Mit einer Tasse Kaffee und der Zigarettenpackung daneben setzte sich Tom am nächsten Morgen an den Küchentisch. Die ersten Minuten des Tages gehörten seiner Tochter. Mit der üblichen Mischung aus ambivalenten Gefühlen – Sorge, Liebe, Schuld – wählte er ihre Nummer. Sylvie ging nach dem dritten Klingeln ran.
»Hey, Paps!«
Klang sie bedrückt? Er konnte es nicht sagen, und das wurmte ihn. »Hey, Dikdik«, begrüßte er sie.
Sie lachte leise.
»Du lachst mich aus!«, beklagte er sich in einem scherzhaft-weinerlichen Tonfall, der ihm so schrecklich verlogen vorkam angesichts dessen, was sie am Vortag erfahren hatten.
»Nein. Ich freue mich nur.«
»Worüber?«
»Dass du den Schock von gestern so gut weggesteckt hast, dass du mich wieder Dikdik nennst.«
Er legte die freie Hand an die Kaffeetasse. Das Porzellan war warm. Wieso nur schafften es alle, so viel tapferer zu sein als er? Eigentlich müsste er doch hier der Starke sein, derjenige, der seinem kleinen Mädchen Halt und Sicherheit gab. Stattdessen war es genau umgekehrt, stattdessen …
»Paps?« Sylvies Stimme stoppte den selbstquälerischen Gedankenstrom. »Alles okay bei dir?«
Fast hätte er voller Sarkasmus aufgelacht. Sie fragte ihn, ob alles okay war? Seine Hand krampfte sich um den Becher. Das neonfarbene Mandelbrotmuster darauf flimmerte vor seinen Augen. »Ja, natürlich«, versicherte er. »Ich hatte nur einen kleinen Anflug von väterlichem Machismo.«
Sie lachte. Dann hustete sie, und sein eigener Brustkorb zog sich so heftig zusammen, als sei er es, der mit dieser langwierigen, gefährlichen Lungenentzündung zu kämpfen hatte. »Ich hab die Nacht Turandot gesehen«, erzählte sie. »Fand ich aber nicht so toll wie die Zauberflöte.«
»Aha. Und wieso nicht?« Tom hatte nicht viel Ahnung von Opern. Die Begeisterung für klassische Musik hatte Sylvie von Isabelle, und er konnte nur staunend danebenstehen, wenn die beiden sich über Orchestrierungen und Libretti unterhielten. Er selbst hörte am liebsten Rockmusik, und er mochte es, junge, noch eher unbekannte Bands zu entdecken. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er versucht, in Sylvie ebenfalls die Liebe zu dieser Musik zu erwecken. Aber wie üblich hatte Isabelle dafür gesorgt, dass sein Wille auch hierbei nicht ins Gewicht fiel.
»Keine Ahnung«, antwortete Sylvie. »Irgendwie war mir die Liebesgeschichte zwischen Turandot und ihrem Prinzen wohl zu kitschig.« Sie kicherte, und das erinnerte Tom an das kleine Mädchen, das früher auf seinen Knien geritten war. »Aber Nessun Dorma ist natürlich trotzdem toll. Fast genauso wie der Auftritt der Königin der Nacht.«
»Das klingt doch super!«
»Du hast keine Ahnung, wovon ich rede, Papa, oder?«
Er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als sein Unwissen zuzugeben. Mit einem Grinsen protestierte er: »Hab ich wohl! Von zwei Arien, die sich anhören, als hätte man den Sängerinnen eine lange Nadel in den Hintern gepikst.«
»Nessun Dorma von einer Sängerin? Du bist echt ein Kulturbanause, Paps!« Wieder lachte Sylvie, doch diesmal hustete sie nicht. Tom nahm sich vor, über so kleine Dinge dankbar zu sein, solange er es noch konnte.
»Du, Paps, gestern Abend hat mich über meinen Channel ein Wissenschaftler kontaktiert. Ein Max Seifert.« In Tom spannte sich etwas. »Ich habe den mal gegoogelt, der scheint ziemlich wichtig für die Pandemic Fighters zu sein.«
»Hm«, machte Tom. Es ärgerte ihn, dass Seifert sich ohne seine Erlaubnis an seine Tochter gewandt hatte. »Ja. Dr. Heinemann hat mir die Nummer von dem gegeben, und ich habe ihn angerufen. Vermutlich hat er dich danach kontaktiert.« Er presste die Lippen aufeinander. »Vielleicht hat er Kontakte, die uns helfen können. Falls … ich meine, du weißt schon …«
Sie schien nachzudenken. »Und wenn dieser Seifert nicht helfen kann, dann ist das vielleicht der Sinn, der hinter meiner Scheißkrankheit steckt, Paps! Wenn ich schon sterben muss, dann kann ich vorher vielleicht noch den Fighters helfen, etwas anzustoßen, das …«
»Stop, Dikdik!«, fiel Tom ihr ins Wort. Wie konnte sie nur so gelassen über ihren eigenen Tod reden? Er kniff sich in den Nasenrücken. Herrgott, er brauchte dringend eine Zigarette! »Es kann sein, dass Seifert uns Zugang zu einer alternativen Behandlungsmethode verschafft. Ich will mich heute mit ihm treffen.« Er wusste nicht, ob er wollte, dass sie Hoffnung empfand. Was, wenn er sie enttäuschte, wenn bei seinem Treffen mit diesem Seifert überhaupt nichts rauskam?
