Unterdessen kletterten Cale und Maya im Stamm weiter die Innenwand hinauf, um zu den roten Samen vorzudringen. Inzwischen waren sie sicher zwanzig Meter über dem Boden. Noch ein kleines Stück und der Samen gehörte ihnen. Probeweise streckte Cale den Arm aus und reichte mit den Fingerspitzen bis an die Samentraube. Er kletterte noch ein wenig höher, damit er einen Samen pflücken konnte. Wieder streckte er die Hand ganz vorsichtig aus, umfasste einen der Samen mit den Fingern und zog daran. Zu seiner Überraschung löste er sich ganz leicht.
„Ich hab ihn!“, rief er und blickte mit einem stolzen Lächeln zu Maya. Dann sah er sich den Samen genau an. Er war knallrot und glänzte. Als Cale seine Beute in dem Beutel auf seinem Rücken verstaut hatte, wollte er sich wieder an den Abstieg machen.
„Was tun wir jetzt? Da unten warten die Wölfe auf uns“, hielt Maya ihn mit einem Blick zum Boden zurück.
„Erst mal klettern wir runter“, antwortete Cale, der sich auch nicht so sicher war, wie sie da rauskommen sollten.
Das Herunterklettern fiel ihnen schwerer als der Aufstieg, weil ihre Freunde nicht da waren, um ihnen zu sagen, wo sie die Füße hinsetzen konnten. Doch Meter um Meter schafften sie es bis zum Boden.
Beide lugten ängstlich aus dem Baumstamm hinaus. Was sie sahen, war nicht gerade tröstlich. Jetzt waren es noch viel mehr Wölfe, insgesamt etwa zwanzig. Sie hatten Mondrago vor der Hängebrücke umzingelt, zogen den Kreis immer enger und knurrten dabei unaufhörlich. Vom vielen Rennen schien Mondrago erschöpft und bewegte sich kaum noch. Jeden Moment würden die Wölfe sich auf ihn stürzen und er würde sich nicht wehren können.
„Lauf über die Brücke, Mondrago! Die Brücke!“, schrie Cale. Doch inmitten des Knurrens der wilden Wölfe konnte sein Drache ihn nicht hören. Und selbst wenn er ihn gehört hätte, vermutlich hätte er es nicht verstanden.
„Schau mal! Da sind noch mehr Wölfe“, flüsterte Maya und zeigte rechts neben den Baum.
Cale blickte hinüber und sah den Wolf mit der blutenden Stirn, den Arco verletzt hatte. Wütend kaute er auf Quasis Schuh herum und schnappte nach einem anderen Wolf, der ihm seine Beute wegnehmen wollte.
„Wir müssen so schnell wie möglich weg von hier“, flüsterte Cale.
Maya steckte Zeigefinger und Daumen in den Mund und pfiff laut nach ihrer Drachin. Die tapfere Bruma, die immer noch durch die Luft kreiste, gehorchte sofort und sauste zur Rettung ihres Frauchens hinab.
Doch Mayas Pfiff hatte auch die Aufmerksamkeit der Wölfe geweckt, die um den Schuh kämpften. Sie spitzten die Ohren und schauten zu den Kindern, die dicht am Baum standen. Mit geduckten Köpfen und gefletschten Zähnen kamen die Wölfe auf sie zu.
Maya sah zu ihrer Drachin. Sie war schon nah bei ihnen, doch die Wölfe würden schneller da sein. Cale stand ganz still. Er hatte nichts, um sich zu verteidigen. Sie waren verloren!
Die Wölfe schlichen immer näher. Plötzlich schnitt ein scharfes Zischen durch die Luft:
Ein Stein schoss aus der Schleuder ihres Freundes, der mit seinem Drachen die Szene überflog, und traf den verletzten Wolf am Rücken, der jaulend abdrehte. Arco feuerte sofort noch einen weiteren Stein ab.
