Matthew Corbett tanzte auf den Planken von Sally Almonds Schänke im goldenen Kerzenlicht wie ein zwischen den Steinen in flüssiger Dunkelheit umherhuschender Krebs. Vielleicht war er nicht so unbeholfen wie der Krebs, und vielleicht bewegte er sich mit einer gewissen Eleganz und Stil, aber verbesserungswürdig war seine Technik definitiv. Im größten Raum der Schänke waren die Tische und Stühle beiseitegeschoben und Platz für eine ansehnlich große Zusammenkunft geschaffen worden. Im geziegelten Kamin prasselte ein Feuer, um die Luft zu wärmen, obwohl die Vitalität im Raum ihre eigene Hitze verbreitete. Zwei Geiger spielten, ein Akkordeon wurde gequetscht und ein Trommler klapperte in fröhlichem Tempo seine Knochen. Die imposante, grauhaarige Sally Almond hatte sich höchstpersönlich unter die Feiernden gesellt und klatschte im munteren Takt die Hände.
Die Tänzer wirbelten im Kreis; unter ihnen Matthews Freund, der Schmiedegeselle John Five und seine Braut Constance, der Töpfer Hirman Stokely und seine Frau Patience, die Munthunk-Brüder Darwin und Davy sowie die korpulente, aber erstaunlich leichtfüßige Mutter Munthunk, und Dr. Artemis Vanderbrocken, der sich mit seinen sechsundsiebzig Jahren damit zufrieden gab, hauptsächlich Punsch zu nippen und die Musik zu genießen. Außerdem war Felix Sudbury, der Besitzer der Schänke Trot Then Gallop mit dabei, der Zeitungsdrucker Marmaduke Grigsby, die Bäckerin Madam Kenneday, Effrem Owles, der Sohn des Schneiders und auch ein guter Freund von Matthew, sowie Jonathan Paradine, der Bestatter – ein dünner und blasser Mann, der mehr über den Boden zu schleichen als zu tanzen schien. Seine Verehrte, eine frisch in New York angekommene Witwe namens Dorcas Rochester, war genauso dünn und blass und schlich ebenso wie ihr Galan herum, sodass sie ein gutes Paar abgaben.
Matthew Corbett hatte sich mit seinen dreiundzwanzig Jahren schon in so einigen schwierigen Situationen wiedergefunden. Er hatte den Angriff eines Bären überlebt, dessen Klauen eine sichelförmige Narbe von der rechten Augenbraue bis zum Haaransatz zurückgelassen hatten. Er war einem Dreiergespann von Falken entkommen, die entschlossen waren, ihm auf äußerst unelegante Weise die Augen zu entfernen. Und abgesehen von vielen anderen dramatischen Gefahrenmomenten hatte er es im Kampf mit dem brutalen Mörder Tyranthus Slaughter in einer Mühle tatsächlich geschafft, sich sein Gesicht nicht vom Schädel schälen zu lassen. Aber in diesem Moment, im goldenen Kerzenlicht in Sally Almonds Schänke, beim Klang der Musik und den Schritten der Tänzer, dachte Matthew, dass seine eigenen Füße möglicherweise die gefährlichsten Gegner waren, denen er bisher gegenübergestanden hatte. Denn die Achterfiguren des Reels waren von einer heimtückischen Komplexität und der mit einer üppigen Perücke geschmückte Tanzmeister Gilliam Vincent – der zimperliche Besitzer des Dock House Inn – schwang einen Hickorystock mit einem Lederhandschuh am Ende, den er den Unfähigen auf den Kopf klatschte.
Und kaum, dass Matthew leicht stolperte, fuhren Stock und Handschuh auf ihn nieder. Auf seinem Hinterkopf machte es klatsch . Als Matthew den Kopf drehte, um Gilliam Vincent mit einem finsteren Blick zu bedenken, hatte der Tanzmeister sich schon leichtfüßig davongemacht. Und so bewegte sich auch Matthew davon, weitergedrängt von den anderen Tänzern. Trotzdem trug Mr. Vincent ein Grinsen unter seinem knochigen Riecher, das seine Freude daran verriet, stärker als unbedingt nötig zu korrigieren.
»Beachte ihn nicht!«, sagte Berry Grigsby, als sie im Zuge der rechten Wende neben Matthew auftauchte. »Du machst das gut!«
»Gut ist ein relativer Begriff«, gab er zurück.