»Der wird eine Lösung haben«, flüsterte Sylvie. »Ich weiß es einfach!«
Tom ließ den Kaffeebecher los und griff stattdessen nach der Zigarettenpackung. Sie war fast leer, er musste sich dringend neue Kippen besorgen. »Ja«, murmelte er. »Das wird er.«
»Willkommen in Berlin! Welcome to Berlin!«
Nina registrierte die Begrüßung der Mitarbeiterin des Willy-Brandt-Flughafens nur beiläufig, als sie durch die Sicherheitskontrollen hindurch war und zusammen mit den anderen Passagieren an der Open Sky Box vorbeiging, einer Lichtinstallation des Künstlers Takehito Koganezawa. Der Schein des abwechselnd blau und weiß strahlenden Kunstwerks schmerzte in ihren Augen. Sie war schrecklich müde. Falsch: Sie war nicht müde, sondern total fertig. Was kein Wunder war. Schließlich hatte sie gestern eine Bombenexplosion überlebt und mit Georgy ihren Ziehvater verloren, den letzten Angehörigen, der ihr noch geblieben war. Anschließend hatte sie dann auch noch eine stundenlange Befragung durch diesen georgischen Kripobeamten Barataschwili über sich ergehen lassen müssen, bis der Kerl endlich eingesehen hatte, dass sie ihm bei der Suche nach dem Verantwortlichen für die Bombe – und den Mord – keine Hilfe war. Bis er sie endlich in Ruhe ließ, war die Nacht schon halb vorüber gewesen. Nina hatte kurz mit Maren telefoniert, die zu ihrer großen Erleichterung wirklich nur eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte und bald wieder gesund sein würde. Gemeinsam kamen sie überein, dass die Phagen, sofern Georgy sie wirklich zu Max geschickt hatte, sichergestellt werden mussten, und zwar von jemandem, der um ihren Wert wusste. Da Maren das Krankenhaus vorerst nicht verlassen durfte, übernahm Nina diese Aufgabe. Maren war das nicht recht gewesen, aber sie hatte eingesehen, dass es die beste Lösung war, und als Nina ihr versichert hatte, dafür zu sorgen, dass Georgys letzter Wille erfüllt wurde und die Allgemeinheit in den Besitz seiner Phagen gelangte, hatte Maren zähneknirschend nachgegeben.
Nina hatte sich schlecht gefühlt, denn Maren hatte um Georgy geweint, während sie selbst bis zu diesem Zeitpunkt noch keine einzige Träne vergossen hatte. In der Nacht dann hatte sie versucht, ein wenig in ihrem Tagebuch zu schreiben. Erst waren die Sätze hölzern und unbeholfen gewesen, aber je länger sie schrieb, umso mehr Erinnerungen taumelten durch ihr Bewusstsein, die sie Seite um Seite auf das Papier bannte. Und irgendwann, fast wie eine Erlösung, waren dann auch endlich die Tränen gekommen.
Am frühen Morgen hatte sie sich wieder in ihre selbstgestellte Aufgabe gestürzt. Sie hatte einen Flug rausgesucht, gebucht, ihre Sachen gepackt, war zum Flughafen gefahren. Hatte auf den Flieger gewartet und die Stunden in der Luft damit verbracht, zwischen Trauer, Schmerz und Schock zu schwanken.
Jetzt kam sie sich vor wie ausgewrungen. Ihre Beine waren aus Holz – steif und irgendwie Fremdkörper an ihr. Mit einer energischen Bewegung warf sie ihre Tasche über die Schulter und folgte zielstrebig der Ausschilderung zur Gepäckausgabe. Im Terminal das übliche Bild: Menschen über Menschen, Fetzen internationaler Sprachen, die Handgepäckstücke kleine Inseln zwischen den Wartenden.
Das Band lief zwar schon, aber noch ohne Gepäck darauf. Als dann ihr dunkler Trolley mit den City-Stickern ihrer Reisen nach Paris, Tiflis und Amsterdam durch den Gummivorhang gefahren kam, wuchtete sie ihn herunter und machte sich auf den Weg zum Taxistand. Kurz vor dem Ausgang umrundete sie eine Werbetafel. Ein heftiger Rempler ließ sie stolpern, und ihr Trolley schleuderte zur Seite.
»Izvinite …!«, stieß jemand auf Russisch aus. Entschuldigung. Vor ihr stand ein extrem großer Mann mit kurzem Bürstenschnitt und breiten Schultern. Er hatte ein ungewöhnlich feingeschnittenes, hübsches Gesicht, das nicht so recht zu seinen Muskelbergen passen wollte. Ein Frauentyp, dachte Nina, und dann fiel ihr ein, dass sie ihn schon im Flugzeug gesehen hatte. Er war ebenfalls aus Tiflis gekommen.
»Können Sie nicht aufpassen?«, brummelte sie. Die Stelle an der Hüfte, an der er sie getroffen hatte, schmerzte.
»Sorry!«, sagte er auf Englisch.
Sie bückte sich nach ihrem Koffer, aber der Mann war schneller als sie. Mit einem jungenhaften, schuldbewussten Lächeln richtete er den Koffer auf und reichte ihr den Griff. Dabei kam er ihr sehr nah. Zu nah für ihren Geschmack. Sie roch die herbe Mischung aus Deo und Schweiß, die er ausströmte. Rasch trat sie einen Schritt zurück.
Der Russe lächelte breit. Er hatte hübsche Augen. Lange Wimpern. Und er wusste offenbar genau, wie gut er aussah. »Izvinite …!«, sagte er erneut, und dann folgte ein Schwall Russisch, das sie kaum verstehen konnte.
Gezwungen lächelte Nina zurück. »Es ist ja nichts passiert! Alles okay!«, fiel sie ihm ins Wort, und als er sie verwirrt ansah, wiederholte sie auf Russisch: »Nichego strashnogo.« Nicht so schlimm.
Mit einem weiteren strahlenden Lächeln bedankte der Russe sich, dann verabschiedete er sich, und Nina sah ihm nach, als er davonging.
