Kapitel 1

 

Der Krebs, der in der flüssigen Dunkelheit zwischen Steinen umherhuschte, kannte die Welt außerhalb seines Panzers nicht. Woher kam er? Auf welche Zukunft kämpfte er sich zu? Er wusste es nicht. Er kostete von den kalten Strömungen und schmeckte in ihnen die Essenz zu fressenden Fleisches. Und so änderte er seinen Kurs auf diese Verlockung hin ab und kämpfte sich langsam durch den Schlick auf seine Beute zu.

Über noch mehr Felsen, in Spalten und Risse hinein, hier ein Hinunterrutschen und dort ein Hochklettern im Seitwärtsgang, die Zangen hier und da hineingesteckt, wie es ihm als Krebstier in der Natur lag. Als sein Weg ihn über ein Austernbett führte, sandte die Anwesenheit des Krebses ein Erschaudern durch das Feld der tellergroßen Muscheln, als spürten die Weichtiere den Schatten eines Albtraums, wo es keinen Schatten geben konnte. Der Krebs marschierte weiter, und die kleine Welle der Angst, die die Austern aus ihrem Schlummerzustand geweckt hatte, erstarb sofort und das Leben innerhalb der Schalen ging weiter wie zuvor.

Wo immer der Krebs auch hintrat, rührte er unter seinen Zangen Schlickwirbel auf. Der hart umschalte und entschlossene Meeresbewohner wusste nicht, dass der Vollmond die Oberfläche von New Yorks Hafenwasser silbern tünchte, oder dass es Februar im Jahre 1703 war, oder dass in den Fenstern der soliden Häuser und gut besuchten Schänken von Manhattan an diesem Samstagabend Lampen glommen, oder dass ein kalter Wind aus dem Nordwesten die Wasseroberfläche kräuselte. Er wusste nur, dass er in diesem nachtschwarzen, schlammigen Morast, der sich vor ihm erstreckte, etwas Gutes zu fressen roch. Und so krebste er weiter, hungrig und unbedarft, könnte man sagen, ohne jede Überlegung oder Plan.

Wem außer sich selbst konnte er daher die Schuld geben, als der Schlick sich unter ihm auftat und Tentakel herausschossen und der Schlamm vor gieriger Freude erzitterte? Als die Tentakel sich um den Krebs schlangen, ihn umdrehten, und der Schnabel des Kraken sich in den Bauchpanzer grub – welche Gedanken blitzten dem Krebs wie der Geruch von totem Hering durch die Nervenbahnen? Denn der Krebs versuchte wirklich zu entkommen, hatte aber keinerlei Aussicht auf Erfolg. Das Krebstier begann in Stücke und Teilchen zu zerfallen, die sich in dem beißenden Schnabel und dem unvoreingenommenen Meer verloren. Als kleine Fische herbei flitzten, um diese umhertreibenden Fleischfasern aufzuschnappen, zog der Krake seine Beute wie ein eifersüchtiger Liebhaber enger an sich und drückte sich in ein Loch hinein, das vom Kuss zweier Felsen gebildet wurde. Und so befanden sich die Überreste des Krebses schon bald an einem noch finstereren Ort als zuvor und der einsame Reisende war nicht mehr.

Nach dem Ende seiner Mahlzeit saß der Krake in seinem Loch. Er war alt und langsam, ärgerte sich und empörte sich auf seine Weise gegen die Schmach, die das Verstreichen der Zeit ihm angetan hatte. Doch er hatte Glück gehabt, so gut zu fressen. Allerdings wurden seine Eingeweide schon sehr bald wieder von Hunger gepackt. Daher zog er sich Arm um Arm aus seiner krustigen Höhle hinaus und wagte sich erneut aufs Schlachtfeld, driftete wie eine gefleckte Wolke auf der Suche nach einer schönen flachen Stelle im Schlick und Tang hierhin und dorthin, und wehe den Krabben und kleinen Fischen der Nacht.

