Kapitel 3

 

Das Mädchen hielt ihre zusammengeklammerten Hände vor sich und verriet damit, dass sie entweder nervös oder in Bittstellung war. »Seid gegrüßt, Matthew«, sagte sie mit einem zitternden Lächeln. »Ich hab getan, was Ihr gesagt habt. Ich bin gekommen, um die Stone Street 7 zu finden.« Sie schluckte hart. Ihr blauer Blick, den er als von Energie prasselnd in Erinnerung hatte, wirkte jetzt schüchtern und ängstlich, als wäre sie sicher, dass er sie vergessen haben musste. »Entsinnt Ihr Euch nicht? Ich bin …«

»Opal Delilah Blackerby«, sagte Matthew. Natürlich erinnerte er sich. Sie war eine der Dienstmägde im Paradies für Alte gewesen, dem Gefängnis aus Samt – wie sie es genannt hatte –, das Lyra Leka unter der Namen Gemini Lovejoy geführt hatte. Hätte es Opal nicht gegeben, wäre das schwarze Herz von Lyra Lekas Unternehmen nicht enthüllt worden und Tyranthus Slaughter läge jetzt nicht unter der Erde. Daher verdiente dieses tapfere junge Mädchen alles Lob der Welt, fand Matthew. Sie hatte tatsächlich ihr Leben riskiert, um ihm zu helfen.

Er streckte die Arme aus und nahm ihre Hände, schenkte ihr dabei sein wärmstes Lächeln. »Seit wann bist du hier? In New York, meine ich.«

»Erst einen Tag«, antwortete sie. »Also, noch keinen ganzen Tag. Ich weiß, Ihr meintet, ich soll zu diesem Haus Nummer sieben kommen, aber mir war nicht wohl, da einfach anzuklopfen. Dann hab ich in der Stadt gefragt, wem das Haus gehört, und jemand hat mir Euren Namen gesagt. Und dann hab ich den Tanz hier in der Zeitung ausgeschrieben gesehen und dachte, vielleicht …« Sie zuckte die Achseln, unfähig zu erklären, warum sie gekommen war.

»Ich verstehe.« Matthew erinnerte sich, dass sie das Mädchen war, das sich im Paradies nach Wärme gesehnt hatte. Vielleicht war ein Tanz der Ort, wo sie diese an einem kalten Winterabend in New York finden konnte. Als Dank für ihre Hilfe hatte er ihr einen Goldring mit einem kleinen roten Edelstein geschenkt, der vielleicht ein Rubin war, vielleicht auch nicht. Was für ein Stein es auch war, der Ring stammte aus Slaughters verstecktem Schatz, der Matthew und Greathouse fast in den Tod geführt hatte.

»Es freut mich, dich zu sehen«, sagte Matthew und meinte jedes Wort. Er musterte sie kurz und sah, dass sie sich entschieden hatte, ihr Äußeres ein wenig zu verändern, indem sie die kleinen Metallringe, die ihre Unterlippe und den rechten Nasenflügel verziert hatten, entfernt hatte. Sie war klein, schlank und drahtig, und als Matthew sie kennengelernt hatte, war sie vor was man als unanständige Gelüste bezeichnen konnte fast aus den Schuhen gesprungen. Jetzt trug sie ihre kohlschwarzen Haare zurückgekämmt und mit einem braven Schildpattkamm verziert. Ihre blauen Augen, die so darauf aus gewesen waren, Matthew im Paradies zu einem Stelldichein hinter die Kirche in den Wald zu locken, wurden von nachhaltigen Zweifeln überschattet – daran, ob sie hier oder in der Stone Street 7 willkommen war, nahm Matthew an. Sie trug ein graues Kleid mit weißem Kragen, nicht unähnlich ihrer Uniform im Paradies. Dies warf in Matthew die Frage auf, ob sie den Goldring und roten Stein überhaupt für Geld eingetauscht hatte. Er wollte sie gerade danach fragen, als die Hölle losbrach.