Sie hatte den Vorfall schon wieder vergessen, als sie an der Taxischlange ankam.
Victor sah zu, wie Misha der schlanken blonden Frau in der modernen Lederjacke den Koffer aufhob und sich wortreich bei ihr entschuldigte. Dass seine Hand dabei für den Bruchteil einer Sekunde in der Tasche ihrer Jacke verschwand, bemerkte sie nicht und strebte mit ihrem Koffer im Schlepptau völlig ahnungslos in Richtung Ausgang.
Victor war zufrieden, wie das gelaufen war. Als die Bombe das Institut in die Luft gejagt hatte, waren er und Misha drei Straßenzüge von der Levan-Gouta-Straße entfernt gewesen. Danach hatte er ihren Auftraggeber angerufen, weil er ihm mitteilen wollte, wo sich das Laborjournal und diese Medikamente laut Auskunft des Forschers befanden. Es hatte ihn einigermaßen überrascht, dass der Auftraggeber ihnen befohlen hatte, an der Sache dranzubleiben und eine gewisse Nina Falkenberg auf keinen Fall aus den Augen zu lassen – auch über die Grenzen Georgiens hinaus …
Victors Überlegungen wurden unterbrochen, als Misha wieder zu ihm stieß und zufrieden grinsend meldete: »Zielobjekt verwanzt.«
»Sehr gut.« Im gleichen Moment wurde Victor von einer kühl klingenden Stimme angesprochen.
»Victor Wolkow?«
»Ja?«, antwortete Victor ganz automatisch und drehte sich um.
Der Mann, der an ihn herantrat, war relativ klein, wirkte aber drahtig und auf den ersten Blick stahlhart. Was unter anderem an seinen fast farblosen Augen lag, aus denen er Victor geradeheraus ins Gesicht starrte. Er hatte eine spiegelnde Glatze, und am kleinen Finger der rechten Hand trug er einen Siegelring, in dessen blau-roten Stein das Kreuz des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB eingelassen war.
Victor zwang sich zu einem freundlichen Lächeln, auch wenn ihm nicht danach zumute war. »Hallo, Jegor«, begrüßte er den Mann. Er hoffte, dass der Kerl ihm seinen Missmut nicht anmerken würde. Jegor war der Mann, der ihn engagiert hatte. Sein Auftraggeber. Warum gesellte er sich zu ihnen? Traute er ihm etwa nicht?
Jegor streckte den Arm aus und schüttelte Victor die Hand »Hattet ihr einen guten Flug?«, fragte er in fließendem Russisch, wenn auch mit einem harten deutschen Akzent.
Christina Voss bemühte sich, möglichst flach zu atmen, während sie hinter einer gewissen Frau Gunther von der Pflegedienstleitung über einen mit Linoleum ausgelegten Gang ging. In der Luft lag der säuerliche Geruch von Erbrochenem und erinnerte sie an verkorkste Abende mit zu viel Rotwein und sentimentalen Serien auf Netflix.
Nachdem sie gestern Abend den Begriff St. Anton gegoogelt hatte, war sie auf insgesamt drei Einrichtungen gestoßen, die in Berlin diesen Namen trugen: ein Altersheim, eine Kinderkrippe und – what the heck? – ein heruntergekommenes Stundenhotel. Daraufhin hatte sie eine überaus unruhige Nacht gehabt und war heute Morgen gleich gegen acht im Büro erschienen, wo sie als Erstes eine Fallwand für Prometheus angelegt hatte. Sie hängte die verschiedenen Botschaften in ihren Plastiktüten daran und pinnte auch einen Screenshot des Internetvideos dazu. Über alles schrieb sie mit einem dicken Stift Drohung?. Dann saß sie eine Weile lang grübelnd da und fragte sich, welches St. Anton der Betreiber des YouTube-Kanals wohl gemeint hatte. Bis es ihr zu blöd wurde. Sie schnappte sich ihre Jacke und klapperte die Einrichtungen der Reihe nach ab. Das Hotel war eine heruntergekommene Bude ganz in der Nähe des Görlitzer Parks, bei der es sehr viel Fantasie brauchte, es sich als Zielobjekt für einen wie auch immer gearteten Anschlag vorzustellen. Die Kinderkrippe hatte geschlossen, also war Voss zu diesem Altersheim gefahren.
»Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was Sie hier wollen«, erklärte Frau Gunther nun, während sie die Tür eines gläsernen Büros öffnete und Voss hineinbat.
Der Raum war vollgestellt mit zwei Schreibtischen und einem Regal mit Akten. Auf einem der Schreibtische stand ein Blumenstrauß, der die Luft mit feinem Rosenduft erfüllt hätte, hätte nicht der Geruch von Erbrochenem auch hier alles überlagert. »Warum sind Sie so nervös, Frau Gunther?«, fragte Voss.
Die Frau zögerte. »Na ja«, sagte sie. »Ich weiß nicht …« Sie verstummte wieder. Ihre Bewegungen waren fahrig. Bisher hatte sie weder Voss einen Sitz angeboten noch selbst Platz genommen.
»Hören Sie«, sagte Voss. Ihre vagen Befürchtungen mit dieser Frau zu teilen erschien ihr der kürzeste Weg, sich ihrer Kooperation zu versichern. »Ich bin hier, weil ich Grund habe zu der Annahme, dass die Bewohner Ihres Hauses Opfer eines Anschlags werden könnten, und ich würde gern verhindern …«
»Ein Anschlag?« Wenn es überhaupt möglich war, dann wurde Frau Gunther noch blasser.
Voss nickte. Sie nahm ihr Handy heraus und rief das Prometheus-Video auf. Als Frau Gunther den Namen ihres Heimes las, musste sie sich setzen. Die Federn ihres Schreibtischstuhls ächzten unter ihrem Gewicht.