Der Krake, ganz auf sein eigenes Vorankommen und seinen Appetit konzentriert, trieb an einem Haufen Steine vorbei, in denen die rostigen Überreste eines Ankers klemmten, der vor vielen Jahren von einem holländischen Schiff in einem Sturm losgerissen war. Die Kreatur, die sich diese Steine und den Anker zum Rückzugsort und Heim gemacht hatte, erwachte sofort aus ihrer Erstarrung. Durch ein Kitzeln im Innenohr nahm sie die Gegenwart von etwas Fressbarem wahr und bewegte sich den Schwanz von Seite zu Seite schlagend voran. Dann packte das Maul des Barsches den knollenförmigen Kopf seiner Beute. Noch während der Strom schwarze Tinte verschreckt hervorschoss – viel zu spät –, wurde der Krake ins Maul des Barsches gezogen und von den kräftigen Zahnplatten darin zermalmt. Die um sich schlagenden Arme wurden mit einem Schluck verschlungen. Es war eine so saubere Mahlzeit, dass für die kleinen Bettler kein Häppchen übrigblieb. Der Barsch schwamm wie in siegreicher Benommenheit, den Bauch am Boden und mit dem Schwanz müde das Wasser schlagend.

Dann lockte ein neuer Geruch von Fressbarem den Barsch an, der seinen Kurs wie eine von Seepocken überzogene Fregatte abänderte. Er suchte hoch und tief, fand dann ein öliges Stück Fleisch, das griffbereit im Wasser hing.

Er biss zu.

Als das große Maul sich über dem Fleisch schloss, wurde die Leine geruckt, die zwölf Meter weit zur Wasseroberfläche hochreichte. Der Angelhaken setzte sich fest. Der Barsch zerrte leicht verärgert dagegen an und wollte in seine Höhle zurückkehren, wurde aber von diesem Vorhaben durch einen erstaunlichen Widerstand aus höheren, dem Barsch unbekannten Regionen, davon abgehalten. Zwischen Haken, Leine und Barsch begann ein Willenskampf. Der Fisch war stark und starrsinnig. Trotzdem wurde er in den nächsten Minuten Stück für Stück in Richtung Oberfläche gezogen, und so sehr der Barsch es auch versuchte, er konnte den harten stechenden Dorn nicht losschütteln, der fest in seiner Kehle steckte. Auf seinem Weg aus der Tiefe in die Höhe erhaschten seine Augen einen Blick auf seltsame Formen in der anderen Welt. Ein rundes Licht leuchtete mit einem wunderschönen Silberschein herunter, das den Barsch fast hypnotisierte. Der Fisch zitterte in seiner Anstrengung, dem Ärgernis, dorthin gezogen zu werden, wo er nicht hinschwimmen wollte, zu entfliehen. In plötzlicher Wut schwollen seine Kiemen an.

Noch ein paar Sekunden, dann würde er an die Oberfläche geholt worden sein. Auf gut oder böse würde er in den Fängen einer anderen Welt landen und sein Fischverstand ein Geheimnis lernen. Und doch widersetzte er sich diesem neuen Wissen, schlug und drehte sich, aber die Leine zog ihn weiter, höher. Im nächsten Moment würde der Barsch durch die Oberfläche brechen und seine Augen kurz vor dem Sterben eine unbekannte Welt sehen, die fremdartig und ganz und gar unwirklich war.

Doch bevor dies geschehen konnte, schoss der Blauhai heran, der die Situation schon seit einer Weile beobachtet und umkreist hatte. Er biss den größten Teil des Barsches ab, sodass am Ende der Leine nur noch der Kopf aus dem Wasser brach. Der Angler im kleinen Ruderboot, der seit guten sechs Minuten damit beschäftigt gewesen war, seinen Fang einzuholen, sah den triefenden Kopf des Barsches und das weiße Kielwasser der Haifischflosse. Mit wütender Miene warf er seine Angelrute hin und stieß mit krächzender, verwitterter Stimme einen derartigen Schrei aus, dass er über das Wasser rollen und sogar die Schläfer auf dem Friedhof der Trinity Church aufwecken mochte.

»Heilig allmächtiger Jäsus aber auch!«, brüllte der alte, wildhaarige Hooper Gillespie. »So was Ungerechtes! Hartherziger Räuber, du! Du sackmieser Gottesfurz! Ungerecht ist das!«

Aber ob ungerecht oder nicht, so war das Leben über und unter der Oberfläche nun einmal.

