Kapitel 4

 

»Ich möchte liebend gern eine Erklärung haben«, sagte der Mann im lilafarbenen Kleid, das am Halsausschnitt mit blauer Spitze verziert war. Seine geschminkten Lippen lächelten hauchdünn in die Stille, die seinen Worten folgte. Der Blick seiner blaugeschminkten Augen unter der opulent gelockten Perücke huschte von einer Person im Raum zur anderen. »Bitte«, sagte er und hob seine weißen Seidenhandschuhe. »Es sollten nicht alle auf einmal sprechen.«

Gardner Lillehorne räusperte sich; vielleicht ein wenig zu explosiv. Er hielt seinen kürbisfarbigen Dreispitz in den Händen; es war seine Farbe des Tages. »Lord Cornbury«, sagte er. »Die Fakten sind, wie ich Euch berichtet habe.« Matthew fand, dass er ein wenig nervös klang, und man spürte auch tatsächlich sein Frühstück im Bauch Purzelbäume schlagen, wenn einem Edward Hyde Lord Cornbury, der Gouverneur der Kolonie New York und Vetter von Queen Anne höchstpersönlich, ins Gesicht sah.

»Berichtet«, wiederholte der gutgekleidete Mann hinter dem Schreibtisch. »Aber erklärt habt Ihr sie nicht.« Die weißen Seidenfingerspitzen pressten sich aneinander. Das Pferdegesicht hätte jeden Spiegel in der Stadt zerspringen lassen. »Dieser faselnde Dummkopf hat auch nichts Verständliches gesagt. Was ist mit diesen roten Lampen und einer holländischen Invasion und aus dem Boot gestohlenen Fischen?«

Hooper Gillespie hatte kurz zuvor Bericht erstattet, bis ihn seine nervöse Aufregung ins Stolpern brachte und flach zu Boden fallen ließ. Man hatte ihn auf einer Leinwandbahre aus Lord Cornburys Arbeitszimmer hinaustragen müssen. Und sein Bericht? Der schien Matthew ebenso schwer tragbar oder vielleicht gar nicht tragbar zu sein.

Der vierte Mann im Raum spitzte die Lippen und gab ein Geräusch wie einen nassen Furz von sich.

»Ihr wünscht zu sprechen, Mr. Greathouse?«, fragte der Gouverneur.

»Ich wünsche mich zu beschweren «, antwortete der große Mann. An diesem Morgen stützte er sich nicht auf seinen Stock; der lag über seiner rechten Schulter. Matthew fielen die dunklen Ringe unter seinen schwarzen Augen auf. Anscheinend hatte Hudson letzte Nacht mit seinem eigenen Feuer gekämpft, nachdem er durch den Brand und Lärm aus Abby Donovans Häuschen gescheucht wurde, wo ihn die intim entfachte Glut bereits fast in Asche gelegt hatte. »Ich kann Matthews aufrechten Charakter bezeugen und …«

»Warum genau seid Ihr hier , Sir?«, wurde er unterbrochen. Matthew wusste, Greathouse zu unterbrechen forderte Gewalt heraus, selbst gegen einen Lord in Weiberkleidern.

»Ich bin hier «, kam die gefährlich spöttisch klingende Antwort, »weil ich gerade in unserer Amtsstube war, als der allmächtige Wachtmeister hereingestürmt kam und meinen Kollegen praktisch verhaftete. Und ihn dann hierher zu einer Vernehmung , wie er es nannte, schleifte. Ich bin freiwillig mitgekommen.«

»Hab ihn nicht davon abhalten können, befürchte ich«, sagte Lillehorne.

»Hab mich nicht abhalten lassen «, sagte Greathouse, den grimmigen Blick weiter auf den Gouverneur im femininen Gewand gerichtet. »Ich weiß nicht, was letzte Nacht vorgefallen ist, und Matthew weiß es ebenfalls nicht. Ja, sein Name war auf eine Wand gegenüber von dem Brand gepinselt worden. Aber er hatte nichts damit zu tun! Mit gar nichts davon! Wie könnte er denn, schließlich war er in Sally Almonds Schänke am Tanzen, als das Gebäude … in die Luft flog, oder was auch immer da passiert ist.«

»Gestern Abend fand ein Tanz statt?«, fragte Lord Cornbury Lillehorne in jammerndem Ton. »Meine Gattin und ich lieben das Tanzen.«