»Besser als gut!«, korrigierte sie sich und tanzte an ihm vorbei. »Wunderbar.«
Also das war, dachte er, während er sich in die von dem Reel vorgeschriebene Richtung bewegte, als schälte man eine Zwiebel und sagte, es sei eine Kartoffel. Er drehte sich und sah sich der zweihundertvierzig Pfund schweren Frau namens Mother Munthunk gegenüber, die ihn unter ihrer vorspringenden Nase mit schwarzen Zähnen angrinste. Ihr Atem hätte eine Ziege von den Hufen reißen können.
Ein umwerfender Abend , dachte Matthew, als seine Augen nicht mehr tränten. Er bedauerte, Berrys Einladung angenommen zu haben. Zweimal vorher hatte er abgelehnt. Matthew , hatte sie letzte Woche vor seiner Tür gesagt. Ich werde dich nur noch ein einziges Mal fragen und wenn du nein sagst, werde ich nie – nie – wieder fragen.
Was war ihm da anderes übriggeblieben, als ja zu sagen? Es war ja nicht nur, dass Berry fast eins der zehn Gebote brach, indem sie einen Mann zu einem Treffen einlud, sondern auch, dass der Ton ihrer Stimme und das schwelende Feuer in ihren dunkelblauen Augen andeuteten, sie würde ihn nicht nur nie wieder fragen, sondern auch nie wieder mit ihm sprechen . Was für ihn schwierig werden könnte, da er gleich hinter dem Haus der Grigsbys in einem umgestalteten Kühlhaus lebte und gelegentlich mit Berry und ihrem rundgesichtigen und meist tintenbeschmierten Großvater Marmaduke zu Abend aß. Um also keinen Unfrieden zu säen und aus dem egoistischen Beweggrund heraus, seinen Platz am gastfreundlichen Essenstisch nicht zu verlieren – was konnte er schon tun, außer die Einladung annehmen?
»Und jetzt halbe Drehungen zu dritt!«, verkündete Gilliam Vincent mit einer Miene, die ans Spöttische grenzte. »Dann drehen wir uns nach links, reichen beide Hände, drehen uns einmal ganz im Uhrzeigersinn und nehmen unsere Plätze für das Mad Robin ein!«
Dies sollte angeblich Spaß bringen, dachte Matthew säuerlich. Berry hatte ihm die verschiedenen Tanzpositionen und Schritte letzte Woche beigebracht, aber mit dem Gefiedel und Getrommel und Gilliam Vincents zuschlagbereitem, auf kunstvolle Perfektion bedachtem Stock war es für einen jungen Problemlöser die reinste Tortur. Viel lieber würde er sich den nächsten Zug seiner Schachfiguren überlegen oder auch irgendwo für seinen Arbeitgeber unterwegs sein, die ursprünglich in London gegründete Herrald-Vermittlung.
Weiter! , ermahnte er sich selbst. Seine Füße waren mehr oder weniger so positioniert, wie sie sein sollten. Er überlegte kurz, ob er Gilliam Vincent mit der Faust drohen sollte, falls der Stock sich nochmals seinem Schädel näherte, aber er hatte in letzter Zeit mit so viel Gewalt zu tun gehabt, dass es ihm für ein ganzes Leben reichte.
In seinen Albträumen plagte ihn noch immer Mister Slaughter. In manchen jagte der Mörder ihn über ein finsteres Moor, wo Matthews Füße und Beine im Schlamm versanken und er sich nicht befreien konnte, um schnell weiter zu rennen. Wenn er sich im rötlichen Dunkel des Albtraums umdrehte, sah er die auf ihn zukommende Gestalt und das Glitzern eines Messers in deren rechter Hand. Und dann kam aus der entgegengesetzten Richtung eine andere Figur auf ihn zu: eine löwenartige Frau mit einer Axt in einer Hand und einem Jutesack mit der roten Aufschrift Mrs. Lekas Würstchen – Äußerst Leka unter dem anderen Arm.
»Auf die Positionen für das Mad Robin!«, rief Gilliam Vincent. »Findet Eure Plätze!« Ihr dummen Kinderchen , hätte er genauso gut hinzufügen können.
Matthew bewegte sich, fühlte sich aber immer wieder wie betäubt und unsicher darüber, welches für ihn die richtige Richtung war. Manchmal hatte er das Gefühl, zu einer anderen Welt zu gehören, über die die Menschen in diesem Raum nichts wussten. Manchmal hatte er das Gefühl, als kratzte ein Teil von Mister Slaughter und Mrs. Leka tief innen an seinen Eingeweiden, obwohl beide tot waren, als wäre er der Eingang zu ihrem Grab und als wollten sie ihn verzweifelt öffnen, damit sie zu den Lebenden zurückkehren konnten. Denn in gewisser Weise war er jetzt mit ihnen verbrüdert.