Voss sah ihr ins Gesicht. »Was denken Sie, Frau Gunther?«
Ein Muskel zuckte nervös unter dem rechten Auge der Frau.
»Sie glauben, dass die Brechdurchfälle Ihrer Bewohner damit zu tun haben könnten, oder? Woran exakt leiden Ihre Bewohner, Frau Gunther?«
»Das wissen wir noch nicht. Dr. Jesper, das ist der Hausarzt, der unsere Bewohner betreut, hat Proben genommen und an ein Labor geschickt.«
Voss atmete durch. Über einer Tür leuchtete ein rotes Licht auf, offenbar ein Zeichen dafür, dass einer der Bewohner etwas brauchte. Durch den Glaseinsatz der Bürotür sah Voss, dass eine Altenpflegerin, die bis eben bei einem anderen Bewohner gewesen war, in das Zimmer eilte. »Wenn Sie eine Vermutung über die Ursache dieses Krankheitsausbruchs anstellen müssten«, sagte sie, »auf was würden Sie dann tippen?«
Die Art, wie die Frau hastig den Kopf schüttelte, zeigte Voss, dass sie tatsächlich eine Vermutung hegte, diese aber nicht aussprechen würde.
»Frau Gunther«, sagte Voss sanft. »Noch einmal: Ich habe den Verdacht, dass jemand einen Anschlag auf Ihr Heim verübt hat. Ich glaube, Sie sollten mir sagen, was Sie denken.«
Geschlagen blies die Frau Luft durch die zusammengepressten Lippen. »Also gut. Bisher sind nur Leute erkrankt, die gestern Abend von einer Quarkspeise gegessen haben, darum gehen wir von einer Salmonellenvergiftung aus. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand hier reinkommen und … ich meine, ein Anschlag … Gott im Himmel!« Der Gedanke trieb sie auf die Füße.
»Existiert von dieser Quarkspeise noch etwas?«
»Bestimmt. Unsere Köchin macht immer viel zu viel, und den Rest gibt es meistens am nächsten Tag nochmal.«
»Gut. Sorgen Sie bitte dafür, dass das unterbleibt.«
Frau Gunther nickte eifrig. »Das haben wir natürlich längst.«
»Sehr gut. Ich schicke einen Kollegen, der die Speise abholt, damit unser Labor sie untersuchen kann. Und ich brauche auch noch die Adresse und Telefonnummer von diesem Dr. Jesper.«
»Selbstverständlich.« Frau Gunther ging zum Schreibtisch und notierte ihr die Kontaktdaten des Arztes auf einem Zettel. »Bitte schön.«
»Danke. Ich schicke Ihnen jemand vom Erkennungsdienst vorbei, um eventuelle Spuren zu sichern.« Voss überlegte, ob sie auch die Erkrankten als Zeugen befragen sollte, entschied sich aber dagegen. Auf Übelkeit und Brechdurchfall konnte sie durchaus gut verzichten. Am besten, sie machte sich erstmal ein bisschen schlau über das Thema Bioterrorismus.
Max Seifert saß am Schreibtisch und las sich auf seinem Tablet durch die Schlagzeilen der Tageszeitungen, die er abonniert hatte. Es war seine übliche Morgenroutine: Süddeutsche, FAZ, Welt, dazu ein paar der übleren überregionalen Boulevardblätter, die ihm einen Überblick über den Zustand der Nation verschafften. Ein Boulevard-Undergroundmagazin brachte die Meldung, dass es vergangene Nacht in einem Berliner Altersheim namens St. Anton zu einem Ausbruch irgendeiner Krankheit gekommen war. Und in dem für dieses Magazin üblichen raunenden Sensationstonfall schrieb der Redakteur, dass man aus einer zuverlässigen Quelle wisse, dass in dem Heim eine weitere Botschaft von Prometheus gefunden worden war. Natürlich endete der Artikel mit einer eindringlich vorgetragenen Frage: Droht Berlin jetzt eine Anschlagsserie?
Max starrte noch missmutig auf die Seite, als sein Handy klingelte und Frederic von Zeven dran war. »Haben Sie das mit dem Altersheim gehört?«
»St. Anton?« Wie immer, wenn er mit seinem Auftraggeber telefonierte, setzte Max sich automatisch aufrechter hin. »Ja. Eben gerade.«
»Hoffen wir, dass es zwischen dem Krankheitsausbruch und der Prometheus-Angelegenheit keinen Zusammenhang gibt, denn das wäre für unsere Sache überaus nachteilig.«
Dem konnte Max nur zustimmen.
»Aber ich rufe Sie nicht deswegen an, sondern wegen dieses Mädchens.«
»Sylvie.«
»Genau. Ich habe mir ihren Blog eingehender angesehen. Sie haben recht: Sie ist das perfekte Gesicht für unsere Kampagne.«
»Dann habe ich Ihr Einverständnis, sie ins Boot zu holen?«
Von Zeven räusperte sich dezent. »Die haben Sie.«
Max atmete auf. »Ich treffe mich nachher mit ihrem Vater.«
»Sehr gut.« Ein Lächeln klang in von Zevens Worten mit. Er mochte es, wenn seine Leute Eigeninitiative zeigten, das wusste Max und musste selbst lächeln.
»Ich dagegen treffe mich heute noch einmal mit Herrn Griese«, sagte von Zeven.
»Wie haben Sie ihn dazu gekriegt, sich darauf einzulassen?«
Sandro Griese war Mitglied des vor einem Jahr neugewählten Bundestages und stand dort der FDP-Fraktion vor, die sich in der Opposition befand. Vor allem aber: Griese war so was wie Max’ Hassgegner. Jener Mensch, der ihm bei seinem Kampf die meisten Steine in den Weg legte.