»Es war ein Tanz für die Bürgerlichen, Mylord. Ganz sicher nicht nach Eurem Geschmack.«

Angesichts dieses Austauschs entfuhr Matthew ein Seufzen. Es stimmte, vor ungefähr dreißig Minuten war er aus der Amtsstube der Herrald-Vermittlung in der Stone Street 7 von Lillehorne abgeholt worden. Um sich dieses Kasperltheater nicht ansehen zu müssen, starrte er aus dem Fenster zu seiner Rechten, von dem aus er eine Aussicht auf den Teil der Stadt entlang des Broad Way hatte. Vor der Morgendämmerung hatte es zu schneien begonnen, und jetzt, im grauen neun-Uhr-Licht, waren die Dächer weiß. Ein paar Pferdewagen rollten über den Broad Way und in ihre Mäntel vermummte Menschen gingen ihrem Tageswerk nach. Der Turm der Trinity Church trug weiß, und weiße Decken lagen über den Schläfern auf dem Kirchfriedhof. An der Wall Street erhielt der kuchengelbe Anstrich des Rathauses einen weißen Zuckerguss, und Matthew fragte sich, ob der exzentrische Leichenbeschauer Ashton McCaggers oben in seiner Dachkammerwunderwelt der Skelette und Grotesken gerade mit der Pistole auf eine seiner Schneiderpuppen schoss, um die Größe des Einschlaglochs zu messen.

»Woher kommt es, dass Ihr beide die reinste Plage …« Cornbury stockte und tippte sich mit dem Finger ans Kinn, um das gesuchte Wort freizuschütteln. »Plage … immer geplagt werdet«, fügte er rasch hinzu, als er sah, wie Greathouses Gesicht sich verfinsterte. »Warum werdet Ihr ständig von Ärgernissen heimgesucht, wollte ich sagen.«

»Das ist unser Lebensunterhalt«, antwortete Greathouse. »Genau wie Eurer darauf besteht, hier zu sitzen und zu versuchen, Matthew Corbett die Schuld an etwas zu geben, mit dem er nichts zu tun hat.«

»Hütet bitte Eure Zunge!«, warnte Lillehorne, auch wenn es eher wie eine zittrige Bitte herauskam.

»Ich beschuldige niemanden, Sir.« Wenn es sein musste, konnte Cornbury beachtliche Selbstkontrolle an den Tag legen. Auch sein Brustkorb sah an diesem Tag sehr beachtlich aus, aber Matthew entschied sich, weder länger hinzuschauen noch genauer darüber nachzudenken. »Ich versuche lediglich zu verstehen, warum sein Name dort steht. Also, wer hat das auf die Ziegel geschrieben. Und auch, aus welchem Grund? Ihr müsst zugeben, dass es sich um eine sehr eigenartige Situation handelt. Zuerst, dass dieser … dieser Gillespie-Mensch von einer vernichtenden Ohnmacht befallen wird, als er mir davon berichtet, dass er eine rote Signallampe gesehen hätte, die eine holländische Armada zum Angriff ruft. Und dann, dass er … wie sagte er? … dass seine Kanone ein Blindgänger ist und das Phantom von Oyster Island seinen Kabeljau gestohlen hat.«

»Drei Makrelen und einen Barsch«, korrigierte Greathouse.

»Von mir aus, was auch immer. Dann brennt diese Lagerhalle nieder und auf der gegenüberliegenden Mauer steht der Name des jungen Mannes. Und ich kann Euch sagen, Sir, dass Johannis Feeg heute Morgen der Erste an der Tür meines Arbeitszimmers war, und zwar in Begleitung seines Anwalts und voller Verlangen, mit einer beachtlichen Summe entschädigt zu werden.«

»Entschädigung?« Greathouses zusammengezogene Augenbrauen waren ein angsteinflößender Anblick. »Von wem? Matthew? Feeg und sein Paragraphendiener werden sich durch meine Leiche bohren müssen, um das an mir vorbeizukriegen!«

»Lasst mich den bisher Schweigenden hören«, sagte Cornbury leise. »Mr. Corbett, habt Ihr irgendetwas dazu beizutragen?«

Matthew starrte noch immer aus dem Fenster und beobachtete die fallenden Schneeflocken. Er wünschte sich tausend Meilen weit weg von diesem Zimmer. Wieder fiel ihm auf, wie klein und unbedeutend alles schien, seit er zu einem Mörder geworden war. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, dass Professor Fell nicht nur Lyra Leka und Tyranthus Slaughter in der Hand gehabt hatte, sondern jetzt auch Einfluss auf sein Schicksal nahm. Matthew war nicht mehr derselbe, und er fragte sich, ob er jemals wieder zu sich zurückfinden würde.

