sepiabraunen Untergrund des Kupferstichs, dann wurden sie ersetzt durch zwei Worte.
St. Anton.
Verständnislos starrte Voss den Namen an und versuchte einzuordnen, was sie von diesem Video halten sollte. Hatte dieser Prometheus sich jetzt etwa doch entschieden, seine Botschaften über das Internet zu verbreiten? Oder hatte jemand, der mit den Zetteln nichts weiter zu tun hatte, aus reiner Langeweile diese Seite eingerichtet? Voss musste nur die Ergebnisliste ihrer Google-Suche ansehen, damit ihr klar wurde, wie präsent dieser bescheuerte Kupferstich im Bewusstsein der Berliner war. Erlaubte sich hier also jemand einen Scherz? Oder war das Video echt? Eine Warnung? Eine Ankündigung gar?
Nachdenklich trank sie einen weiteren Schluck Cola. Wenn das Video echt war, warum war Prometheus dann so plötzlich von analog auf digital umgeschwenkt? Klar: Das Internet bot eine sehr viel größere Reichweite als altmodisches Papier. Aber warum dann überhaupt erst diese idiotischen Aktionen mit den Zetteln?
Sie setzte sich aufrecht hin, weil ihr ein beunruhigender Gedanke kam.
Konnte es sein, dass die Zettel nicht nur Prometheus’ Botschaften enthielten, sondern dass sie selbst eine Art Botschaft waren? Einen YouTube-Kanal erstellen und dort seine seltsamen Thesen verbreiten konnte heutzutage jeder Spinner. Die Zettel aber waren an verschiedenen, nicht öffentlichen Orten in der Stadt aufgetaucht: in Altersheimen und Krankenhäusern. Auf einer Hochisolierstation der Charité, die man nicht ohne Weiteres betreten konnte!
Plötzlich ahnte Voss, was das bedeuten sollte: Seht her! Ich bin in der Lage, überall hinzugelangen. Selbst in eure medizinischen Abteilungen, die am besten gesichert sind!
Wie lautete eine der Botschaften?
Vergesst nicht, dass ihr sterblich seid!
In Voss’ Ohren klang das schlagartig wie eine ernstzunehmende Drohung. Seufzend stemmte sie sich aus ihrem Stuhl hoch. St. Anton. Besser, sie ging mal recherchieren, was es mit diesem Namen auf sich hatte.
Das Krankenzimmer lag in abendlichem Halbdämmer, in dem die sommerlichen Temperaturen nur langsam sanken und der bläuliche Schein von Sylvies Tablet die Schatten lang und massiv wirken ließ. Vorhin, nachdem ihre Eltern geschockt nach Hause gefahren waren, hatte sie einen weiteren Vlog-Eintrag erstellt. Jetzt war sie dabei, durch all die Kommentare zu scrollen, die darunter erschienen.
»Soooo traurig«, hatte eine Nutzerin mit Namen transsuse2003 geschrieben. »Mein Herz blutet, wenn ich mir vorstelle, wie du da in diesem Krankenhausbett liegst und Angst hast.« Dahinter hatte sie mindestens zwanzig rosa Herzchen gesetzt.
Sylvie ließ das Tablet auf die Bettdecke sinken. Vor dem Fenster fuhr ein Rettungswagen vorbei. Der rhythmische Schein des Blaulichts zuckte über Wände und Zimmerdecke. In ihren Ohren rauschte es. Sie lehnte den Kopf an und lauschte auf das gleichmäßige Klopfen ihres Herzens. Ihr Atem ging schwer, und dieser fiese Druck, der mal mehr, mal weniger auf ihrer Brust lastete, tat plötzlich wieder besonders weh. Ohne hinzusehen, griff sie über ihren Kopf und drehte den Sauerstoff ein bisschen höher, der ihr über eine Nasensonde zugeführt wurde.
Wie schockiert ihr Dad ausgesehen hatte! Sie hatte seine schuldbewussten Blicke kaum ausgehalten.