Diesmal traf er den anderen Wolf voll an der Pfote. Das Tier winselte, legte sich auf den Boden und leckte seine Wunde.
Bruma nutzte den Moment der Ablenkung, flog bis zu ihrem Frauchen und Maya konnte auf ihren Rücken klettern.
Blieb nur noch Cale.
Wie sollte er von dort, wo er war, wegkommen?
Gern wäre er mit auf Mayas Drachin geklettert, aber er wusste, die strengen Regeln zum Schutz der Drachen verboten es, dass zwei Kinder auf einem Drachen ritten. Maya würde diese Regel nie brechen.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, drehte Arco in der Luft um und flog zu Maya.
„Maya, wir nehmen Cale zu zweit mit“, schrie er. „Du packst ihn an einer Hand und ich an der anderen. Zusammen heben wir ihn hoch und holen ihn da raus.“
„Glaubst du, das klappt?“, fragte Maya.
„Das finden wir nur auf eine Art heraus! Los, komm!“, rief Arco.
Maya zog an den Zügeln und lenkte Bruma neben Arcos Drachen. Dann flogen beide schnell hinab, jeder auf einer Seite von Cale. Der hob die Arme, und seine Freunde packten ihn fest an den Händen und zogen ihn hoch. Sofort sackten die Drachen unter dem Gewicht des Jungen ein Stück nach unten.
Wieder hörte Cale ein Knurren und sah hinter sich. Der verletzte Wolf hatte sich erholt und stürmte auf ihn zu! Wenn seine Freunde es nicht schafften, ihn hochzuheben, wäre er verloren.
„Komm, Blitzschnell, beweg deine Flügel!“, spornte Arco seinen Drachen an und schlug ihm die Fersen in die Seiten.
„Hoch, Bruma, hoch!“, schrie Maya.
Gerade sprang der Wolf mit offener Schnauze auf Cale zu, doch in letzter Sekunde schlugen die Drachen kraftvoll mit ihren Flügeln und schafften es, Cale in die Höhe davonzutragen.
Die Zähne des Wolfes krachten in der Luft laut zusammen.
„Es klappt!“, rief Maya und bemühte sich, ihre Drachin nahe bei Arco zu halten, damit ihnen Cale nicht abstürzte.
Gemeinsam trugen sie ihn durch die Luft auf die andere Seite der Brücke. Cale hing zwischen ihnen und klammerte sich an den Händen seiner Freunde fest. Er lächelte erleichtert, während er unter sich blickte. Doch die Freude währte nur kurz. Mondrago steckte noch immer in Schwierigkeiten. Die wütenden Wölfe hatten ihn noch enger eingekreist und schnappten nach ihm.
„Zur Brücke!“, schrie Cale ihm aus dem Himmel zu.
Dieses Mal hörte Mondrago ihn. Sichtlich verdutzt sah er zu Cale hinauf. Sein Blick schien zu sagen: Was machst du da? Warum wartest du nicht auf mich? Unruhig begann Mondrago, mit seinen kleinen Flügeln zu schlagen. Er wusste offenbar nicht, was er tun sollte.
„Lauf über die Brücke, Mondrago! Jetzt gleich!“, rief Cale noch einmal.
In diesem Augenblick sah Cale, wie Quasi mit seinem Drachen auf der anderen Seite der Brücke landete.
„Quasi!“, schrie Cale. „Hilf Mondrago! Hilf ihm über die Brücke!“
Quasi sah nach oben und wirkte genauso überrascht wie Mondrago, Cale zwischen Blitzschnell und Bruma baumeln zu sehen.
Hastig kletterte er von seinem Drachen und lief zur Brücke. Am Abgrund zögerte er. Als er sich hinsetzte, wusste Cale, dass seinem Freund schwindlig geworden war. Und dass er viel zu viel Angst hatte, da rüberzulaufen.
Da kam Cale eine Idee. „Biete Mondrago etwas zu essen an!“
„Gute Idee!“, stöhnte Quasi, erleichtert, dass er nicht über die brüchige Brücke gehen musste.