»Mr. Corbett?«, drängte Cornbury.

»Ja?« Erst jetzt erkannte Matthew, was man von ihm wissen wollte. Seine Gedanken bewegten sich heute nur langsam. Drei Stunden unruhiger Schlaf brachten den schärfsten Verstand durcheinander. Er rieb sich die Stirn, deren Narbe von der Bärenkralle ihn für immer daran erinnern würde, was es einen kostete, für einen anderen Menschen der Held zu sein. »Oh. Ja, gut«, nuschelte er. »Ich war in Sally Almonds Schänke tanzen. Oder, nein«, korrigierte er sich. »In dem Moment stand ich neben dem umgekippten Tisch. Alles war auf den Boden gefallen. Effrem war dabei. Und das Mädchen Opal. Sie hatte sich an den Scherben einen Finger aufgeschnitten.«

Ein kurzes Schweigen entstand.

»Ach herrje«, sagte der Gouverneur zu Lillehorne. »Ist er mit diesem Gillespie-Menschen verwandt?«

Mit einer mächtigen Willensanstrengung konzentrierte Matthew sich und steuerte sein sinkendes Schiff zurück auf Kurs. »Ich habe mit dem Brand nichts zu tun«, sagte er nachdrücklich. »Ja, mein Name ist auf die Mauer gepinselt worden. Von irgendwem.« Oder irgendwelchen , dachte er. Aber als die Lagerhalle in Flammen aufging, waren die Mallorys auf dem Tanzabend gewesen. Wie konnten sie dann dafür verantwortlich sein – und was sollte es bezwecken? »Jemand wollte … den Verdacht auf mich lenken, nehme ich an? Oder irgendetwas anderes? Denn ich habe Dutzende von Zeugen. Und warum sollte ich so dumm sein, meinen Namen mit dem Brand einer Lagerhalle in Verbindung zu bringen? Warum sollte ich einen Speicher voller Schiffstaue anstecken wollen?« Er wartete auf eine Antwort. Als keine kam, stellte er ihnen seine Frage erneut: »Warum?«

»Hört, was er sagt«, mahnte Greathouse, der unerschütterliche Freund.

Der Augenblick streckte sich in die Länge.

Gestärkter Musselin raschelte, als Lord Cornbury sich auf seine hohen Absätze erhob. Er ging ans Fenster und richtete den Blick seiner schweren Lider auf den Tanz der weißen Flocken, die aus der grauen Wolkendecke schwebten und wirbelten.

Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, sagte der Gouverneur in einer tiefen Stimme, die nicht zu seiner Aufmachung passte: »Verdammt. Ich verstehe das alles nicht.«

Willkommen in meiner Welt , dachte Matthew.

Nach einer Weile des Grübelns, das ebenso gut ein zufälliges, zielloses Nachdenken über den passendsten Farbton von welcher Schärpe zu welchem Kleid gewesen sein mochte, wandte Lord Cornbury sich an den Hauptwachtmeister. »Schafft Ihr das, Lillehorne?«

Zur Abwechslung bediente sich der Hauptwachtmeister diesmal der angemessenen Wahrheit. »Ich bin mir nicht sicher, Sir.«

»Hm«, kam die Antwort. Eine Entscheidung wurde gefällt. Der recht beunruhigende Blick wanderte zwischen Matthew und Greathouse hin und her. »Ihr seid die Problemlöser. Löst dieses hier.«

»Das machen wir gern«, gab Greathouse ohne zu zögern zurück. »Aber unsere Dienste kosten etwas.«

»Dann eben Euer übliches Honorar. Mit Sicherheit nichts, das für die Stadtkasse unerschwinglich ist.« Ein behandschuhter Finger erhob sich. »Höret, bevor ich Euch gehen lasse. Sollte ich entdecken, dass Ihr hinter diesen Ereignissen steckt, weil Ihr mir Geld aus der Tasche ziehen wollt, werde ich Eure Eier in heißem Öl kochen lassen, bevor sie Euch mit einem stumpfen Messer abgetrennt werden. Haben wir uns verstanden?«

Greathouse zuckte die Schultern – sein Kürzel dafür, verstanden zu haben. Matthew grübelte immer noch darüber nach, wo Cornbury überhaupt eine Tasche hatte.