Nachdem Hooper Gillespie dem längst verschwundenen Hai noch einige ausgesuchte, verschwurbelte Sätze hinterhergeworfen hatte, seufzte er schwer und zog seine fadenscheinige Jacke enger um sich. Seine dichten weißen Haare standen von seinem Kopf in kreisrunden Wirbelausbrüchen und Sträußchen ab, ein unbezwingbares Feld, an dem einstmals die beste Bürste seiner Mutter zu Bruch gegangen war. Aber seine Mutter war inzwischen tot, lange schon, und niemand würde je wissen, dass er in seinem Häuschen ein kleines Tintenporträt von ihr hütete, das aus dem Gedächtnis gemalt war. Das war vielleicht das Einzige, was ihm in diesem Leben etwas wert war. Abgesehen von seiner Angelrute.

Er holte den zerbissenen Kopf ein und löste den Haken. Kurz bevor er die Fischreste ins Wasser warf, sah er den Mond in den sichtlosen Augen des Fisches glänzen und fragte sich, was Fische von der Menschenwelt wussten. Aber es war nur ein vorübergehender Gedanke, eine Art körperloser Schatten. Er drehte sich in seinem Boot um, da er einen Blick auf den Eimer mit dem Fang dieser Nacht werfen wollte: drei kleine Makrelen und ein anständig großer Barsch. Der Wind wurde kälter. Seine Arme waren müde von den Anstrengungen soeben. Es war Zeit, zurück ans Ufer zu rudern.

Von der anderen Seite der Bucht trieb der Klang von Fiedelmusik zu ihm herüber. Es war eine fröhliche und lebhafte Musik, die im alten Hooper eine heiße Welle frischen Missmuts aufsteigen ließ. »Schön für Euch «, grölte er in Richtung der Menschen und Tänze, des Kerzenlichts und Lebens im Allgemeinen. »Ja, Ihr Leute, macht nur Euer buntes Treiben! Mir doch egal, das alles!« Er verstaute seine Angel und begann auf die dunkle Silhouette von Oyster Island zuzurudern. »Ist mir egal !«, sagte er der Welt. »Ich bin ich selbst, das bin ich! Glauben, die kommen damit durch, und ich nass in ‘ner Pfütze. Nein, Sir, das ist noch nicht alles!«

Während des Ruderns wurde er sich bewusst, dass er in letzter Zeit ziemlich viel mit sich selbst zu reden begonnen hatte. »Auch egal!«, sagte er. »Getan ist getan, und was ist, ist! Ist! « Er hielt inne, um bitteren Schleim über Bord zu spucken. »Da, bitte !«, sagte er.

Bis zum letzten Sommer hatte Hooper die Fähre zwischen Manhattan und Breuckelen betrieben. Aber die Gauner vom Fluss – die Hundsfötte seiner Meinung nach –, die der Fähre immer wieder auflauerten und die Passagiere ausraubten, hatten diesen Anstrengungen ein Ende gesetzt. Zumindest Hoopers. Er hatte keine Lust, mit aufgeschlitzter Kehle herumzulaufen. Tatsächlich hatte er sich auf Gouverneur Lord Cornburys erster Bürgerversammlung im Rathaus Gehör verschafft und darauf bestanden, dass Hauptwachtmeister Gardner Lillehorne etwas unternahm, um mit diesem Dreck am Fluss aufzuräumen.

»Und sieh nur, was mir das gebracht hat!«, brüllte er den Sternen zu. »Rudere hier draußen in der Kälte rum und hol mir den Tod, und was hat sich geändert?«

Tatsache war, dass Lillehorne im November die versteckte Bucht der Räuber gefunden und die muntere Bande kleiner Bösewichter hochgenommen hatte. Aber die Arbeit als Fährmann war trotzdem einem jüngeren Mann übertragen worden. Die vielen Türen, die Hooper im Gesicht zugeschlagen wurden, hatten ihn zu dem Gedanken verleitet, dass ein Mann bei gesundem Verstand sich vor dem in Weiberkleider angetanen Cornbury – dem Vetter der Queen und, so konnte man durchaus sagen, selbst ein halbes Weib –, nicht über den Hauptwachtmeister beschweren sollte.