Er war ein Mörder.
Sicher, Tyranthus Slaughter war dem Zusammenspiel von Matthews Anstrengungen, denen des rachesüchtigen Jungen Tom Bond und des irokesischen Spurenlesers Wanderer in zwei Welten erlegen. Aber Matthew hatte Lyra Leka mit einer Axt einen wichtigen Teil ihres Kopfes von ihren Schultern abgetrennt, und er würde den hasserfüllten Ausdruck ihres blutüberströmten Gesichts nie vergessen, oder wie diese roten Bäche aus ihr herausgeströmt waren. Jener grausige Keller allein war eine derartig furchtbare Erinnerung, dass ein Mann davon verrückt werden konnte. Seit jeher konnte Matthew nicht mehr im Dunkeln schlafen. Eine Kerze – oder besser noch, zwei – musste die ganze Nacht hindurch neben seinem Bett brennen.
»Mit mehr Schwung!«, befahl Vincent. Die Locken seiner Perücke waren so voluminös wie Baumwollflocken. »Corbett, wacht auf!«
Er war doch wach, oder nicht? Wenn er an diese schrecklichen Dinge dachte, legte sich ein Nebel über die Realität wie schmutziges Glas. Er erinnerte sich, mit Sally Almond darüber gesprochen zu haben, wie die begeisterten Anhänger von Mrs. Lekas Würstchen reagiert hatten, seit es keine würzigen Leckerbissen mehr auf den dunkelroten Tellern – Indianerblut wurden sie genannt – von Hiram Stokely gab, mit denen er Madam Almond belieferte. Die meisten finden sich gut damit ab , hatte die Dame ihm erklärt. Aber ein paar, die geradezu versessen auf diese Würstchen gewesen waren, haben mir gesagt, dass sie nachts schwitzen und nicht richtig schlafen können.
»Sie werden schon darüber hinwegkommen«, hatte Matthew geantwortet. Doch er dachte, dass er sich die Namen dieser versessenen Wurstliebhaber besorgen sollte, damit er sie auf den Straßen und in den Gassen New Yorks unbedingt meiden konnte.
Es ist äußerst schade, dass Mrs. Leka so plötzlich außer Landes gegangen ist , sagte Sally Almond.
»Ja, und höchstwahrscheinlich irgendwohin ohne Wiederkehr«, hatte Matthew zurückgegeben und Madam Almond mit einem verdutzten Stirnrunzeln stehengelassen, bevor sie abschließend die Schultern gezuckt und in ihre Küche zurückgekehrt war.
»Und eins! Und zwei! Und drei! Und warten! «, rief der Perücke tragende Tyrann, der sein Bestes tat, um aus einem angenehmen Zeitvertreib eine mühsame Qual zu machen. Matthew Corbett war an diesem Abend in einen einfachen dunkelblauen Anzug mit einem weißen Hemd und weißen Strümpfen gekleidet, die Schuhe zu höflichem Glanz gewienert. Er hatte kein Interesse mehr daran, sich fesch zu kleiden wie noch im Herbst. Er war mit seiner momentanen Position im Leben ganz und gar zufrieden: als Ermittler für die Herrald-Vermittlung viele verschiedene Aufgaben zu verrichten, manchmal so Alltägliches wie die Zustellung von Grundbuchpapieren an gewisse Personen, und an anderen Tagen so Interessantes wie diesen Dezember der Fall um die vier Laternenanzünder. Fälle wie der um Lord Mortimer, den wohlhabenden Mann, der Matthew angeheuert hatte, um dem Tod zu entkommen, und die kniffelige – und doch auf traurige Weise lustige – Situation, der Lady Pink Manjoy sich ausgesetzt sah, hatten Matthew geholfen, Abstand zu den mit Slaughter verbundenen Widerwärtigkeiten zu finden. Trotzdem hatte er das Gefühl, noch einen sehr langen Weg vor sich zu haben.
Er bewegte sich im Strom der Tänzer und spürte trotzdem, wie er sich von ihnen entfernte. Selbst als Berry erneut an ihm vorbeitanzte und ihn mit einem langen Blick taxierte, konnte er nichts anderes als die Tatsache sehen, dass er einen Menschen getötet hatte. Sein Leben mochte gegen das schreckliche Leben von Mrs. Leka gestanden haben, aber dennoch … Er erinnerte sich, wie er seinen Freund Wanderer in zwei Welten gefragt hatte: Wieso bist du verrückt?