»Geht«, sagte der Lord Governor zu allen dreien.

»Viel Glück, Gentlemen«, sagte Lillehorne auf dem oberen Treppenabsatz, während die beiden Problemlöser hinuntergingen. Er klopfte sich mit dem silbernen Löwenkopf in die Handfläche. »Ich werde Euch genauestens im Auge behalten, um sicherzustellen, dass es bei Eurer Untersuchung mit rechten Dingen zugeht.«

»Ihr solltet besser Princess im Auge behalten«, spielte Greathouse auf Lillehornes zänkische Frau an. »Ich weiß aus guter Quelle, dass sie Dr. Mallory noch immer vertrauliche Besuche abstattet, und zwar diesmal nicht aus medizinischen Gründen.« Er bedachte Lillehornes versteinertes Gesicht mit einem schnellen, katzenartigen Lächeln. Seine Bemerkung bezog sich auf einen von ihnen gelösten Fall im Oktober, als sie herausfanden, dass Maude Lillehorne den gutaussehenden Dr. Jason heimlich wegen eines Weiberelixiers besuchte, in dem auch eine ungesunde Dosis Kakaoblätter enthalten waren.

Draußen angekommen knöpften Greathouse und Matthew ihre Mäntel gegen die Kälte und wirbelnden Schneeflocken zu und marschierten von der Gouverneursvilla in Richtung Broad Way.

»Tut sie das wirklich?«, fragte Matthew, der seine graue Wollmütze über die Ohren heruntergezogen hatte. »Maude Lillehorne«, erinnerte er Greathouse. »Hat sie was mit dem Arzt?«

Greathouse runzelte die Stirn. Auf der hinteren Krempe seines Dreispitzes sammelte sich der Schnee. »Was denkst du denn? Würdest du auch nur einen Blick an Princess verschwenden, wenn du Jason Mallory wärst? Besonders, wenn du seine Frau hättest, die dir jede Nacht dein Würstchen wärmt?«

»Ich denke nicht.«

»Natürlich nicht. Ich hab das nur gesagt, damit Lillehorne was zum Nachdenken hat und seinen Kopf benutzen muss. Das braucht er.«

Apropos Würstchen wärmen , dachte Matthew, wie läuft’s mit der fröhlichen Witwe? Aber er entschied sich für ehrsames Schweigen. Außerdem wollte ihm der Lagerhallenbrand nicht aus dem Sinn gehen, und an diesem Tag waren ihm Frotzeleien nicht willkommen.

»Geh noch ein Weilchen mit mir«, sagte Greathouse, obwohl Matthew das bereits tat. Er wusste, der große Mann meinte damit, dass es Ernstes zu durchdenken und bereden gab. Sie würden auf der Suche nach der richtigen Spur auf Umwegen durch die Stadt ziehen.

Obwohl der Schnee flog und wehte und die Ziegel, Steine, Bretter und Straßen weiß färbte, schien es Matthew, als würde New York an diesem Tag aus nichts als Grau zu bestehen. Ein grauer Nebel schien über der Erde zu hängen, im Himmel graue Wolken und dazwischen graue Häuser. Kerzen verschwammen hinter Fenstern. Der allmorgendliche Rauch stieg aus der Vielzahl von Schornsteinen und trieb im Wind auf die vom Winter geschorenen Wälder des anderen Flussufers in New Jersey zu. In den Straßen bewegten sich die Kutschen fast geräuschlos; die Gespanne schnaubten Dampf und die Kutscher saßen in schweren Mänteln und verwitterten Hüten zusammengekauert hinter ihnen. Unter Matthews und Greathouses Stiefelsohlen knirschte der Schnee. Der Gehstock des großen Mannes tastete vor ihnen nach rutschigen Stellen.

Sie bogen nach rechts in die Beaver Street ein und Matthew folgte seinem Freund in Richtung East River. Das Knallrot eines auf sie zukommenden Schirms stach Matthew ins Auge und für einen Moment meinte er, dass es Berrys sein musste. Aber dann erkannte er die große, stattliche Gestalt von Polly Blossom, Inhaberin des rosa Hauses mit den Damen der Nacht. Um ehrlich zu sein, waren es auch Damen des Morgens und Nachmittags.