»Aber verrückt bin ich nicht!«, brummte Hooper und ruderte. »Bin im Kopf so gerade und stark wie ‘n neuer Nagel!«

Diese Umstände waren der Grund dafür, dass er sich jetzt dem steinigen Strand von Oyster Island näherte. Die Umstände und natürlich die ungeschönte Tatsache, dass niemand sonst diese Arbeit verrichten wollte. Abgesehen von der kleinen Blockhütte für den Wachmann bestand die Insel hauptsächlich aus einem Dickicht aus Bäumen und Felsbrocken. Dies war Hoopers Arbeit, bereits seit drei Wochen: Als Wachmann den Aussichtsturm an der Südspitze der Insel zu erklimmen und meist die Gezeiten heran- und fortrollen zu sehen, aber auch nach Masten am Horizont Ausschau zu halten. Falls sein Fernrohr eine Kriegsflotte unter holländischer Flagge ins Visier bekommen sollte, wusste er, dass es sich um Hollands aus Eichenplanken gebaute Kriegsschiffe handeln musste, die New York zurückerobern wollten. Sollte das der Fall sein, war er angewiesen, schnell zu der auf den Hafen gerichteten Kanone hinunterzuklettern und einen Warnschuss abzugeben, bevor die Invasoren an Land kamen.

»Als ob ich wüsste, wie man ’ne verdammte Kanone feuert«, sagte Hooper leise bei dem Gedanken. Seine Ruder drückten sich durchs Wasser. Dann hörte er wieder die Fiedelmusik herantreiben und drehte sein Gesicht dem fernen Lampenschein der Stadt zu und grölte: »Bombardieren sollt ich Euch alle, bombardieren und Euch aus den Tanzschuhen knallen! Verpisst Euch!«

Aber wie immer machte sich niemand die Mühe zu antworten.

Seinem zusammengekniffenen Auge fiel etwas auf.

Er sah ein rotes Licht aufblitzen.

Es befand sich hoch oben in der Dunkelheit, vielleicht eine halbe Meile oberhalb der Stadt. Oben am Rand der Wälder, die noch vom Netzwerk der Indianerpfade durchzogen waren. Es war ein rotes Licht, das an und aus blinkte.

An und aus. An und aus.

»Das da ist ‘ne Signallampe, denk ich mal«, sagte Hooper zu sich. Es handelte sich wohl um eine Flamme hinter rotem Glas, vor dem jemand die Hand oder einen Hut hoch- und hinunterbewegte, um das Licht zu verdecken. »Hier kommt die Frage«, sagte Hooper. Dann merkte er, dass er die Frage noch nicht gestellt hatte – und so tat er es: »Wem signalisiert sie?«

Er spähte aufs Meer hinaus, an den rauen Felsen und dem wilden Wald von Oyster Island vorbei.

Weit draußen. Hinten im Dunkeln.

Eine rote Lampe blinkte an und aus. An und aus. An und aus und … weg war sie.

Er drehte den Kopf wieder in Richtung Manhattan, zum dunklen Rand der ungezähmten Wälder. Dort war die rote Signallampe ebenfalls gelöscht worden.

Hooper Gillespie erkannte, dass die Botschaft – worum es sich auch gehandelt haben mochte – übermittelt worden war.

Der Kiel seines Ruderboots schabte über Austernschalen und Steine. Sein Herz hatte gezuckt und gestottert und trommelte jetzt wild, denn ein Gedanke war in seine ungekämmte Birne eingedrungen.

Gedanken musste Hooper so laut wie möglich aussprechen. »Nein, tun sie nicht «, rief er. »Nicht über die Wellen, und der Himmel weiß was, um uns das Blut rauszustechen, das tun sie nicht!« Er sprang aus dem Boot, stieß sich den rechten Stiefel an einem Felsen an und landete mit dem Gesicht voran im Wasser. Spuckend und in einer Sprache fluchend, die kein richtiges Englisch war und von keinem Menschen außer ihm selbst richtig verstanden wurde, kämpfte Hooper sich auf die Beine und rannte durch die kleinen Wellen, die an der steinigen Erde leckten. Er rannte auf einem Pfad, der zum Wachturm führte, an der Kanone vorbei. Unten am Turm stoppte er, um mit dem dort deponierten Streichholzkästchen eine Fackel anzuzünden. Mit der brennenden Fackel kletterte er die wackeligen Holzsprossen nach oben. Die Fackel hoch erhoben lehnte er sich auf der oberen Plattform so weit über das wurmstichige Geländer, wie er sich traute. »Dieser Segen der Freiheit lässt sich nicht bezwingen!«, schrie er dem unbekannten und nicht zu sehenden Schiff entgegen, das dort draußen im Dunkeln lag. Natürlich zeigte die Fackel ihm nichts, aber wenigstens würden die Holländer wissen, dass sie gesehen worden waren. »Kommt schon her, ihr blauärschigen Dreckskerle!«, grölte er. »Funkelt schon, ihr gierigen Glubschaugen!«

Seine Stimme durchschnitt die Nacht, aber die Nacht verschluckte sie und gab nichts zurück.