Und die Antwort des Indianers, die Matthew in seinem Zustand jetzt viel passender vorkam: Ich weiß zu viel.
Matthew war groß und schlank, hatte etwas von der Zähigkeit eines Schilfrohrs. Gewiss, nun war er mit den Vorteilen, sich dem Strom der Ereignisse zu beugen, bekannt. Er hatte ein hageres Gesicht mit einem langen Kinn und einen Schopf feiner schwarzer Haare, der für die Höflichkeiten dieses Abends gebürstet und gezähmt war. Seine blasse, kerzenbeleuchtete Miene verriet sein Interesse an Büchern und spätabendlichen Schachpartien im Trot Then Gallop . Seine kühlen grauen Augen mit ihrer Andeutung von Dämmerungsblau dachten an diesem Abend an Themen, in denen es mehr um Fleisch und Blut als um Musik und Tanz ging. Und doch war er hier in gewisser Weise auf einer Mission.
Als er und sein Ermittlerkollege Hudson Greathouse von Tyranthus Slaughter angegriffen und in den Ruinen eines holländischen Forts in einem Brunnen gelandet waren, hatte Matthews Erinnerung an die hübsche, intelligente, künstlerische und sehr eigensinnige junge Frau, die soeben an seiner rechten Schulter vorbeigetanzt war, ihm beim Kampf gegen den Tod und dabei, seinem Freund das Leben zu retten, Kraft gegeben. Er hatte an sie gedacht, als er wieder und wieder versucht hatte, wie eine Spinne den Brunnenschacht zum Rand hochzuklettern, der zeitweise in so weiter Ferne wie Philadelphia zu liegen schien. Während jenes Überlebenskampfes hatte er sich geschworen, sie zu einem Tanz einzuladen, wenn er überleben sollte. Und er hatte geschworen, den Tanzboden aus Freude über das wiedergewonnene Leben zu Sägespänen zu zertanzen. Vielleicht war es Berry gewesen, die die Einladung ausgesprochen hatte, und das Tanzen reglementierter, als er es gern hätte, aber er meinte, dank ihr noch zu leben. Und deshalb war er hier – tanzte alle Paardrehungen des Reels mit ihr – und auf seine eigene Art und Weise ekstatisch darüber, weiterhin zu den Bewohnern dieser Erde zu zählen.
Als Berry daher in der nächsten Runde an ihm vorbeitanzte – mit den kupferroten Locken, blauen Augen und dem offenen Gesicht, neunzehn Jahre alt mit Sommersprossen auf der Nase und einem Spalt zwischen den Schneidezähnen, den Matthew nicht nur niedlich, sondern auch erregend fand –, schaute er sie an und lächelte. Sie lächelte zurück. Er fand, dass sie in ihrem seegrünen Kleid mit den lila Schleifchen vorn geradezu strahlte. Vielleicht schlich sich ein Gedanke an ihre Lippen ein, wie sie wohl schmecken würden, wenn man sie küsste, und überraschte ihn so, dass er die Schrittfolge verlor. Er stolperte gegen Effrem Owles, und plötzlich war der rügend dreinschauende Gilliam Vincent neben ihm und der Stock sauste nieder, um Matthews Kopf mit dem Lederhandschuh zu kasteien.
Aber noch bevor der Handschuh zuschlagen konnte, traf das harte Hickoryholz im Niederfahren auf Widerstand in Form eines knorrigen schwarzen Gehstocks. Das leise Knack von Holz auf Holz klang wie die Hörner zweier kämpfender Widder.
»Mr. Vincent?« Hudson Greathouse war aus der Menge von vielleicht zwanzig Menschen getreten, die diesem langsamen Sterben zusahen, das sich Tanz schimpfte. Er sprach leise, sodass nur Matthew und der Tanzmeister es hörten. »Habt Ihr schon mal einen Handschuh im Arsch stecken gehabt?«
Vincent stotterte. Seine Wangen wurden rot. Vielleicht lautete die Antwort: Ja . Es war schwer zu sagen.
Jedenfalls wurde der Hickorystock gesenkt.
»Pause, liebe Leut!«, verkündete Vincent. »Pause, bitte!« Und dann, zu niemandem insbesondere: »Ich gehe nach draußen, frische Luft schnappen!«
»Wegen uns braucht Ihr Euch nicht extra zu beeilen«, sagte Greathouse, als Vincent mit wackelnder Perücke von dannen zog.