»Zum Gruße, Matthew«, sagte Polly mit einem höflichen Lächeln und Nicken. Im Sommer hatte Matthew ihr für eins ihrer Mädchen einen Gefallen getan und seitdem eine Jahreskarte , wie sie es nannte, für ihr Haus. Aber er hatte sich in diese Gefilde noch nicht sehr weit vorgetraut. Für Hudson wurde ihr Lächeln verführerischer und sie klimperte mit den Wimpern. »Euch einen guten Morgen«, sagte sie, und als sie an ihm vorbeiging, stieß sie ihn leicht mit der Hüfte an. Matthew begann zu überlegen, ob er sich nicht auch einen Gehstock besorgen und so tun sollte, als bräuchte er Tee und Mitleid.

»Sag es nicht«, warnte Greathouse, als sie weitergingen, und so ließ Matthew es bleiben. Aber er kam zu dem Schluss, dass der große Mann an so manchen Nachmittagen, an denen er einen Fall aufdecken sollte, sich stattdessen vermutlich mit ganz anderen Decken beschäftigte.

Inzwischen gingen sie durch die verschneite Queen Street gen Süden in Richtung Dock Street auf das Great Dock zu, wo die Segelschiffe sich ausruhten und leise in ihren Wiegen aus Seilen seufzten. Aber selbst in diesem Winterwetter ging die Arbeit der Schauermänner weiter, denn vor kurzem waren mehrere Schiffe angekommen, die gelöscht wurden – und einige andere, die mit der nächsten Tide auslaufen sollten, wurden noch beladen. Wie an jedem Tag des Jahres ging es geschäftig zu. Befehle wurden gebrüllt. Jemand hatte mit zerbrochenen Brettern Feuer gemacht und ein paar Männer standen daneben, um sich zu wärmen, bis sie an die Arbeit zurückgeschrien wurden. Ladung wurde mit Seilen, an deren Enden Eisenhaken befestigt waren, von hier nach dort bewegt. Wagen standen bereit, um mit Fracht beladen oder ausgeladen zu werden. Und wie immer waren die Gaukler mit ihren Fiedeln und Schelltrommeln da, um die seefahrenden Musikliebhaber von ihren Münzen zu trennen. Doch heute war ihre Musik grau und mehr als ein wenig traurig, wie es Gottes Bild von New York an diesem Morgen entsprach.

Matthew und Greathouse erreichten eine Stelle, von der aus man durch die Masten und Schiffe hindurch die nebligen Umrisse von Oyster Island sehen konnte. Greathouse blieb stehen, starrte in Richtung der unschönen Insel, und auch Matthew verhielt seine Schritte.

»Seltsam«, sagte Greathouse.

»Soll das die allgemeine Situation beschreiben?«, fragte Matthew, als nichts mehr kam. »Ich würde sagen, es ist mehr als seltsam. Ich würde sagen, dass mein Name an der Mauer gegenüber von einem brennenden Gebäude geradezu myster…«

»Das Phantom von Oyster Island«, unterbrach Greathouse ihn. »Du kennst die Geschichten doch?«

»Die, die es gibt.«

»Und dir ist natürlich auch aufgefallen, dass man dieses Phantom erst vor zwei Monaten bemerkt hat. Es ist kalt geworden. Er brauchte einen Mantel und er brauchte was zu Essen. Obwohl er ein guter Jäger und Angler ist, da bin ich mir sicher. Aber vielleicht ist das Kleinwild dort scheu geworden und die Fische entlang des Ufers sind wegen der Kälte jetzt weiter draußen? Und jetzt bräuchte man ein Boot, um in tieferem Gewässer zu angeln?«

Matthew sagte nichts. Er wusste genau, auf was Greathouse anspielte; ihm war das auch schon durch den Kopf gegangen. Tatsächlich war er sich schon zu neunzig Prozent sicher.

»Er war ein starker Schwimmer«, sagte der große Mann. »Vielleicht kann es sonst niemand von hier bis dorthin schaffen, aber Zed hat’s geschafft. Ich habe keinerlei Zweifel daran, dass er unser Phantom ist.«

Wieder schwieg Matthew. Auch er starrte zu der Insel hinaus, die von ihrem Wachmann verlassen worden war. Jetzt gehörte sie Zed, wenn auch nur für eine kurze Weile. Ein befreiter Sklave in Besitz eines Teils der königlichen Kolonie! Es war geradezu komisch.