Oder zumindest ein kleiner Teil der Hölle, der sich auf den angrenzenden Raum beschränkte, denn im nächsten Moment ertönte ein gewaltiges Krachen, das Geräusch von zerbrechendem Glas und ein Männer- und Frauenchor überraschter Aufschreie. Matthews erster Gedanke war, dass der Fußboden eingebrochen war oder dass eine Kanonenkugel in die Decke eingeschlagen hatte.

Er stürzte an Opal vorbei, um zu sehen, was geschehen war, und sie folgte dicht hinter ihm.

Die Bohlen waren noch intakt und keine Kanonenkugel war aus der Nacht geflogen gekommen, aber etwas Schreckliches war definitiv passiert. Der Tisch, auf dem die edle Glasschale mit dem Apfelmost, die Keramiktassen und Indianerblutteller mit dem Zuckerkuchen gestanden hatten, war einfach wie ein Pferd mit gebrochenem Bein umgestürzt. Apfelmost rann wie ein Hochwasser führender Bach über den Fußboden. Der Zuckerkuchen würde unter den Füßen sowohl der Ladys als auch der Gentlemen zertreten. Überall waren Glas und zerbrochenes Geschirr. Chaos herrschte.

»Ich schwöre es!«, wurde die gepeinigte Stimme von Effrem Owles laut. »Ich hab mich kaum auf den Tisch gestützt! So gut wie gar nicht!«

Matthew sah Berry neben Effrem stehen und bis unter die Haarwurzeln erröten. Ihre Augen hatten sich angesichts der Situation verdunkelt. Er wusste, was sie dachte: Es lag an ihrem Pech, das schon so viele ihrer Verehrer so vieles gekostet hatte und ihr Leben auch sonst durch eine Serie unglücklicher Zufälle kompliziert gestaltete. Ihr Pech war erwacht und hatte – wie Mr. Vincents Handschuh – einen Schlag auf den Kopf des armen, unschuldigen Effrem ausgeteilt. Und was für einen Schlag! Für jemanden, der meistens äußerst schüchtern war und nie im Mittelpunkt stehen wollte, war dies wahrlich Effrems Albtraum. Und wo er doch versuchte, Berry zu beeindrucken! Matthew tat dieser Gedanke im Herzen weh und der Anblick noch mehr.

»Es macht nichts! Wir richten es wieder!«, sagte Sally Almond, die bereits eine Magd anwies, ein Wischtuch zu bringen.

Aber Matthew sah, wie Effrem hinter seinen Brillengläsern vor Scham die Tränen in die Augen stiegen. Er wollte einen Schritt auf seinen Freund zugehen und ihm eine tröstende Hand auf die Schulter legen, wurde aber fast von Opal Delilah Blackerby beiseite gestoßen, die in die Apfelmostströme trat, sich auf den Boden kniete und die zerbrochenen Glasstücke in ihre Schürze zu sammeln begann.

»Opal!«, sagte Matthew und stieß sich zu ihr durch. »Was machst du da?«

Sie sah zu ihm auf und dann zu Sally Almond, die sie ebenso erstaunt anstarrte. Opal stand auf, die Glasscherben auf ihrem Rock umklammernd. Ihre Augen hatten einen benommenen Ausdruck, als hätte sie einen Moment lang vergessen, wo sie war. »Oh!«, sagte sie zu Matthew. »Verzeiht! Ich wollte nur … ich meine … ich bin es so gewohnt, sauberzumachen … ich wollte nur … das ist halt, was ich tue, versteht Ihr

»Ihr seid ein Gast hier«, sagte Sally. »Und keine Magd.«

»Jawohl, Ma’am.« Opal runzelte verwirrt die Stirn. »Entschuldigt, aber … ich glaube, ich weiß nicht, wie man ein Gast ist.« Sie hielt immer noch die Vorderseite ihres Kleides mit den Glasstücken hoch, und als die Scheuermagd kam, um den verschütteten Most mit einem Stapel Tücher aufzuwischen, streckte Opal die Hand aus, um eins davon zu nehmen. Überrascht wich das Mädchen ihr aus.