Die rote Lampe auf See war verschwunden und tauchte nicht wieder auf. Hooper sah zu den Wäldern von Manhattan hinüber. Auch die Lampe war weg. Was immer gesagt worden war, wurde nicht wiederholt. Hooper kaute an seiner Unterlippe und schwenkte Funken sprühend die Fackel. »Hab Euch genau geseh’n, Ihr drecksverräterischen Knochensäcke!«, schrie er. Er erwartete nicht, dass man ihn auf diese weite Entfernung hin hörte, aber es fühlte sich gut an, das loszuwerden. Dann kam ihm ein Bild des Loswerdens . Wenn sich das, was er dachte, ereignen würde, und all die Holländer auf ihren Schiffen gleich mit Kanonen und Entermessern mitten in den Hafen hineinsegeln würden, um zu schießen und zu stechen, dann musste er seiner Pflicht nachkommen und die Bürger warnen. Er eilte die Leiter des Turms wieder hinunter, die Fackel in einer Hand, und stolperte kurz vor dem Boden fast, womit er um ein Haar nicht nur seinem heldenhaften Vorhaben, sondern auch dem gesunden Winkel seines Kopfs auf dem Hals ein Ende gesetzt hätte.

Bei seiner Hütte machte Hooper kurz Halt, um hastig eine Holzkiste zu öffnen, in der ein kleines Beutelchen Schießpulver lag – vielleicht zwei Fingerhüte voll, ausreichend, um ordentlich Lärm zu machen –, sowie eine zwanzig Zentimeter lange Lunte. Er nahm ein Messer, um das Beutelchen aufzuschlitzen. Dann ging er an die Kanone und steckte mit bebenden Händen die Fackel in eine Metallhalterung, die extra dafür dort angebracht war. Brummelnd und sich um New Yorks Zukunft sorgend, wenn die Holländer davon Besitz ergriffen und jeden britischen Mann, Frau und Kind in die Zellen im Bauche ihrer Schiffe warfen, führte Hooper die Lunte ins Zündloch der Kanone ein. Was hatte man ihm gesagt, wie viel davon zum Feuern noch herausschauen musste?, fragte er sich. Er konnte sich nicht erinnern. Er erinnerte sich nur an einen Mund, der sich in einem blassen Gesicht unter einem Dreispitz bewegte, und wie er sich überlegt hatte, Fischen zu gehen, wenn er hier auf der Insel war.

Eine zu ladende Kugel gab es nicht; diese Kanone war nur zum Lärm machen da. Hooper warf einen Blick über seine Schulter auf das nächtliche Meer. Konnte er die Bewegung von hundert Schiffen spüren, die auf die Bucht zukamen? Hörte er das Flattern von Flaggen und Rasseln von Ketten, während die Kanonen bereitgemacht wurden? Aber nirgendwo war Licht zu sehen, kein einziges. Oh, diese Holländer! , dachte Hooper. Diese Teufel der Finsternis!

Er wandte sich seiner Aufgabe wieder mit fieberhafter Zielstrebigkeit zu. Er musste pinkeln, hatte aber keine Zeit, und ließ es deshalb in seine Kniehose gehen. Das war das Mindeste, was ein Held tun konnte. Er stach das Beutelchen Schwarzpulver auf, schüttete das Pulver ins Kanonenrohr und erinnerte sich dann daran, den Ladestock zu benutzen, wie der Mund unter dem Dreispitz ihm erklärt hatte. Er stopfte das Pulver mit einem starken Stoß hinein und stand dann einen Augenblick lang da und versuchte sich zu erinnern, ob er die Lunte mit einem Streichholz anzünden sollte oder mit der Fackel. Er schob die Lunte weit ins Zündloch, sodass der Wind sie nicht herumwehen und ausblasen konnte. Ein Blick nach hinten noch, um sicherzugehen, dass die holländische Armada nicht an Oyster Island vorbeiglitt, und Hooper berührte die Kanonenlunte mit der brennenden Fackel.