Im Herbst hatte Matthew gesehen, wie der mächtige, stumme Zed mit dem vernarbten Gesicht bis ans bittere Ende eines der Anleger gerannt war – nachdem er durch Berrys kunstvoll gezeichnete Erklärung begriffen hatte, dass er frei war – und wild vor Freude ins Wasser gesprungen war. Zed hatte Ashton McCaggers gehört, bis Greathouse für seine Freilassung bezahlt und von Lord Cornbury den Freibrief erlangt hatte. Greathouses Interesse an Zed war nicht ganz altruistisch gewesen, denn er hatte an Zeds stammestypischen Narben erkannt, dass er den westafrikanischen Ga angehörte, unter denen sich die mutigsten Krieger der Erde befanden. Greathouse hatte Zed unbedingt als Leibwächter für Matthew ausbilden wollen. Aber es hatte nicht sein sollen, denn der riesige Krieger war offensichtlich entschlossen gewesen, nach Afrika zurückzuschwimmen oder bei dem Versuch zu ertrinken. Allerdings schien es jetzt, dass Zeds Reise für eine Weile unterbrochen worden war und dass der mächtige Schwarze in der Wildnis von Oyster Island saß – vermutlich in einem selbstgebauten Unterschlupf – und überlegte, wie ein stummer, vernarbter und äußerst furchteinflößender Sohn des Dunklen Kontinents dem Stern folgen konnte, der ihn nach Hause lockte.

Selbst wenn Zed vielleicht nicht viel über die Welt wusste, nahm Matthew an, dass er sich bewusst war, wie unerreichbar weit er von dem Land entfernt war, nach dem er sich sehnte. Und daher hatte Zed sich einen Mantel gestohlen, aß Fisch und wartete in seinen Unterschlupf gekauert darauf, dass eine günstige Wendung für ihn eintrat.

Zumindest war das Matthews Theorie, und obwohl sie nie darüber gesprochen hatten, freute er sich, dass Greathouse zu demselben Schluss gekommen war.

»Komische Sache, das mit deinem Namen an der Wand«, sagte Greathouse endlich in Bezug auf das vorliegende Problem. Es war nicht das erste Mal, dass sie darüber redeten, aber jetzt waren sie vom Gouverneur beauftragte Ermittler und die Bürger der Stadt würden für ihr Honorar aufkommen. »Lass uns weitergehen«, schlug Greathouse vor – oder befahl es vielmehr –, und so setzten sie sich unter den Bugsprieten der vertäuten Schiffe wieder in Bewegung.

Nachdem Greathouses Gehstock ein paar Schritte bemessen hatte, kam die Frage: »Hast du irgendeine Idee?«

Ja, habe ich, dachte Matthew sofort. Ich habe eine Ahnung, dass eine als Arzt getarnte Schlange und seine ebenso reptilienartige Gattin etwas damit zu tun haben. Und trotzdem habe ich keine Beweise und keine Vorstellung davon, was ihr Motiv sein könnte. Ohne das bin ich ebenso weit von der Lösung dieses Rätsels entfernt wie Zed von einem Spaziergang an der Küste Afrikas. Daher antwortete er: »Nein, hab ich nicht.«

»Jemand mag dich nicht«, meinte Greathouse.

Ja, dachte Matthew wieder, die Zähne grimmig zusammengebissen. Sein Gesicht wurde vom kalten Wind gepeitscht. Und diese Vereinigung scheint jeden Tag mehr Mitglieder zu zählen. Sie kamen an ein neues Schiff, das anscheinend gerade erst in der letzten Stunde eingelaufen war, denn das Fallreep war am Dock vertäut und die Seemänner stolperten einer nach dem anderen herunter, auf der Suche nach ihrem Gleichgewicht. Ein paar leere Pferdewagen standen einsatzbereit da, wurden aber nicht beladen. The Tully Company stand rot auf den Seiten der Wagen. Solomon Tully, so wussten die beiden Problemlöser, war der Zuckerhändler; der mit den dritten Zähnen und ein großartiger Furzer noch dazu. Trotzdem war er kein übler Kerl. Wenn er von seinen Besuchen in den karibischen Zuckerrohrplantagen erzählte, schilderte er die Tropensonne und das türkisblaue Wasser auf lebhafteste Weise. Deshalb war er an kalten Wintertagen in allen Schänken ein gerngesehener Gast. Und hier auf dem Dock stand der stämmige, rotbäckige Mann nun höchstpersönlich, mit einem braunen Dreispitz und über seinem sicherlich teuren Anzug einen aus feinstem Tuch in Owles‘ Schneiderei in der Crown Street gefertigten beigefarbenen Mantel. Solomon Tully war äußerst wohlhabend, äußerst gesellig und normalerweise äußerst zufrieden mit sich und der Welt. An diesem Morgen mangelte es ihm allerdings sehr an Zufriedenheit.