»Opal!«, sagte Matthew und packte sie am Ellbogen. »Niemand erwartet von dir, dass du für jemand anderes saubermachst. Komm, wir stehen im Weg.«

»Aber … Matthew«, sagte sie. »Das ist, was ich arbeite . Auch grad erst gestern, in ‘ner Schänke an der Poststraße. Ich meine … was anderes hab ich noch nie gearbeitet. Oh«, machte sie und blickte auf die Finger ihrer rechten Hand. Sie bluteten. »Ich muss mich wohl ’n bisschen geschnitten haben.«

Matthew zog sofort sein Taschentuch heraus. Aber er war nicht schnell genug.

»Hier, Miss! Lasst mich mal sehen!«

Und Matthew wurde Zeuge eines ganz und gar unerwarteten Ereignisses. Als Opal Delilah Blackerbys blaue Augen in die braunen Augen von Effrem Owles schauten, konnte man fast ein deutliches Plopp hören wie das eines Kiefernzapfens, der im heißen Kaminfeuer aufplatzt. Matthew war überzeugt davon, dass Effrem nur als ein Gentleman wie üblich handelte und sich vielleicht auch die Schuld dafür gab, dass dieses Mädchen sich geschnitten hatte – aber in diesem Sekundenbruchteil geschah noch etwas anderes. In diesem Sekundenbruchteil fand ein Austausch statt, vielleicht ein gegenseitiges Erkennen, irgendetwas … Es war ein durchschlagender, mächtiger Sekundenbruchteil, und Matthew sah, wie das Mädchen, das nichts anderes kannte, als sauberzumachen, und das schon so lange nach ein bisschen Wärme suchte, mit den Wimpern klimperte. Und der schüchterne Sohn des Schneiders, der gern Schach spielte und einem anderen Herzen so verzweifelt gern etwas bedeuten wollte, bekam leicht rote Wangen und musste von ihr wegschauen. Aber sie reichte ihm ihre Hand. Er nahm sie, und als er sein Taschentuch auf die Verletzung presste, lenkte er seinen Blick wieder auf ihren und Matthew sah ihn lächeln – nur ein kleines, schüchternes Lächeln. »Das wird schon wieder«, sagte Effrem.

»Ist nichts weiter«, antwortete Opal, aber sie entzog ihm ihre Hand nicht. Matthew sah zu Berry hinüber, die diesen kleinen Austausch auch bemerkt hatte. Sie nickte fast unmerklich, als wollte sie sagen: Ja, aber vielleicht ist es doch etwas.

Und in diesem Moment spürte Matthew die Welt erzittern.

Oder, um genauer zu sein, den Fußboden. Matthew war nicht der Einzige, der es merkte, denn Gespräche stockten und Berry blinzelte überrascht, weil sie es ebenso gespürt hatte. Nach dem Beben knurrten die Planken wie alte braune Löwen, die aus dem Schlaf geschreckt worden waren. Dann flog die Tür der Schänke auf und das weiße Gesicht von Gilliam Vincent schrie unter der schiefen gelben Perücke und aus seinem schwarzen Mantel schmerzerfüllt: »Das Dock House Inn ist in die Luft gegangen!«

Im großen Gedränge, auf die Nassau Street hinauszugelangen, wurde die Etikette vernachlässigt und das Tanzen war vergessen. Matthew lief inmitten der Menschenmenge zur Tür hinaus und fand sich neben John Five und dessen Braut Constance wieder. Berry wurde gegen Matthews Seite geschubst, als sie alle in Richtung Hafen auf die Rauchwolken und Flammenexplosionen starrten, die hoch in die Nacht schlugen.