Ein Husten begann sich in ihr aufzubauen. Zuerst war es nur ein dumpfes, kribbeliges Gefühl tief in den Bronchien, das sich anfühlte, als würden tausend Ameisen durch ihre Lungen krabbeln. Als das Kribbeln kaum noch auszuhalten war und sich endlich in erleichternden Schmerz verwandelte, war Sylvie froh. Dann wurde der Schmerz zu einem grellen Schrillen, das so wehtat, dass sie automatisch versuchte, das Husten zu unterdrücken. Keine Chance. Der Hustenkrampf schüttelte sie mit solcher Macht, dass ihr die Tränen kamen und sie zwischen zwei Anfällen aufstöhnte. Sie spürte, wie der zähe Schleim sich löste und sich den Weg aus ihren Bronchien nach oben bahnte. Wie ein Pfropf schoss er ihr die Kehle hoch, sodass sie zu allem Überfluss auch noch würgen musste. Halb blind tastete sie nach der metallenen Nierenschale, die für solche Fälle immer auf ihrem Nachtschrank stand, und spuckte einen dicken hellroten Schleimklumpen hinein. Erschrocken starrte sie darauf. Dass sie öfter mal blutige Fäden in ihrem Auswurf hatte, war normal, aber so viel hellrotes Blut? Das fühlte sich nach allem, was sie heute erfahren hatte, doppelt beunruhigend an. Weil das eklige Zeug hochansteckend war, klingelte sie nach der Schwester, und dabei fiel ihr Blick auf das Tablet, auf dem seit dem Kommentar von transsuse2003 weitere Nachrichten eingetroffen waren. Eine davon sprang ihr ins Auge, weil der User, anders als die meisten anderen, einen Klarnamen verwendet hatte. Sie nahm das Tablet hoch und las, was ein gewisser Max_Seifert2022 geschrieben hatte: »Liebe Sylvie. Ich bewundere dich für den Mut, mit dem du deine Krankheit erträgst. Hättest du Interesse daran, einmal mit mir zu skypen? Ich arbeite für die Pandemic Fighters, und ich könnte mir vorstellen, dass dich das, was ich dir zu sagen habe, interessieren könnte. Herzlichst, Max.«
Sie legte das Tablet weg. Wie viele Anfragen für Dates bekam sie mittlerweile? Mindestens zehn, fünfzehn am Tag, und je kränker sie wurde, umso mehr wurden es bescheuerterweise. Zögernd nahm sie das Tablet wieder auf, las die wenigen Worte noch einmal. Sie kannte die Fighters. Natürlich hatte sie schon von ihnen gehört, denn diese Leute kämpften schließlich genau gegen den Mist, mit dem sie sich rumschlagen musste.
Sie überlegte noch, ob sie Max_Seifert2022 antworten sollte, als die Zimmertür aufging. Schwester Tanja hatte Spätdienst, und Sylvie mochte Tanja. Die Krankenschwester hatte immer einen lustigen Spruch auf den Lippen. Vor allem aber: Sie behandelte Sylvie nicht wie ein Kind, wie es die meisten der anderen Schwestern und Pfleger taten.
»Na, meine junge Königin der Nacht?« Wie jeder, der das Zimmer betrat, trug auch Tanja außer Einweghandschuhen und einem Schutzkittel auch einen Mundschutz.
»Na, Papagena«, erwiderte Sylvie. Tanja und sie benutzten diese Begrüßung, seitdem Sylvie sich neulich im Fernsehen eine Metropolitan-Aufführung der Zauberflöte angesehen hatte. Tanja war reingekommen, als die Königin der Nacht erklungen war, hatte sich zu Sylvie gesetzt und fast eine Viertelstunde gemeinsam mit ihr die Aufführung geschaut, bevor sie zu einem anderen Patienten gerufen worden war.
Seitdem mochte Sylvie sie noch mehr als vorher.
»Wie geht es dir?«, erkundigte sich Tanja.
Sylvie betrachtete ihre Einweghandschuhe, die einen hübschen Violettton hatten, aber überhaupt nicht zum Blau des Kittels passten. Beides, Kittel und Handschuhe, würde Tanja gleich im Anschluss in einem Container für hochansteckendes Material entsorgen. Sie seufzte. Wann würde sie den Leuten endlich mal wieder ohne all diese Vorsichtsmaßnahmen gegenübersitzen können?
Die Antwort auf diese Frage kam wie ein Überfall aus dem Hinterhalt, und ihr wurde schwindelig. Nie mehr. Weil sie an diesem elenden Keim sterben würde.
»Mir geht es gut«, behauptete sie und schob den verzweifelten Gedanken fort. Noch gab es schließlich Hoffnung. Noch hatte Dr. Heinemann Medikamente, mit denen er sie behandeln konnte. Die Angst vor deren Nebenwirkungen verdrängte Sylvie ebenfalls.
Über ihre Maske hinweg sah Tanja sie prüfend an.
Sylvie grinste. »Guck nicht so! Mir geht es wirklich gut.«
Da nickte die Schwester. »Das ist schön.«
Sylvie verspürte den Wunsch, irgendwas Tröstliches zu sagen. »Heute Nacht gibt es wieder eine Met-Aufführung. Diesmal Turandot. Schade, dass du schon um zehn Feierabend hast.«
Tanjas Lächeln wanderte über den Rand der Maske bis zu ihren Augen. »Viel Spaß!« Sie nahm die Schale mit dem ekeligen Klumpen. »Ich schaue nochmal nach dir, bevor ich Feierabend mache, okay?«
»Das wäre toll!«, sagte Sylvie. Als die Tür leise hinter Tanja ins Schloss gefallen war, lehnte sie sich mit einem Seufzen in die Kissen zurück.