Von Zeven lächelte nun nicht mehr. »Ich gehe davon aus, dass wir ihn noch immer nicht auf unserer Seite haben?«
»Das ist richtig.« Max kratzte sich seitlich am Hals, während das, was hinter von Zevens Worten steckte, an ihm vorbeischnurrte. Unsere Sache. Es war so eine harmlose Bezeichnung für ihre Bemühungen, die Bundesregierung dazu zu bringen, endlich ein wirksames Antibiotikaresistenzbekämpfungsgesetz zu verabschieden, kurz ARBG. Und jetzt, nach Jahren des Bohrens extrem dicker Bretter, gab es eine vielversprechende Gesetzesinitiative, sodass ihnen das vielleicht endlich gelingen konnte.
Sandro Griese allerdings war von Anfang an ein vehementer Gegner dieser Gesetzesinitiative gewesen. Max hatte das zunächst nicht glauben wollen, es aber eingesehen, als er selbst mit Griese gesprochen hatte. Kurz nach der ersten Debatte zum ARBG war es gewesen. Volle fünf Minuten seines Redebeitrags hatte Griese in dieser Debatte zuvor der Tatsache gewidmet, dass ein Punkt dieses neuen Gesetzes den Staat dazu verpflichtete, Firmen zu subventionieren, die sich der Antibiotikaforschung verschrieben. Die Frage, ob der Staat regulierend in die Belange des Marktes eingreifen dürfe, hatte Griese mit einem ganz klaren Nein beantwortet, und die ganze Zeit über, während er redete, hatte Max mit geballten Fäusten auf der Zuschauertribüne gesessen. Darum hatte er Griese gleich darauf zur Rede gestellt.
»Sie wissen schon, dass es in der Geschichte immer die staatlich geförderten Entwicklungen und Erfindungen waren, die die Menschheit wesentlich vorangebracht haben, oder?«, hatte er gesagt.
Griese hatte ihm seinen nur mühsam unterdrückten und völlig unprofessionellen Frust auf der Stelle angehört. Mit hochgezogenen Augenbrauen hatte er zurückgefragt: »Sie fangen jetzt aber nicht wieder von Ihrer Geschichte mit dieser amerikanischen Pharmafirma an, oder?«
Max nahm die Schultern zurück. »Achaogen«, sagte er. Diese Geschichte war so etwas wie ein schmerzhafter Dorn in seinem Herzen.
Die Firma war ein geradezu klassisches Beispiel dafür, wie der Hase lief. Achaogen hatte einen genialen Kandidaten für ein neues Antibiotikum entwickelt und 2018 dafür auch die Zulassung erhalten. Absurderweise war man dann aber am eigenen Erfolg gescheitert. Die Herstellung des Medikamentes, die Qualitätskontrollen, der Vertrieb und die Vermarktung waren so teuer gewesen, dass sich immer mehr Geldgeber aus der Entwicklung zurückgezogen hatten. Als im Sommer 2018 mit Novartis dann auch noch der letzte Pharmariese, der möglicherweise die Firma und damit die Rechte am Antibiotikum hätte kaufen können, den Ausstieg aus der Antibiotikaforschung verkündete, stürzte Achaogens Aktie ins Bodenlose.
»Wir hatten das doch schonmal, Max«, sagte Griese in einem Tonfall, als rede er mit einem begriffsstutzigen Kind. »Achaogen ist nicht geeignet, um mich davon zu überzeugen, dass die Regulatorien des Marktes versagen. Erfindet etwas Neues, aber verkauft es möglichst selten ist eben kein funktionierendes Geschäftsmodell.« Er lächelte übertrieben freundlich.
Max brauchte einen Moment, um seinen Ärger in den Griff zu kriegen. »Sie wissen so gut wie ich, dass wir handeln müssen, wenn wir nicht sehenden Auges in die nächste Pandemie rennen wollen! Ihre religiöse Anbetung des Marktes in allen Ehren, aber in Gesundheitsfragen von solcher Dringlichkeit reichen die Mechanismen des Marktes nicht aus. Darum brauchen wir das ARBG, weil Fälle wie Achaogen für Deutschland verh…«
»Ja, ja«, hatte Griese ihn unterbrochen. »Ich bin sicher, dass Sie nur das Beste wollen. War es das jetzt? Ich habe gleich einen wichtigen Ausschusstermin.« Er hatte Max zugenickt, und bevor dieser etwas erwidern konnte, hatte Griese ihn einfach stehen gelassen.
Max hatte ihm hinterhergestarrt, genau so, wie er jetzt mit dem Telefonhörer am Ohr auf seinen Monitor starrte.
»Ich melde mich wieder«, hörte er von Zeven sagen.
»Ja. Gut.«
Sie verabschiedeten sich, und danach grübelte Max noch eine Weile lang weiter über Griese nach. »Ich kriege dich noch dazu, für das Gesetz zu stimmen«, murmelte er. Ganz sicher war er sich dessen allerdings nicht.
Das Büro von Max Seiferts PR-Firma Medic Affairs lag in Reinickendorf im Schatten des Schillerparks. Tom fuhr nicht mit seinem Uralt-Golf dorthin, sondern mit seiner Crossmaschine, dem einzigen Hobby, das er sich erlaubte. Er wunderte sich darüber, dass Seifert seine Firma in einem reinen Wohngebiet hatte und nicht wie die meisten anderen Berater- und Lobbyfirmen in einem schicken Büro in der Nähe des Bundestages.
Medic Affairs war offenbar nur winzig.
In natura sah Seifert nicht mehr ganz so jung aus wie auf dem Foto auf seiner Website, aber sein pausbäckiges Gesicht und die roten Haare waren unverkennbar.