Der kleine Tumult verursachte einen Aussetzer in der Musik, man kam aus dem Takt und die Reel-Tänzer stolperten und prallten gegeneinander wie eine Wagenkarawane, die ihre Räder verloren hat. Anstelle der Entrüstung, in die Vincent angesichts dieser mangelhaften tänzerischen Manieren verfallen wäre, riefen die Kollisionen sowohl tiefes als auch silberhelles Gelächter hervor und enthüllten damit die wahre Tiefe der Freundschaften unter den Mad Robins von New York.
Die Musiker beschlossen, ihren Geigen, Trommeln und Akkordeons eine Pause zu gönnen. Die Tänzer zerstreuten sich, um sich im angrenzenden Raum am Tisch mit Apfelmost und Zuckerkuchen zu bedienen. Berry kam zu Greathouse und Matthew herüber und sagte mit bemerkenswerter Großzügigkeit zu dem jüngeren Mann: »Du machst das sehr gut. Besser als zuhause beim Üben.«
»Danke. Meine Füße glauben dir nicht, aber danke trotzdem.«
Sie warf einen schnellen Blick auf Greathouse und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf Matthew. »Apfelmost?«, fragte sie.
»Gleich.« Matthew war sich bewusst, dass er an diesem Abend keine besonders gute Gesellschaft abgab. Vielleicht lag es daran, dass er gerade die Mallorys gesehen hatte – den teuflisch gutaussehenden Arzt Jason mit den Gentleman-Manieren und seine schöne schwarzhaarige Gattin Rebecca. Sie standen auf der anderen Seite des Raums und taten, als unterhielten sie sich. Aber sie ließen Matthew nicht aus den Augen. Seit er von der Jagd nach Mr. Slaughter zurückgekehrt war, schienen ihm die beiden ständig zu begegnen.
Wir haben einen gemeinsamen Bekannten , hatte Rebecca Mallory eines Tages zu Matthew an einer ruhigen Straße im Hafen gesagt, während ihr Mann stumm Wache hielt. Wir glauben, er würde sich freuen, Eure Bekanntschaft zu machen.
»Wenn Ihr so weit seid, in ein oder zwei Wochen, würden wir gern sehen, dass Ihr uns besucht« , hatte die Frau gesagt. »Werdet Ihr kommen?«
»Was ist, wenn ich nicht komme?«, hatte Matthew entgegnet. Denn er wusste genau, auf welchen Bekannten Rebecca Mallorys Anspielungen sich beziehen mussten.
»Kommt, wir wollen nicht unfreundlich miteinander sein, Matthew. In einer Woche oder zwei. Wir werden die Tafel decken, und wir werden Euch erwarten.«
»Ich jedenfalls trinke gern einen Apfelmost mit Euch, Berry!«, sagte Effrem Owles und drängte sich in seinem Eifer, den Duft des Mädchens einzuatmen, an Matthew vorbei. Seine Augen hinter der Brille waren groß und rund. Er, der Schneidersohn, war mit seinem schwarzen Anzug, weißem Hemd und weißen Strümpfen einfach aber elegant gekleidet. In seinem flatterhaften Lächeln strahlten die Zähne. Obwohl Effrem erst zwanzig Jahre alt war, durchzogen graue Strähnen seine braunen Haare. Er war groß und dünn; schlaksig wäre wohl das passende Wort. Er war ein ausgezeichneter Schachspieler, doch an diesem Abend galt sein einziges Spiel Amor. An diesem Abend klammerte er sich offenbar an die Hoffnung, dass Berry ihm die Gunst schenken würde, sie beim Apfelmosttrinken und Zuckerkuchenessen zu beobachten. Effrem war verliebt. Nein, mehr als verliebt , dachte Matthew. Effrem war von Berry besessen. Er redete ohne Unterlass über sie und wollte alle Einzelheiten ihres Kommens und Gehens wissen, und ob Matthew je ein gutes Wort für ihn eingelegt und gesagt hatte, wie viel Geld ein guter Schneider verdienen konnte, und derartigen Unsinn. Mit Effrem und dem exzentrischen, wenn auch sehr effizienten Leichenbeschauer der Stadt Ashton McCaggers hatte Berry ihre Auswahl an glühenden Verehrern.