»Verdammt, Jameson! Verdammte Hölle!«, schrie Tully eine arme, dünne und verwahrloste Gestalt an, deren Bart aus verschiedenen Schimmelfarben zu bestehen schien. »Für so was bezahle ich Euch gutes Geld?«

»Verzeiht, Sir … verzeiht, Sir … verzeiht«, antwortete der unglückliche Jameson mit gesenktem Blick und deprimierter Haltung.

»Dann geht endlich und richtet Euch wieder her! Erstattet mir in meinem Arbeitszimmer Bericht! Und zwar flott, bevor ich es mir anders überlege und Euch auf die Straße setze!« Als Jameson davonschlich, schaute Tully zu Matthew und Greathouse hinüber. »Oh, Moment mal! Ihr zwei! Wartet!«

Tully war bei ihnen, bevor sie sich entscheiden konnten stehenzubleiben oder so zu tun, als hätten sie ihn nicht gehört. Tullys Gesicht glühte noch mit den Resten seiner brennend heißen Wut. »Verdammt, dieser Tag!«, empörte er sich. »Wisst Ihr, wie viel Geld ich heute Morgen verloren habe?« Seine dritten Zähne mit den in der Schweiz hergestellten Zahnrädchen mochten zwar wie echte aussehen, fuhr Matthew durch den Kopf, aber sie gaben ein seltsam leises, metallisches Quietschen von sich, wenn Tully sprach. Matthew fragte sich, ob die Federn vielleicht zu stramm angezogen waren – und ob Tully seine Zähne aus dem Kopf springen würden, wenn die Federn rissen, und durch die Luft schnappen, bis sie etwas zum Festbeißen fanden.

»Wie viel?«, fragte Greathouse, obwohl er wusste, dass es unklug war.

»Zu viel, Sir!«, kam die hitzige Antwort. Dampf umnebelte Tullys Kopf. Plötzlich lehnte Tully sich verschwörerisch zu ihnen vor. »Hört mal«, sagte er leiser mit bittender Miene. »Ihr beide seid doch die Problemlöser …«

Und heute anscheinend stark gefragt , dachte Matthew.

»- da könnt Ihr mir doch den Gefallen tun und Euch über eine Sache Gedanken machen, ja?«

Greathouse räusperte sich mit warnendem Grollen. »Mr. Tully, derartiges stellen wir in Rechnung.«

»Herrje, na gut, zum Teufel mit der verdammten Rechnung! Verlangt, was Euch recht erscheint! Hört mich bloß an, ja?« Tully sah aus, als würde er jeden Moment wie ein Kind, dem man ein Bonbon weggenommen hat, auf die Anlegerbohlen stampfen. »Ich bin ein gemarterter Mann, seht Ihr das denn nicht?«

»Also gut«, sagte Greathouse, geradezu ein Sinnbild ruhiger Ungerührtheit. »Wie können wir Euch helfen?«

»Könnt Ihr mir sagen«, erwiderte Tully, entweder mit Tränen oder geschmolzenen Schneeflocken auf den Wangen, »was für ein Pirat eine Ladung Zucker stiehlt und alles andere völlig unberührt lässt?«

»Wie bitte?«

»Welcher Pirat«, wiederholte Tully, »stiehlt Zucker? Meinen Zucker. Die dritte Ladung in drei Monaten. Aber Dinge, von denen man denkt, dass jeder Gauner der Meere sie in seinen bodenlosen Topf der Gier werfen würde, bleiben unberührt da, wo sie sind! Wie das Silbergeschirr des Kapitäns oder die Pistolen und Pulver, und alles andere, das einen Wert hat und nicht an Deck festgenagelt ist! Nein, dieser Freibeuter raubt einzig und allein meinen Zucker ! Fässerweise! Und ich bin nicht mal der Einzige davon Betroffene! Micah Bergman in Philadelphia ist es ebenfalls passiert, und den Pallister-Brüdern in Charles Town auch! Also denkt für mich darüber nach, Gentlemen … Warum ist eine Ratte des Meeres darauf aus, mir zwischen Barbados und New York meinen Zucker zu stehlen? Und nur den Zucker?«