Sie sprühte Funken, zischte, und die Flammen krochen an ihr hoch. Hooper machte ein paar Schritte zurück, so wie man es ihm gesagt hatte. Die Lunte brannte ihrem Ende zu. Als sie im Zündloch verschwand, erklang ein Brutzeln wie von bratendem Speck, gefolgt von einem schwachen kleinen Plopp und einem Rauchwölkchen, das so vornehm davonschwebte wie das Spitzentaschentuch einer feinen Dame.

»Das kann doch nicht sein!«, stöhnte Hooper. »Jäsus errette mich, ich hab ‘nen Blindgänger!«

Er spähte ins Zündloch. Kein Funke war zu sehen. Entweder war die Lunte ausgegangen oder das Pulver war feucht geworden. Er ging vor die Kanone und legte sein Gesicht an die Öffnung. Er konnte etwas Brenzliges riechen, aber wo war die Flamme? »Verdamm mich!«, brüllte er, während die Vorstellung seiner Heldentaten für New York in dieser Zeit der Not unter seinen durchweichten Stiefeln zu Asche zerfiel.

Keine drei Sekunden, nachdem Hooper sein Gesicht vor dem Kanonenrohr entfernt hatte, sprühte ein Feuerstrahl aus dem Zündloch und die Kanone schoss.

Schon die Rauchexplosion raubte ihm fast den Verstand. Der Lärm prügelte seine Ohren taub. Wie ein Barsch am Angelhaken nach Luft schnappend, stolperte er nach hinten und fiel auf seinen Hintern. Betäubt sah er blaues Feuer und Funken aus der Kanone zum Himmel aufstäuben. Und dann sah er etwas anderes, das ihm fast jede Strähne seiner wilden Haare vom Kopf springen ließ.

Auf der anderen Seite der Bucht, in der Stadt, explodierte irgendetwas. Anscheinend ein Gebäude in der Gegend der Dock Street. Den Lärm davon konnte Hooper nicht hören, aber er sah rote Flammen hochschlagen. Was es auch sein mochte, es brannte sehr heiß, war in der Mitte ganz weiß. Teile des Dachs brachen ein. Andere Stücke des Gebäudes flogen immer noch empor wie brennende Fledermäuse.

»Oh nein«, flüsterte Hooper, obwohl er sich nicht hören konnte. »Oh nein, oh nein!« Sein erster Gedanke war, dass er nicht daran gedacht hatte und doch eine Kugel in die Kanone gesteckt und etwas getroffen hatte – aber dann fiel ihm ein, dass es keine Kugel in der Kanone gab, und wie zum festgenagelten Jäsus konnte man das vergessen?

Nein, es mussten die Holländer sein. Sie hatten soeben auf New York geschossen und der Krieg hatte begonnen.

Er rappelte sich auf. Es war Zeit, die Insel zu verlassen. Noch gab es nirgendwo ein Anzeichen der Kriegsschiffe zu sehen, keine Gefechtslampen oder flammende Kanonenmündungen. Das war ihm egal. Er rannte zu seinem Ruderboot, das noch auf den Steinen lag. Als er es ins Wasser schob und hineinsprang, erkannte er, dass noch etwas sehr seltsam war.

Die drei kleinen Makrelen und der anständig große Barsch im Eimer …

Die waren fort.

Das Gespenst war‘s gewesen , dachte Hooper. Das Phantom, das hier sein Unwesen trieb. Darum hatte man ihm diese Arbeit gegeben – weil kein anderer sie wollte. Der letzte Wachmann hatte die Insel in der Nacht verlassen, in der sein Mantel von einem Pfosten neben dem Plumpsklo gestohlen worden war. Egal, wer gerade Wachmann war – man war nicht allein. Bisher hatte Hooper noch keine Spur von dem Phantom gesehen, doch hier war sie nun.

»Wie christlich von dir, den verdammten Eimer dazulassen!«, schrie er den potenziell lauschenden Ohren zu, obwohl seine eigenen noch zerknallt waren und klingelten.

Ihm reichte es mit dieser gottverlassenen Insel. Er nahm die Ruder in die Hand und ließ seine drahtigen Muskeln spielen; und mit hämmerndem Herzen und Angst in der Seele und wildem, rauchversengtem Haar ruderte Hooper Gillespie auf Manhattan zu, die roten Flammen im Rücken und das finstere Meer vor sich.