Er rannte zu seinem Drachen, wühlte in den Packsäcken und zog einen Beutel mit Drachenfutter hervor. Dann lief er zurück zur Brücke und rief laut nach Mondrago. Dabei winkte er mit dem Beutel.
„Mondrago, schau mal, was ich für dich hab! Komm her, Junge.“
Der Drache rangelte gerade mit einem Wolf, der seine Zähne in seine Schwanzspitze geschlagen hatte.
Als er Quasi hörte, sah er zu ihm hinüber.
Unaufhörlich rief Quasi nach ihm und schwenkte den Beutel.
Mondrago schnupperte in der Luft. Er konnte das Futter eindeutig riechen. Obwohl er erschöpft war, schlug er noch einmal fest mit seinem Schwanz und schaffte es, den Wolf abzuschütteln. Dann trabte er zur Hängebrücke und machte sich an die Überquerung. Die Wölfe schlichen näher, aber keiner traute sich, ihm zu folgen. Wütend schauten sie zu, wie ihre Beute ihnen entwischte.
Unter dem Gewicht des Drachen schwankte die Brücke gefährlich, doch Mondrago schien das nichts auszumachen. Er war zu sehr auf den Futterbeutel konzentriert, der ihn auf der anderen Seite erwartete.
„Sehr gut, weiter so, nicht stehen bleiben“, feuerte Quasi ihn an.
Ein Schritt, noch einer, ein bisschen schneller auf dem letzten Stück – und Mondrago hatte es auf die andere Seite geschafft! Sofort stürzte er sich auf den Futterbeutel und warf Quasi dabei um. Der Beutel flog durch die Luft und das ganze Futter verteilte sich im Gras. Mondrago hechtete hinterher und wenige Augenblicke später hatte er alles aufgefressen. Mondrago rülpste zufrieden und stieß einen großen Feuerschwall aus.
„Wohl bekomm’s!“, lachte Quasi, der noch immer auf dem Boden lag.
Maya und Arco schafften es, Cale auf die andere Seite des Abgrunds zu tragen, und als ihre Drachen nicht mehr allzu hoch waren, ließen sie seine Hände los und Cale plumpste das letzte Stück hinab. Er verlor keine Sekunde, rappelte sich auf, rannte zu seinem Drachen und umarmte ihn fest.
„Mondrago! Wir haben es geschafft!“
Vom anderen Ufer blickten die Wölfe höchst unwirsch zu ihnen hinüber, doch nach und nach dämmerte ihnen, dass sie wirklich nichts machen konnten, und sie verteilten sich wieder auf dem Hügel.
Die anderen liefen zu Cale und umarmten Mondrago mit ihm. Sie waren mit dem Leben davongekommen. Und sie hatten ihre erste Aufgabe erfüllt!
„Lasst uns besser von hier verduften“, mahnte Maya, sobald sie überprüft hatten, dass Mondrago außer ein paar kleinen Kratzern am Schwanz nichts passiert war.
Cale und Quasi spannten Mondrago vor das Mondramobil, Arco stieg auf Blitzschnell, Maya auf Bruma und Quasi, dem der eine Schuh fehlte, auf Mini. Dann kehrten die vier Freunde dem Wolfshügel auf einem Feldweg den Rücken.
Als sie eine Gegend mit bestellten Feldern erreichten, setzten sie sich in den Schatten eines Baums. Sie waren völlig erledigt. Aus den Packtaschen seines Drachen holte Quasi ein paar Wasserschläuche und alle tranken dankbar.
„Hast du den Samen gepflückt?“, fragte Arco und wischte sich das Wasser, das ihm am Kinn hinunterlief, mit dem Hemdsärmel ab.
Cale öffnete seinen Beutel, den er die ganze Zeit auf dem Rücken getragen hatte. Hoffentlich hatte er den Samen nicht bei seinem wilden Flug verloren. Ein Blick in den Beutel – da lag der Samen, neben Ridel.