»Oh, Jesus!«, schrie Gilliam Vincent. Er begann die Nassau Street in Richtung Süden hinunter auf den Brand zuzulaufen, der vielleicht neun Querstraßen weit entfernt war. Matthew sah Vincents Perücke zu Boden fallen und eine bleiche Glatze entblößen, auf der ein paar vereinzelte graue Haarsträußchen kerzengerade wie ins Mark erschütterte Soldaten auf einem leeren Schlachtfeld standen. Trotz seiner Eitelkeit war Vincent seine Perücke nicht so wichtig wie das Schicksal seines geliebten Dock House Inn , wo er mit schmalen Augen und voller Arroganz sein Königreich regierte. Und so wuchsen seinen Füßen förmlich Flügel, als er schreiend losrannte: »Feuer! Feuer! Feuer!«

Im Nu hallten Warnschreie durch die gesamte Stadt. In Manhattan hatte man bereits die Erfahrung gemacht, dass Flammen vernichtende Feinde waren. Matthew nahm an, dass von den dort schlafenden Gästen nicht mehr viel übrig sein konnte, wenn es tatsächlich das Dock House Inn war, das irgendwie in die Luft gegangen war, wie Vincent es ausgedrückt hatte. Gelbe und orangefarbene Flammen züngelten fünfunddreißig Meter hoch in die Luft. Hätten sich nicht bereits Wolken vor den Mond geschoben, wäre die bleiche Scheibe von den aus New York aufsteigenden dunklen Rauchfahnen schwarz gefärbt worden. »Männer, hierher!«, brüllte jemand – ein Aufruf, Eimer zu holen und an die Brunnen zu laufen, die hier und dort in den gepflasterten Straßen zu finden waren. Manche rannten zurück in Sally Almonds Schänke, um erst ihre Mäntel, Schals, Handschuhe, Mützen und Dreispitze zu holen. Matthew nahm seinen schwarzen Mantel von einem Wandhaken und zog sich seine grauen Handschuhe und die Wollmütze über. Mit einem schnellen Blick auf Berry, der sagte: Das Tanzen muss warten, glaube ich, lief er mit den anderen Männern auf den Ort der feurigen Zerstörung zu.

Die Häuser spien ihre Menschen auf die Straßen. Viele hatten ihre Morgenmäntel an, aus denen in der Kälte die nackten Beine herauslugten. Laternen schwangen vor und zurück wie auf einer Mittwinterversammlung von Glühwürmchen. Nachtwachtmeister eilten recht hilflos umher und hielten ihre grünen Lampen als Zeichen der Autorität hoch, so fragwürdig diese auch sein mochte. An der Ecke der Broad und Princes Street prallte Matthew fast mit dem alten Benedict Hamrick zusammen, der sich für einen ehemaligen Soldaten hielt und dessen weißer Vollbart ihm bis an seine mit Spucke polierte Gürtelschnalle hinunterhing. Hamrick marschierte eine ohrenbetäubende Blechtrillerpfeife blasend umher und schrie jedem, der ihm Gehör schenkte, unverständliche Befehle zu – was bedeutete, dass er in seinem Fantasiereich der Coldstream Guards keinen einzigen Soldaten mehr hatte.

Trotz des alltäglichen Chaos, der schnatternden Händler und dem Pferdemist in den Straßen und Sklaven in den Dachstuben wurde New York in Krisenmomenten zu einem zielstrebigen Moloch. Die Einwohner von Manhattan waren wie Ameisen, die aus einem getretenen Nest herausschwärmten und sich fieberhaft verteidigten. Aus Häusern und Scheunen wurden Eimer zutage gefördert. Ein mit Eimern beladener Pferdewagen kam die Broad Street heruntergeklappert. Gruppen von Männern fanden sich zusammen, schnappten sich die Eimer und rannten los, um an den Brunnen Position zu beziehen. Irgendwie nahmen die Löschketten innerhalb von Minuten nach Gilliam Vincents erstem Schrei Form an. Wasser kam in Bewegung, wurde schneller und schneller die Schlange entlanggereicht. Dann gabelte sich die Löschkette in zwei oder drei Schlangen, sodass von mehreren Punkten aus Wasser aufs Feuer geworfen werden konnte – das nicht das Dock House Inn verzehrte, wie sich herausstellte, sondern eine Lagerhalle in der Dock Street verschlang, in der Schiffstaue hergestellt und gelagert wurden.