»Tja …« Berrys Tonfall nach handelte es sich nicht nur um ein tiefsinniges Thema, sondern auch eins, das sie stark verwirrte. »Matthew, ich dachte …«
»Geh nur«, sagte Matthew zu ihr, wenn auch nur, weil er befürchtete, dass Effrem ihm auf den Ärmel sabbern würde. »Ich komme gleich nach.«
»Famos!«, sagte Effrem, der sich für den Marsch in den anderen Raum an Berrys Seite schob. Sie ging mit ihm, weil sie Effrem mochte. Nicht auf die Weise, auf die er gemocht werden wollte, sondern weil Matthew ihn zu seinen guten Freunden zählte und sie in Effrem die Treu von Freundschaft sah, die Berry zu den höchsten Gütern dieser Welt rechnete. Als Berry und Effrem gingen, lehnte Hudson Greathouse sich leicht auf seinen Stock, legte den Kopf schief und bedachte Matthew mit einem Grinsen, das genauso schief war. »Verzieh mal den Mund«, riet er ihm. »Was ist denn los mit dir?«
Matthew zuckte die Schultern. »Ich bin wohl nicht zum Feiern aufgelegt.«
»Dann bemühe dich drum. Mein Gott, Junge! Ich bin derjenige, der nicht mehr tanzen kann! Und ich kann dir sagen, dass ich in jüngeren Jahren ordentlich das Tanzbein geschwungen habe. Also rühre dich, solange du noch kannst!«
Matthew starrte auf das Stück Fußboden zwischen ihnen. Manchmal fiel es ihm schwer, Hudson ins Gesicht zu sehen. Durch seine Geldgier und aus einer schlechten Entscheidung heraus hatte Matthew Greathouse und sich selbst Slaughter ausgeliefert. Sicher, Greathouse konnte sich mithilfe seines Gehstocks gut bewegen, und an Tagen, an denen er sich wie ein Hengst und nicht ein Wallach fühlte, auch ganz ohne Stock gehen. Aber viermal in den Rücken gestochen zu werden und dann fast zu ertrinken, ließ einen Mann altern, machte ihn langsamer, hielt ihm die bittere Wahrheit seiner eigenen Sterblichkeit vor Augen. Natürlich war Greathouse stets ein Mann des Zupackens gewesen und kannte daher das Risiko, sich Gefahren in den Weg zu stellen. Aber Matthew gab seiner eigenen Verlogenheit immer noch die Schuld für die Dunkelheit, die sich manchmal wie ein Schatten über Greathouses Gesicht legte und die schwarzen, tiefliegenden Augen des Mannes noch dunkler machte und die Fältchen um sie herum zahlreicher. Allerdings war selbst ein zusammengestutzter Hudson Greathouse noch eine Kraft, mit der man rechnen musste – sollte es jemand wagen, ihn auf die Probe zu stellen. Nicht viele würden dies tun. Er hatte ein auf raue Art gutaussehendes, markantes Gesicht und trug seine dichten eisengrauen Haare zu einem mit schwarzem Band zusammengebundenen Zopf. Er war fast zwei Meter groß, hatte breite Schultern und einen ausladenden Brustkorb und eine ebenso ausladende Gestik; er wusste, wie man ein Zimmer eroberte, und mit seinen achtundvierzig Jahren – am achten Januar war sein Geburtstag gewesen – besaß er die ausgefuchste Lebenserfahrung eines Menschen, der sich nicht unterkriegen lässt. Und das war gut so, denn die Wunden und der Gehstock hatten ihn weder seine Arbeit für die Herrald-Vermittlung niederlegen lassen, noch seine Anziehungskraft auf diverse New Yorker Frauen geschmälert. Sein Modegeschmack war einfach, wie sein grauer Anzug, das weiße Hemd und die weißen Strümpfe über den ungeputzten schwarzen Stiefeln attestierten, die wussten, wie man Tritte verteilte, wenn es darauf ankam. Matthew fand, dass Mr. Vincent sich glücklich schätzen konnte, lediglich mit einer Beleidigung aus dem Raum entkommen zu sein. Denn seit Matthew Greathouse das Leben gerettet hatte, war dieser sein bester Freund und heftigster Beschützer. Einen Streitpunkt gab es trotzdem.
»Bist du tatsächlich ein so großer Idiot?«, fragte Greathouse.
»Wie bitte?«
»Stell dich nicht dumm. Ich rede von dem Mädchen.«
»Dem Mädchen«, wiederholte Matthew betäubt. Er sah zur Seite, um zu prüfen, ob Doctor Jason und die schöne Rebecca immer noch ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihn konzentrierten, aber die Mallorys waren ein paar Schritte weitergegangen und unterhielten sich mit dem rotgesichtigen Zuckerhändler Solomon Tully, dem mit den dritten Zähnen samt Zahnrädern aus der Schweiz.