»Herr Morell?«, begrüßte er ihn, noch während er eigenhändig die Tür öffnete. »Kommen Sie rein! Ich freue mich, dass Sie sich die Mühe gemacht haben herzukommen.« Er klang aufgeregt, fast ein bisschen übereifrig.
Etwas irritiert von der Freundlichkeit des Mannes folgte Tom ihm durch einen Flur, der vollgestellt war mit Bücherregalen, die aussahen wie von IKEA. Das Parkett im Flur war abgetreten und hätte dringend eine Renovierung benötigt. Bei einem Zimmer linker Hand stand die Tür offen, sodass Tom den Schreibtisch darin sehen konnte, der wie eine Art Empfangstresen aufgebaut war. Es saß jedoch niemand daran. Seifert schien allein zu sein. So wie es aussah, war Medic Affairs unter den Lobbyfirmen also wirklich ein absoluter Underdog.
So ziemlich das Einzige, das wenigstens ein bisschen nach Geld und Einfluss roch, war ein antiker, goldgerahmter Spiegel neben der Garderobe. Tom mied beim Vorbeigehen den Blick hinein. Er brauchte ihn nicht, um zu wissen, dass er in seinen nur nachlässig geschnürten Boots, der alten Lederjacke und mit den Schatten unter den Augen ähnlich abgerockt aussah wie das Parkett hier. Er folgte Seifert in den größten Raum der Wohnung, der vermutlich früher einmal als Wohnzimmer gedacht gewesen war. Ein antiker Schreibtisch mit gedrechselten Beinen dominierte die Einrichtung und wirkte ähnlich fehl am Platz wie der Spiegel im Flur. Auch hier rings an den Wänden hohe und ziemlich vollgestopfte Bücherregale. Eine einsame Grünlilie fristete ein trauriges Dasein auf der Fensterbank. Wie Toms Palme schien sie schon bessere Zeiten gesehen zu haben.
Mit einem Lächeln deutete Seifert auf eine Couchgarnitur in der Ecke. Auf dem niedrigen Tisch davor standen bereits Kaffeetassen, Milchkännchen und Zuckerdose.
Tom folgte Seiferts Aufforderung, sich zu setzen, und dann wartete er darauf, dass der Mann den fertigen Kaffee aus der Küche holte. Nachdem Seifert zwei Tassen vollgeschenkt hatte, setzte er sich Tom gegenüber.
»Ich muss Ihnen ein Geständnis machen«, begann er mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen.
»Sie haben bereits mit meiner Tochter Kontakt aufgenommen«, sagte Tom.
Seifert schien überrascht, dass er das wusste. Dann jedoch nickte er. »Sie hat Ihnen davon erzählt.«
Tom beugte sich vor und nahm seine Kaffeetasse. »Hat sie.«
Seifert schien peinlich berührt. »Hören Sie, Herr Morell, mir ist bewusst, dass Ihre Tochter minderjährig ist und ich Ihre Erlaubnis einholen muss, aber ich würde Sylvie überaus gern zum Gesicht der Pandemic Fighters machen. Sie müssen verstehen, dass sie für unser Anliegen geradezu ein Gottesgeschenk ist.«
Tom trank einen Schluck. »Das kann ich mir vorstellen.« Gewöhnlich mochte er Menschen, die gleich zur Sache kamen, aber das hier ging ihm dann doch ein wenig zu schnell.
»Es müsste doch auch in Ihrem Interesse sein, dass der Gesetzgeber endlich dafür sorgt, dass sich Resistenzen wie die, unter der Ihre Tochter leidet, sich nicht ungehindert weiter ausbreiten können.«
»Hmhm.« Sachte stellte Tom die Tasse wieder auf den Tisch. »Mein allererstes Interesse ist, wie Sie sich sicher vorstellen können, meiner Tochter das Leben zu retten.«
»Verständlich.« Seifert schien kurz irritiert von Toms plötzlicher Schroffheit, aber er fing sich wieder. »Ich bin sicher, wir finden eine Übereinkunft, die uns beide zufriedenstellt. Eine Hand wäscht die andere.«
Tom war Seiferts plötzliches Haifischlächeln unangenehm, und er ermahnte sich, den Mann nicht zu unterschätzen. »Public und Gouvernmental Affairs«, sagte er. »Was genau muss ich mir darunter vorstellen?«
»Nun. Im Grunde berate ich Politiker dabei, die richtigen Entscheidungen zu treffen.«
»Sie sind Lobbyist.«
Ein Schatten flog über Seiferts Gesicht, und Tom spürte, dass er den Mann getroffen hatte. Es war ihm egal. Er hatte eine natürliche Aversion gegen alles, was mit Lobbyismus in Zusammenhang stand.
»Genau genommen haben Sie recht«, gab Seifert zu. »Ich versuche, Politiker dazu zu bringen, die richtigen Gesetze zu machen. Aber zugleich unterstütze ich mit meiner Arbeit auch die Bewegung der Pandemic Fighters. Ich kann also kein ganz schlechter Mensch sein.«
»Was genau tun Sie für die Fighters?«
»Eine unserer gemeinsamen Initiativen war zum Beispiel, dafür zu sorgen, dass Opfer multiresistenter Keime sich organisieren. Das ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die Politik sie überhaupt wahrnimmt. Was die dann wiederum dazu befähigt, sich dieses Riesenproblems für die Menschheit anzunehmen.«
Tom dachte an Sylvie und all das Leiden, dem sie ausgesetzt war. Dann dachte er daran, dass Fälle wie ihrer in der letzten Zeit immer häufiger vorkamen. »Sie gehen also davon aus, dass die Menschen in Zukunft noch mehr mit Antibiotikaresistenzen zu kämpfen haben werden?«
Seifert verzichtete darauf, das zu bejahen. »Kennen Sie das Bild von der Welle, die da in Zeitlupe auf uns zukommt?«
»Ein Tsunami, so haben Sie auf Ihrer Website geschrieben, wenn ich mich recht erinnere.«
Seifert nickte. »Genau. Die Corona-Pandemie 2020/21 war erst der Anfang. Wenn wir nicht umgehend handeln, wird die nächste Pandemie vielleicht von einem multiresistenten Bakterium ausgehen, und dann …«
Tom hob eine Hand, um Seifert zu unterbrechen. »Das alles ist schön und gut. Aber wenn ich ehrlich bin, würde ich mich lieber darüber unterhalten, wie ich meine Tochter retten kann. Dr. Heinemann meinte, Sie …« Er verstummte, weil es an der Tür klingelte.