Es war ein heißer Brand. Ein Brand, dessen Zentrum weiß glühte, und Augenbrauen versengen und die Gesichter der Nächststehenden anschwellen lassen konnte. Selbst Matthew, der mit den anderen fieberhaften Ameisen einen Straßenblock weiter nördlich arbeitete, konnte Hitzewellen in staubigen Wogen an sich vorbeirollen fühlen. Die Arbeit ging weiter. Die Eimer bewegten sich so schnell, wie die Muskeln es zuließen, aber schon sehr bald wurde offensichtlich, dass die Lagerhalle sich nicht mehr retten lassen würde. Alles Wasser musste dazu benutzt werden, die umliegenden Gebäude zu nässen, um ein noch schlimmeres Unglück zu verhindern. Irgendwann tauchte der alte Hooper Gillespie auf, zeterte über einen Angriff der Holländer, wurde aber von niemandem beachtet, sodass er sich mit finsteren Blicken und um sich spuckend in Richtung Hafen davonschlich.

Gebrüll und Rufe wurden laut, als die letzte Wand der Lagerhalle zusammenbrach. Die aufstiebenden Funken wurden dort, wo sie landeten, unter Stiefeln ausgetreten. Noch mehr Wasser wurde auf die nassen, dampfenden Holzwände der Häuser links und rechts geworfen, und endlich, als Stunden verstrichen waren und die Muskeln erschlafften, war der südlichste Zipfel der Stadt gerettet. Aber der Schiffstauhändler Johannis Feeg weinte über seinem Haufen schwelender Asche bittere Tränen.

Endlich war die Arbeit beendet. Die Schänkenbesitzer rollten Bierfässer nach draußen und schlugen sie auf der Straße an; man konnte nie wissen, wann man eine Löschkette brauchen würde, und es war sicherer, sich die Bürger warmzuhalten als in solchen Zeiten zu knausern. Matthew holte sich mit der Holztasse, die man ihm in die Hand gedrückt hatte, etwas zu trinken, und marschierte mit anderen verdreckten Löschmännern auf die rauchende Ruine zu.

Außer Rauch war nicht mehr viel übrig. Matthew sah andere Männer durch die Asche stapfen, der Glut in die Augen treten und sie dann auszudrücken, um ganz sicherzugehen. Der Geruch von bitterem Rauch, von Staub und Hitze klebte wie raues Flanell in den Lungen. Männer, die dem Feuer am nächsten gewesen waren, stolperten verrußt und halb gekocht umher, und nickten erschöpft, wenn andere ihnen Becher mit Bier in die Hände drückten.

»Na, das war ein frohes Ereignis, nicht wahr?«

Matthew drehte sich zu der Stimme um, hatte Gardner Lillehorne aber bereits am Ton erkannt, der an diesem Abend wie eine Wespe auf der Suche nach etwas klang, das sie stechen konnte.

Der dürre Hauptwachtmeister gab bei Weitem keine so perfekt modische Erscheinung wie üblich ab, denn Asche verunzierte seinen dunkelgrünen Mantel, der am Kragen und den Ärmelaufschlägen mit lilafarbenen Borten verziert war. Leider waren die Ärmelaufschläge besudelt und sein weißes Hemd gelblich wie schmutzige Zähne. Sein grüner Dreispitz war dunkel von Asche und die kleine rote Feder daran zu einer Fluse verbrannt. Ruß lag in Striemen auf seinem langen, bleichen Gesicht mit den schmalen, schwarzen Augen, der kleinen spitzen Nase und dem akkurat getrimmten Ziegenbart und schwarzen Schnäuzer. Selbst der silberne Löwenkopf am Griff seines Ebenholzstocks sah versengt und dreckig aus. Lillehornes Blick schweifte kurz von Matthews Augen ab über die umherwandernde Menschenmenge. »Ein frohes Ereignis«, wiederholte er. »Für Mr. Feegs Konkurrenten zumindest.«