»Dem Mädchen «, betonte Greathouse. »Merkst du nicht, dass sie auf dich aus ist?«
»Wieso aus?«
»Na, aus !« Greathouses zusammengezogene Augenbrauen waren ein beunruhigender Anblick. »Jetzt weiß ich, dass du zu viel arbeitest! Ich hab’s dir ja gesagt, oder nicht? Nimm dir Zeit zu leben .«
»Meine Arbeit ist mein Leben.«
»Hm«, machte Hudson. »Das kann ich mir gut als Inschrift für deinen Grabstein vorstellen. Also, ehrlich, Matthew! Du bist jung ! Weißt du nicht, wie jung du bist?«
»Darüber hab ich mir noch keine Gedanken gemacht.« Ah, ja! Jetzt kam wieder ein schneller Blick von Rebecca Mallory. Was ihr auch durch den Kopf gehen mochte, Matthew wusste, dass sie ihn nie weit aus ihren Gedanken ließ. Natürlich war Matthew nach den Geschehnissen, die auf die Tode von Slaughter und Leka folgten, klargeworden, dass die Mallorys irgendetwas mit der Person zu tun hatten, die zu einem finsteren Stern am Horizont von Matthews Welt geworden war: Professor Fell, Kaiser des Verbrecherreichs von Europa und England. Und jetzt von dem Wunsch besessen, die Neue Welt zu kontrollieren, indem er sie in seinen Würgegriff schloss wie die Arme des Kraken, der sein Symbol war.
Wir haben einen gemeinsamen Bekannten , hatte Rebecca Mallory gesagt.
Matthew hegte keinerlei Zweifel daran, dass die Mallorys Professor Fell näher kannten als er. Alles, was er über den Mann wusste, war, dass er eine Unmenge ruchloser Pläne verfolgte – von denen Matthew bereits ein paar ins Wanken gebracht hatte –, und dass Professor Fell vor einiger Zeit das Leben des jungen Problemlösers mit einer Blutkarte abgestempelt hatte, einem blutigen Fingerabdruck, der bedeutete, dass Matthew für einen bestimmten Tod auserkoren war. Ob diese Bedrohung noch bestand oder nicht, wusste er nicht. Vielleicht sollte er einfach den Raum durchqueren und die Mallorys fragen?
»Du lenkst ab von dem, was ich gesagt habe.« Greathouse bewegte sich und stand nun zwischen Matthew und dem gutaussehenden Pärchen, das Geheimnisse hütete. Matthew hatte seinem Freund gegenüber nichts davon erwähnt; bisher gab es keinerlei Grund, ihn in diese Intrigen hineinzuziehen. Besonders, da der große Mann jetzt nicht mehr seine volle Größe besaß und in seiner verletzbaren Haut menschlicher geworden war. »Und falls du denkst, was ich denke, dass du denkst, hör auf , das zu denken.«
Matthew sah Greathouse in die Augen. »Und was soll das sein?«
»Du weißt schon. Dass du immer noch bedrückt bist und dir die Schuld gibst und all das. Es ist passiert, es ist vorbei und fertig. Ich an deiner Stelle hätte vielleicht das Gleiche getan. Zur Hölle auch«, knurrte er, »ich bin mir sicher , ich hätte das Gleiche getan. Mir geht’s gut, das kannst du mir glauben. Lass das endlich los und kehre ins Leben zurück. Und ich meine nicht nur lauwarm, sondern ganz und gar . Hörst du?«
Matthew hörte. Greathouse hatte recht; es war an der Zeit, diese Dinge der Vergangenheit loszulassen, denn sie verdarben sowohl seine Gegenwart als auch seine Zukunft. Vielleicht würde es noch eine Weile dauern, bis er wieder ganz da war, aber er zwang sich zu antworten. »Ja.«
»Braver Junge. Braver Mann , meine ich.« Greathouse lehnte sich näher an ihn heran. Seine Augen fingen das Kerzenlicht ein und glitzerten mit teuflischem Humor. »Hör mal«, sagte er leise. »Das Mädchen mag dich. Das weißt du. Sie ist eine ansehnliche Jungfer, sehr ansehnlich sogar, und sie könnte einen Mann in Wallung bringen, wenn du verstehst, was ich meine. Und ich sag dir, in dem Bereich versteckt sie mehr, als sie preisgibt.«
»In welchem Bereich?« Fast gegen seinen Willen spürte Matthew ein Lächeln an seinen Mundwinkeln ziehen.