Seiferts Miene zeigte Überraschung. Er entschuldigte sich kurz und huschte aus dem Raum.
Tom hörte ihn auf den Türsummer drücken und gleich darauf die Wohnungstür öffnen.
»Nina? Ich dachte, du bist in Tiflis. Was machst du hier?« Der Lobbyist klang verblüfft.
»Hallo, Max.« Die Frau an der Tür hatte eine sehr weibliche Stimme. »Entschuldige, dass ich dich einfach so überfalle. Ich wollte anrufen, aber es erschien mir besser, persönlich vorbeizukommen.«
Sie hatte schlechte Nachrichten, das konnte Tom ihr anhören, und offenbar dachte Seifert dasselbe.
»Ist was passiert? Entschuldige. Komm doch erstmal rein!« Mit der Frau im Schlepptau kehrte er in sein Büro zurück.
Die Frau war ein wenig größer als er, schlank, aber auf eine durchtrainierte, sportliche Art, die durch die Jeans und die kurze schwarze Lederjacke, die sie trug, noch betont wurde. Tom brauchte nur einen einzigen Blick in ihr Gesicht mit dem gebräunten Teint und den zwei kleinen Leberflecken, um zu erkennen, dass sie tatsächlich mit schlechten Nachrichten kam. Sie sah extrem erschöpft aus.
»Nina, das ist Tom Morell«, stellte Max vor. »Herr Morell: Nina Falkenberg, eine Bekannte von mir. Sie ist Journalistin. Herr Morell und ich planen … ach, egal. Setz dich erstmal!« Gegen ihren Widerstand bugsierte er Nina auf den Platz, auf dem er eben selbst noch gesessen hatte, dann beugte er sich über sie wie ein Arzt über einen Patienten, der Schmerzen hatte. »Erzähl: Was ist passiert? Warum bist du hier?«
Ninas Blick huschte zu Tom, scannte ihn einmal von Kopf bis Fuß, sodass er sich vorkam wie unter einem Mikroskop. Sie hatte blonde sehr kurze Haare und Augen, denen man ansehen konnte, dass sie anfingen zu blitzen, wenn ihre Besitzerin lachte. Im Moment jedoch wirkte sie voller Trauer. »Ich weiß nicht, Max, ob …«
Tom wusste, wann er fehl am Platze war. Er war schon drauf und dran aufzustehen, um zu gehen, aber Nina schien jetzt loswerden zu müssen, weswegen sie gekommen war. Sie senkte den Kopf und kratzte sich mit ihren unlackierten, aber sorgfältig manikürten Fingernägeln an der Stirn. »Georgy ist tot, Max«, flüsterte sie.
Seifert wurde blass. »Wie bitte?«
»Tot. Er …«, wiederholte sie, bevor ihre Stimme brach.
Das war der Moment, in dem sich Tom am liebsten in Luft aufgelöst hätte. »Vielleicht sollte ich doch besser …« Diesmal erhob er sich tatsächlich. Seifert wirkte verwirrt, aber er war höflich genug, um Anstalten zu machen, ihn zur Tür zu begleiten. Tom wehrte ab. »Ich finde allein raus. Wir telefonieren, okay? Es tut mir sehr leid, das mit Ihrem … Bekannten.«
Er verließ die PR-Agentur, bevor Seifert oder Nina Falkenberg noch einen Ton gesagt hatten.
Nina blickte dem Mann hinterher, der im ersten Moment einen abgehalfterten Eindruck auf sie gemacht hatte. Seine abgenutzte Lederjacke, die verblichene Jeans, vor allem aber die ausgelatschten Stiefel, die er trug, sprachen entweder von langandauernder Vernachlässigung seiner selbst oder aber von schlichtem Desinteresse daran, was andere Menschen von ihm dachten. Das Auffälligste an ihm jedoch waren seine ungewöhnlich blauen Augen. Augen, aus denen der Schmerz nicht verschwand, selbst wenn ihr Besitzer lächelte.
Sie schüttelte den Eindruck ab und konzentrierte sich auf Max. Wie als Kontrast zu Morells intensiver Präsenz wirkte er auf sie plötzlich schwammig und unbeholfen. Seine Lippen bewegten sich in dem vergeblichen Versuch, Worte zu finden für das, was sie ihm soeben mitgeteilt hatte.
»Er wurde ermordet«, flüsterte sie.
»Erm…« Mit einem energischen Kopfschütteln brach Max ab. »Wie kann das sein?«
»Ich vermute, dass jemand hinter seinen Phagen her war. Du weißt von seiner Forschung, oder?«
Max stand noch ein, zwei Sekunden regungslos da. Dann rieb er sich mit beiden Händen über das Gesicht und ließ sich schwer neben Nina auf die Couch fallen. Aber nur kurz, dann sprang er sofort wieder auf. »Warte mal!« Er lief in die Küche und kehrte mit einem dicken grauen Buch und einem ebenfalls grauen robusten Kästchen zurück – einem Ampullarium, das dem sicheren Medikamententransport diente. Er reichte beides an Nina. »Das hier hat Georgy mir vor ein paar Tagen geschickt.«
»Sein Laborbuch!«, murmelte sie und war so erleichtert, dass sie ein helles, der Situation völlig unangemessenes Lachen ausstieß.