Außer einem Schulterzucken hatte Greathouse keine Antwort zu bieten. Deshalb sprang Matthew in die Bresche. »Vielleicht, um ihn weiterzuverkaufen? Oder um …« Jetzt war es an Matthew, die Achseln zu zucken. »Einen gewaltigen Geburtstagskuchen für den König zu backen?« Kaum, dass er es gesagt hatte, wusste er, wie dumm das gewesen war. Greathouse erlitt einen plötzlichen Hustenanfall und musste sich abwenden, während Solomon Tully aussah, als hätte ihm sein treuester Hund soeben ans Bein gepinkelt.

»Matthew, das ist nicht zum Lachen«, sagte der Zuckerkaufmann mit einer Pause zwischen jedem Wort wie kalte Erde zwischen Gräbern. »Das ist mein Leben !« Die Nachdrücklichkeit, mit der Tully das Wort aussprach, verursachte ein Knirschen in seinem Mund. »Mein Gott, ich verliere haufenweise Geld! Ich habe eine Familie zu ernähren! Ich habe Verpflichtungen! Dinge, von denen Ihr Gentlemen, soviel ich weiß, nichts kennt. Aber ich werde Euch etwas sagen … irgendetwas ist an diesen Vorfällen äußerst sonderbar. Und Ihr könnt lachen, soviel Ihr wollt, Matthew, und Ihr könnt Euer Lachen hinter Husten verstecken, Mr. Greathouse, aber diese ständigen Zuckerdiebstähle haben mit etwas Bösem zu tun! Wo der Zucker hingeht und warum, weiß ich nicht, und das treibt mich in den Wahnsinn! Habt Ihr nie vor etwas gestanden, das Ihr unbedingt wissen musstet und das Euch innerlich mit dem Drang zerrissen hat, es herauszufinden?«

Greathouses »Nie« kollidierte prompt mit Matthews »Ständig«.

»Die zweiköpfige Antwort einer einköpfigen Kreatur«, stellte Tully fest. »Jedenfalls sage ich Euch, dies ist ein Problem, das gelöst werden muss. Ich erwarte natürlich nicht, dass Ihr eine Seefahrt zu den Zuckerrohrinseln unternehmt, aber könnt Ihr nicht darüber nachdenken und mir erklären, warum das passiert? Und welche Maßnahmen ich treffen kann, um zu verhindern, dass es nächsten Monat wieder geschieht?«

»Es liegt ein wenig außerhalb unserer Expertise«, meinte Greathouse. »Aber ich würde vorschlagen, dass die Besatzung die Pistolen und das Pulver bei sich trägt, das vermutlich in einer Kiste unter Verschluss gehalten wird, und damit den Piraten das Gehirn rauspustet. Das sollte das Problem lösen.«

»Ein sehr guter Ratschlag, Sir«, sagte Tully mit ernster Miene und einem kurzen Nicken. »Und sicherlich würde die Besatzung diesen Ratschlag in ihrem nassen Grab zu schätzen wissen, da die verdammten Seeräuber schon bewiesen haben, dass Kanonen gegen Pistolen an jedem Tag gewinnen, selbst am Sonntag.« Er berührte die Krempe seines Dreispitzes mit dem Zeigefinger. »Ich gehe jetzt nach Hause und genehmige mir einen Grog. Und wenn aus dem einen Grog zwei oder drei oder mehr werden, dann sehe ich Euch irgendwann nächste Woche wieder.« Mit diesen Worten drehte er sich um und machte sich zu seinem feinen Haus in der Golden Hill Street auf. Bald darauf war er nur noch eine schemenhafte Gestalt im Schneegestöber, und dann gab es nur noch Schnee und keine Gestalt mehr.

»Ich brauche auch einen Grog«, sagte Greathouse. »Wie wär’s, wenn wir im Gallop vorbeischauen?«

»Von mir aus gern«, sagte Matthew. Vielleicht konnte er dort eine Partie Schach spielen und sein Gehirn dazu bringen, so zu arbeiten, wie es sollte.

»Braver Mann«, sagte Greathouse.

Als sie nebeneinander in Richtung Crown Street gingen, fügte er hinzu: »Du zahlst.«