Matthew spürte, dass jemand von hinten an ihn herantrat. Er drehte den Kopf und sah Berry, in einen braunen Mantel gehüllt, die Haare wild im rauchigen Wind und mit Asche auf ihren sommersprossigen Wangen. Sie blieb stehen, als er sie sah, wie von den unausgesprochenen Worten aufgehalten, sich nicht zu nähern.

Fast gleichzeitig fiel Matthew der widerwärtige untersetzte Wachtmeister und Intrigant Dippen Nack auf, der wie ein kleines, krabbelndes Raubtier zum Hauptwachtmeister aufschloss, den er für dessen Arroganz und Eselshaftigkeit zu bewundern schien. Für Matthew war der breitbrüstige, rotgesichtige Nack ein brutaler Tyrann und, schlimmer noch, ein Feigling, der seinen schwarzen Schlagstock nur denen überzog, die nicht zurückschlagen konnten.

»Was sagen die Leute?«, fragte Lillehorne; ein Indiz dafür, dass der Hauptwachtmeister seinem teuflischen Verehrer vor kurzem auf eine Mission geschickt hatte.

»Viele Leute haben’s gehört, Sir«, antwortete Nack mit den hängenden Schultern unehrlicher Unterordnung. »Jawohl, Sir! Ein Kanonenschuss sei’s gewesen, sagen sie alle!« Und dann fügte er wie als letzten Schliff für wurmstichiges Holz hinzu: »Sir!«

»Ein Kanonenschuss?« Wie der Pfeil an einem Wetterhahn richtete sich Matthews Neugierde sofort auf diese Information. »Von wo?«

»Über diese Auskunft verfüge ich noch nicht, danke auch der Nachfrage.« Lillehornes Nasenflügel kräuselten sich und er betupfte sie sanft mit einem grünen Taschentuch. Durch den Rauchgestank hindurch nahm Matthew den Geruch von zu süßlichem Parfüm wahr.

»Manche Leute meinten, sie glauben, dass es von da draußen kam.« Nack deutete mit seinem Schlagstock gen Süden. »Und dann ist das Ding in die Luft geflogen.«

»In die Luft geflogen?«, fragte Matthew. Fast dieselben Worte, die Gilliam Vincent benutzt hatte. »Warum drückt Ihr das so aus?«

»Na, guckt doch«, antwortete Nack, dessen Wut nie weit unter seiner sauren Oberfläche lag. »Das ist kein gewöhnlicher Brand! Es liegen ja Stücke die ganze Straße hoch und runter!« Extra für Lillehorne lächelte er spöttisch. »Ich dachte, Ihr wärt so ein Schlaukopf

Obwohl die Gaukler aufgetaucht waren und unweit von ihnen auf kreischenden Fiedeln kratzten, während ihre dunkelhaarigen Mädchen unter den Biertrinkern für Münzen tanzten, hielt Matthew seine Aufmerksamkeit weiterhin auf Lillehorne gerichtet. »Ihr sagt also, eine Kanonenkugel hat das angerichtet?«

»Ich sage, es wurde gehört , wie eine Kanone gefeuert wurde. Corbett, haltet Eure Neugierde im Zaum. Ich habe bereits einige Männer abbestellt, den Hafen zu bewachen, falls es tatsächlich das Signal von Oyster Island gewesen war. Heute Abend bezahlt die Stadt Euch nicht für Eure Fähigkeiten. Nicht so laut!«, schrie Lillehorne den Gauklergeigern zu, aber die Lautstärke senkte sich um keinen Deut.