Der dunkelrote Transporter, den Victor direkt am Flughafen gemietet hatte, roch unangenehm nach Hund, worüber Misha sich vehement und ausdauernd beklagte. Zum Glück hatten sie nicht weit fahren müssen, denn Nina Falkenberg, die blonde Frau, die Misha verwanzt hatte, war in ein Taxi gestiegen und Richtung Norden gefahren, wo sie in einer von dreistöckigen Häusern flankierten Straße hatte anhalten lassen und in einem der Eingänge verschwunden war.
»Mann, ey! Die Karre stinkt wirklich!«, moserte Misha auch jetzt, als sie dem Haus schräg gegenüber am Bordstein anhielten. Diesmal saß er im Fond, denn Jegor hatte den Beifahrersitz für sich reklamiert.
»Jetzt halt endlich die Klappe!«, wies Victor Misha zurecht.
»Stimmt doch aber!«, maulte der.
Jegor, der die Füße gegen das Handschuhfach gestellt hatte und ein Tablet auf den Knien hielt, musterte Victor schweigend. Er registrierte jede einzelne Regung sehr genau, das spürte Victor. Der Kerl war also wirklich zu ihnen gestoßen, um seine Arbeit zu überwachen! Mit zusammengebissenen Zähnen sah Victor dabei zu, wie Jegor nach einem nagelneu aussehenden Samsung-Handy griff, das er neben seinem Oberschenkel auf dem Sitz liegen hatte. Er tippte auf Wiederwahl. »Wir sind an der Frau dran«, sagte er knapp und legte wieder auf.
Interessant. Offenbar war Jegor nicht das oberste Glied in ihrer Befehlskette. Er musste jemandem Bericht erstatten. Sehr interessant.
Untermalt von leisem Knistern drangen Stimmen aus dem Lautsprecher von Jegors Tablet. Drinnen in einer der Wohnungen wurde Nina von Max Seifert begrüßt. Im Flugzeug hierher hatte Victor den Mann überprüft und sich die wesentlichen Informationen über ihn eingeprägt.
»Nina, das ist Tom Morell«, hörte er Seifert sagen.
War da noch ein zweiter Mann in dieser Wohnung?
Er beugte sich vor.
»Wer zum Teufel ist Tom Morell?«, murmelte Misha.
Victor zuckte mit den Achseln. »Woher soll ich das wissen?«
Während drinnen die drei ein paar Floskeln austauschten, gab Jegor den neuen Namen auf seinem Tablet ein. »Es gibt in Berlin einen Tom Morell, der als Foodhunter arbeitet.« Er hielt das Tablet in die Höhe, damit die anderen das Porträt auf der Website dieses Typen sehen konnten. Victor starrte in ein Paar fast unnatürlich blaue Augen.
»Was hat der mit Seifert zu tun?«, fragte Misha.
»Ist vielleicht nur zufällig hier«, sagte Victor.
Jegor hob einen Finger an die Lippen, und gemeinsam hörten sie zu, was nun gesprochen wurde.
»Ich finde allein raus«, sagte der Mann namens Morell. »Wir telefonieren, okay? Es tut mir sehr leid, das mit Ihrem … Bekannten.« Dann war eine Tür zu hören, die ins Schloss fiel. Während drinnen noch Schweigen herrschte, öffnete sich die Haustür, und ein schlanker, fit aussehender Mann in Jeans und Lederjacke kam heraus. Als er die Straße überquerte und an ihrem Transporter vorbeiging, erkannte Victor ihn wieder. Es war tatsächlich der Typ von der Website.
»Er wurde ermordet«, hörte er Nina flüstern. Seifert erwiderte: »Wie kann das sein?«, woraufhin Nina von den Phagen und der Forschung des Professors sprach.
Danach war es einen Moment lang still, sodass Victor Zeit hatte, Morell mit dem Blick zu einem ziemlich dreckigen Motorrad zu folgen, das ein Stück die Straße hinunter an einem der Bäume geparkt stand. In dem Moment, als Morell sich an der Karre zu schaffen machte, sagte Seifert: »Warte mal!« Dann waren schwache Geräusche zu hören, ein Knistern, Schritte, die über einen Holzfußboden liefen. »Das hat Georgy mir vor ein paar Tagen geschickt«, sagte Max.
Und Nina wisperte: »Das Laborbuch!«
In Mishas Augen erschien ein triumphierendes Funkeln. »Volltreffer!«
Victor warf einen unsicheren Blick in Jegors Richtung, weil er nicht wusste, ob ihr Auftraggeber nun die Regie übernehmen wollte. Aber der Typ schien nicht vorzuhaben, sich in seine Arbeit einzumischen.
»Los geht’s!«, befahl Victor also und griff nach der Skimaske, die er in der Mittelkonsole des Vans liegen hatte.
Tom hatte gerade den Schlüssel ins Zündschloss der Geländemaschine gesteckt, als bei dem dunkelroten Transporter, an dem er eben vorbeigekommen war, die Türen aufgingen und zwei Männer ausstiegen. Es war die absolut synchrone Art, mit der sie sich bewegten, die Tom aufblicken ließ. Als er die beiden – der eine fast zwei Meter groß, der zweite von durchschnittlicher Größe – die Straße überqueren, auf Seiferts Haus zustreben und dabei unter ihre offenen Jacken greifen sah, richteten sich in seinem Nacken die Haare auf. Er war lange genug in allzu düsteren Gegenden der Welt unterwegs gewesen. Er kannte das Bewegungsmuster von Typen, die eine Waffe trugen und vorhatten, diese auch zu benutzen.
»Fuck!«, rutschte es ihm heraus.