„Tatamm!“, sagte Cale, nahm ihn heraus und zeigte ihn seinen Freunden.
Rot glitzernd sah der Samen des Mammutbaums in seiner Hand aus.
„Wow, schön ist der!“, rief Quasi.
„Jetzt fehlen uns nur noch fünf“, sagte Arco.
„Warum zeigst du ihn nicht Ridel? Mal sehen, was er dazu sagt“, schlug Maya vor.
„Gute Idee“, erwiderte Cale.
Erneut steckte Cale die Hand in den Beutel und holte das geheimnisvolle sprechende Buch hervor. Die Buchstaben mit dem Namen leuchteten ebenso intensiv rot wie der Samen. Cale schlug das Buch auf und sie hörten Ridels Stimme. Diesmal klang sie sehr zufrieden und stolz.
„Freunde, gut gemacht,
ihr habt es vollbracht.
Bringt den Samen nun fort,
bewahrt ihn an sicherem Ort.“
Kaum hatte das Buch das ausgesprochen, erschien auf einer seiner Seiten das Bild des roten Samens neben dem Bild des Mammutbaums, das sie zuvor schon gesehen hatten.
Sie hatten den ersten Samen gefunden.
Doch fünf Samen fehlten ihnen noch.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte Arco.
„Also, ich habe zuerst einmal vor, zu meiner Burg zu fliegen, mir andere Schuhe anzuziehen, Abendbrot zu essen und mich auszuruhen“, antwortete Quasi. „Morgen ist auch noch ein Tag.“
„Quasi hat Recht“, fand auch Cale. „Heute haben wir schon genug geschafft und sind alle völlig fertig. Doch erst müssen wir noch einen sicheren Ort finden, wo wir die Samen aufbewahren können. Vorschläge?“
„Warum gehen wir nicht zur Drachenhüterstation und bitten Anton, sie für uns aufzuheben?“
Cale erinnerte sich daran, was er beim Anblick von Anton gedacht hatte, als sie aus dem Nebelwald herausgekommen waren. Ihm war sein Auftauchen dort als ein zu großer Zufall erschienen. Zwar wollte er sich diesen Gedanken aus dem Kopf schlagen, war Anton doch einer der angesehensten Bewohner von Samarado, aber irgendetwas sagte ihm, dass es momentan besser wäre, ihm nichts zu erzählen. Für alle Fälle.
„Nein, denkt daran, dass Murda noch da sein muss und zur Strafe die Drachenstallungen ausmistet. Nichts will ich weniger, als ihn gleich noch einmal zu treffen“, sagte Cale, um nichts von seinem Verdacht zu verraten. „Besser, ich nehme den Samen mit nach Hause und verstecke ihn in einem der geheimen Bücher, die mein Vater in seiner Bibliothek hat. Die sind hohl und dort wird ihn keiner finden.“
„Finde ich eine sehr gute Idee“, sagte Quasi.
„Einverstanden“, stimmte Maya zu.
„Perfekt“, fügte Arco hinzu.
Als sie wieder Kräfte gesammelt hatten, machten sich die vier Freunde auf den Heimweg zu ihren Burgen. Es war ein langer Tag voller Aufregungen und Abenteuer gewesen. Zum Glück war alles gut ausgegangen und sie hatten den ersten Samen errungen. Aber ihre Aufgabe war noch nicht beendet. Sie mussten weitermachen, bis sie auch die anderen fünf gefunden hatten. Nur dann konnten die sprechenden Bäume neu wachsen.
Cale hoffte, dass die übrigen Samen nicht so schwer zu erlangen wären wie der erste. Doch selbst wenn – sie würden alles nur Mögliche tun, um sie zu finden.
Sie durften die alte Eiche Eichenau und den Nebelwald nicht enttäuschen.
Gemeinsam würden sie dafür sorgen, dass der Wald wieder voll sprechender Bäume wäre.