Matthew starrte auf die Aschefläche. Es gab Kanonen auf den Wällen des alten Fort William Henry, jetzt Fort Anne genannt, an New Yorks äußerstem Südzipfel. Sie waren Tag und Nacht bemannt und auf das Meer gerichtet. Die einsame Kanone auf Oyster Island war als Warnsignal einer drohenden Invasion der holländischen Flotte gedacht, obwohl Handel und Profit aus London und Amsterdam verlässliche Partner gemacht hatte. Niemand erwartete wirklich, dass eine holländische Armada versuchen würde, ihre alte Kolonie zurückzuerobern, aber … warum war die Kanone abgefeuert worden?

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Lillehorne, und Matthew merkte erst jetzt, dass er die Frage laut gestellt hatte. »Aber ich werde das ohne Eure sogenannte fachmännische Hilfe aufklären, Sir.«

In diesem Augenblick fiel Matthew eine weitere interessante Entwicklung auf dieser kalten, nächtlichen Bühne auf. Hinter Lillehorne, von den Lampen in ihren Händen beleuchtet, standen der gutaussehende Arzt Jason Mallory und die schöne Rebecca. Sie unterhielten sich leise und betrachteten die Ruinen, aber blickten sie jetzt beide in Matthews Richtung? Sprachen sie wieder, schauten erneut und drehten ihm dann den Rücken zu und gingen?

Eine Trillerpfeife schrillte, laut genug, um selbst über das Katzengeschrei der gaukelnden Geiger hörbar zu sein.

Dann schrillte sie erneut, lauter, mit beharrlichem Ton. Und ein drittes Mal, genauso herrisch.

»Was zum Teufel ist los?« Lillehornes Blick schweifte auf der Suche nach der lästigen Lärmquelle ebenso wie Matthews, Nacks und Berrys Blick umher. Eine Gruppe Schaulustiger näherte sich, angelockt vom Lärm. Matthew sah Marmaduke Grigsby, den alten Schreiberling und Herausgeber des Ohrenkneifers , zu seiner Enkeltochter gehen. Seine Augen hinter der Brille im mondrunden Gesicht waren groß und voller Fragen. Die Trillerpfeife schrillte weiter, jetzt noch durchdringender.

»Dort , Sir!« Es war Nack, der auf die andere Seite der Dock Street zeigte, etwas östlich von der zerstörten Lagerhalle.

Matthew entdeckte Benedict Hamrick neben einer braunen Ziegelmauer, die zu einem Lager für Teerfässer, Anker, Ketten und anderen Schiffsbedarf gehörte. Hamricks Bart und schmutziger Mantel wehten in der aufkommenden Brise. Er bemannte seine Trillerpfeife als kommandierte er ein Angriffskommando von Grenadieren – mehr noch, er zeigte auf etwas, das auf die Ziegel geschrieben stand.

Matthew lief hinter Lillehorne auf den Pfeifenbläser zu, dicht gefolgt von Nack. »Matthew!«, rief Berry, aber er blieb nicht stehen. Seltsamerweise fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf, dass sie meinte, er sollte nicht weitergehen.

Mehrere Menschen hatten sich um Hamrick versammelt, der mit seinem Getriller abrupt aufhörte und mit einem dürren, knorrigen Finger auf die zwei Wörter deutete, die ungefähr in Kopfhöhe auf der Wand standen. Die weiße Farbe war nach unten gelaufen und verlieh den Wörtern das Aussehen von krabbelnden Spinnen.

Das erste Wort war Matthew .

Das zweite Corbett .

Matthew spürte, wie sein Herz ins Stottern kam, als Hamricks Hand sich bewegte und der Finger auf ihn zeigte.

Lillehorne nahm dem nächstbesten Bürger eine Laterne ab und hob sie, um mit dem Licht in Matthews Gesicht zu leuchten. Mit verengten Augen machte Lillehorne einen Schritt auf ihn zu, als musterte er etwas, das er noch nie zuvor gesehen hatte.

Matthew war wie gelähmt. Er brachte kein Wort heraus.

»Ja«, sagte der Hauptwachtmeister. Er nickte. »Seid gewiss, dass ich dies aufklären werde.«