»Im Liebesbereich .« Es kam wie ein Flüstern heraus. »Du weißt doch, was man sagt: Ein Spalt in den Zähnen, und im Bett gibt’s nichts zu gähnen.«
»Ach, sagt man das?«
»Ja. Definitiv .«
»Hudson? Hier seid Ihr!« Diese Worte kamen von einer Frau, die mit raschelnden zitronengelben Röcken und amüsierter Miene auf sie zuging. Sie war groß und schlank mit einem vollen Schopf blonder Haare, der entgegen der respektablen Damenmode frei auf ihre bloßen Schultern fiel – was eine Menge über ihren Charakter und die Zukunft der modernen Frau aussagte. Als Matthew unten an ihrer Kehle einen kleinen herzförmigen Leberfleck entdeckte, dachte er, dass man diese recht freizügige Frau im längst verfallenen Fount Royal sofort als Hexe aufgegriffen hätte. Er bezweifelte, dass sie sich fromm an den Galgen hätte führen lassen. Sie stellte sich neben Greathouse und ging so weit, ihm ihren Arm um die Schultern zu legen. Dann starrte sie Matthew mit ihren warmen, einladenden braunen Augen an und sagte: »Dies ist der junge Mann.« Keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Matthew Corbett, dies ist die Witwe Donovan«, stellte Greathouse sie vor.
Sie streckte ihm ihre unbehandschuhten Finger entgegen. »Abby Donovan«, sagte sie. »Ich bin letzte Woche aus London eingetroffen. Hudson hat mir sehr geholfen.«
»Er hilft gern«, sagte Matthew. Seine Hand würde den bemerkenswert festen Händedruck dieser Frau nicht so schnell vergessen.
»Stimmt, aber er entfleucht einem so leicht. Besonders, wenn er sagt, man soll sich einen Apfelmost holen und er käme in einem Moment nach. Ich glaube, ein Moment ist für Hudson nicht dasselbe wie für andere Männer.« Dies alles wurde mit dem Hauch eines verschmitzten Lächelns gesagt, während die braunen Augen nicht vom Mann der Stunde wichen.
»War es noch nie«, gestand Greathouse. »Wird’s auch nie sein.«
»Ich gebe zu, er ist etwas Besonderes«, sagte Matthew.
»Ja, das weiß ich!«, antwortete die Dame. Als ihr Lächeln sich fast zu einem Lachen verbreiterte, wurde ein Spalt zwischen ihren Schneidezähnen sichtbar, gegen den Berrys geradezu unscheinbar war. Es schockierte Matthew, dass sein erster Gedanke war, was dort alles hineinpassen würde. Dann lief sein Gesicht rot an und er musste sich die Schläfen mit seinem Taschentuch abtupfen.
»So nah am Feuer ist es wirklich warm«, bemerkte die Witwe Donovan. Matthew spekulierte, dass sie ihren lieben verstorbenen Gatten im Bett zu Asche verzehrt hatte. Aber jetzt war es an Greathouse, sich den Flammen zu stellen, denn die Frau stand dicht neben ihm und betrachtete verlangend sein Profil. Matthew fragte sich, wie eine Woche für manche so intensiv heiß und gleichzeitig so tiefgefroren wie blaues Eis für andere vergehen konnte.
»Entschuldige uns«, sagte Greathouse schließlich. Er verlagerte sein Gewicht, vielleicht, weil er seine steifen Glieder in eine andere Position bringen musste. »Wir gehen jetzt.«
»Lass dich von mir nicht aufhalten«, sagte Matthew.
»Oh«, erwiderte die Frau und hob ihre blonden Augenbrauen. »Wenn Hudson loslegt, kann ihn keiner mehr aufhalten.«
Eine Woche! , dachte Matthew. Während er sich über die körperlichen Einschränkungen von Greathouse Gedanken gemacht hatte! Es mochte stimmen, dass Greathouse vielleicht nicht mehr tanzen konnte. Zumindest nicht im Stehen. Aber ansonsten …
»Einen schönen Abend noch«, sagte Greathouse, und er und seine neue Kleine – oder eher Große, denn sie musste wohl Ende dreißig sein, war aber für ihr Alter sehr erquicklich anzusehen – verließen den Raum in so perfektem Gleichmarsch, wie er zwei Menschen, die nicht zu einer Militärparade gehörten, nur gelingen konnte. Dann schossen Matthew Gedanken an gewisse andere Ursachen eines steifen Schritts durch den Kopf und er hatte wieder einen roten Kopf, als eine weibliche Stimme neben ihm leise fragte: »Matthew?«
Er drehte sich um und erblickte eine Person, deren Erscheinen er nicht vor dem unerreichbar weit entfernten 21. Jahrhundert erwartet hätte.