Vier Tage, nachdem Hooper Gillespie einen Barsch gefangen hatte, wurde ein allgemein bekanntes Gebäude an der Ecke von Crown und Smith Street von einer Explosion zerrissen – am dreiundzwanzigsten Februar gegen halb ein Uhr morgens, so schätzte man. Die Sprengkraft war derartig stark, dass das Dach in brennende Teile zerrissen wurde, die in die Luft flogen und mitten auf der Straße niederfielen. Die Fensterläden und die Tür wurden hinausgerissen. Die Glasscheibe des Schaufensters fand man später in der Holzwand des Red Barrel Inn eingebettet, das einen Schlag abbekam, der die letzten drei Betrunkenen in der Schänke denken ließ, Gottes Faust sei auf der Suche nach ihren Sünden. Das Gebäude an der Ecke der Crown Street entflammte sich mehr wie von einem Blitzschlag oder wie eine mit Schweinefett umwickelte Fackel, als dass es auf altvertraute Art brannte. Der Lärm der Explosion warf alle Menschen von Golden Hill bis zur Wall Street aus dem Bett, und selbst das spätabendliche Amüsement bei Polly Blossom in der Petticoat Lane wurde vom Knall unterbrochen, der widerhallend durch die Stadt jagte.
»Was ist jetzt !?«, schrie Gardner Lillehorne und setzte sich im Bett neben seiner Princess auf, deren Gesicht mit einer grünen Creme beschmiert war, die selbst der hässlichsten Frau von Paris die Schönheit wiederschenkte.
»Zum Teufel mit dem Lärm!«, brüllte Hudson Greathouse und setzte sich im Bett neben einer gewissen großen, blonden Witwe auf, die schon seit langem vergessen hatte, was das Wort »Nein« bedeutet.
»Oh Gott, was war das ?«, fragte Madam Cornbury und setzte sich neben ihrem unter der Steppdecke zusammengerollten Mann auf, dessen Ohren mit Korken zugestopft waren. Denn manchmal wachte er von seinem eigenen Schnarchen auf.
Und Matthew Corbett setzte sich wortlos in seinem kleinen, aber ordentlich aufgeräumten Kühlhaus auf. Neben den zwei Kerzen, die er nachts brennen ließ, um die Dämonen von Slaughter und Leka fernzuhalten, entzündete er eine dritte Kerze. Vom Licht ermutigt sprang er aus dem Bett, zog sich an und bereitete sich auf das Schlimmste vor – denn er hatte das sichere Gefühl, dass diese Explosion etwas Wichtigeres als eine Lagerhalle voller Seile getroffen hatte.
Die Flammen loderten äußerst heiß. Die Nacht war voller Funken und Rauch, orange erleuchtet wie ein Morgen im August. Die Löschbrigaden arbeiteten fieberhaft. Sie taten ihr Bestes, aber bald mussten sie sich um die benachbarten Häuser kümmern, damit das Feuer sich nicht ausbreitete.
Und so starb die Schneiderei, die von Benjamin Owles und seinem Sohn Effrem betrieben wurde.
In ihren letzten Momenten hustete sie Feuer und spuckte Asche, und Matthew, der neben Effrem in der Menge stand, beobachtete, wie erst eine schwarz verrußte Ziegelsteinmauer zusammenbrach und dann die nächste, bis die Steine alles begruben, was im Leben der Owles-Familie Erfolg bedeutet hatte.
»Es ist vorbei«, hörte Matthew seinen Freund ganz leise sagen. Matthew legte ihm seine Hand auf die Schulter, aber angesichts einer so großen Tragödie war es eine zu kleine Geste. Ein paar Schritte weiter starrte Benjamin Owles in die flackernde Glut; bis jetzt war er unbewegt geblieben, doch nun war das Ende da und Tränen begannen ihm über das Gesicht zu laufen.
Plötzlich fuhr die versammelte Menge zusammen. Matthew spürte es, als würde ihm jemand mit einem Messer das Rückgrat hinunterstreichen. Irgendjemand rief etwas quer durch die Crown Street, aber was es war, ließ sich nicht verstehen. Matthew schien von einem Murmeln umgeben zu sein wie von einem geflüsterten Geheimnis, in dessen Mitte er selber stand. »Was ist los?«, fragte Matthew den Silberschmied Israel Brandier, der rechts neben ihm stand, aber Brandier musterte ihn durch seine Hornbrille und sagte nichts. Die Wäscherin Jane Neville neben Brandier sah ihn ebenfalls mit einem Gesichtsausdruck an, den man nur als beunruhigt zweifelnd beschreiben konnte. Matthew hatte das Gefühl, in einem Traum aus rauchgrauen Schattierungen und roter Glut gefangen zu sein. Die Gestalten um ihn herum waren nicht eindeutig menschlich, sondern verschwommen. Eine Stimme sprach seinen Namen aus: »Corbett?«, aber im trüben Licht konnte er nicht sehen, wer es war. Dann kam ein Mann im lilafarbenen Anzug und mit einer weißen Feder im Dreispitz durch die Schaulustigen und packte ihn am Arm. Matthew erkannte den schwarzen Ziegenbart von Gardner Lillehorne.
»Ihr kommt mit mir«, sagte der Hauptwachtmeister, der in der anderen Hand eine Laterne hielt und seinen Gehstock mit dem Löwenkopf unter den Arm geklemmt hatte.
Matthew erlaubte sich führen zu lassen. Dippen Nack, der schmatzte, als täte er sich an Matthews Fleisch und Knochen gütlich, folgte ihm dicht auf den Fersen. »Worum geht’s?«, fragte Hudson Greathouse, der gerade aus der Menge trat. Lillehorne gab sich nicht die Mühe zu antworten. »Stehengeblieben!«, befahl Greathouse, aber der Hauptwachtmeister hatte hier das Sagen und hörte auf niemanden.
Matthew merkte, dass ihnen andere Menschen folgten; er pflügte eine Art Bugwelle durch die Menge wie ein Schiff im eisigen Hafen. Er erhaschte einen Blick auf Berry und ihren Großvater, dessen Nase auf der Suche nach Neuigkeiten für den Ohrenkneifer gehörig zucken musste. Er sah natürlich auch Hudson, der dicht neben ihm ging und Lillehorne weiterhin mit Fragen befeuerte, die nicht beantwortet wurden. Er sah Effrem Owles, der sich wie ein verräucherter Schlafwandler bewegte. Er sah den rundlichen, graubärtigen Felix Sudbury, dem das Trot Then Gallop gehörte. Er sah Wachtmeister Uriah Blount und den Mietstallbesitzer Tobias Winekoop. Und dort zu seiner Rechten, mit der seltsamen Prozession Schritt haltend, die Mallorys: Doctor Jason und die schöne Rebecca. Sie gingen untergehakt, fiel Matthew auf. Sie schauten nach vorn und sahen aus, als befänden sie sich an einem Sommerabend auf einem äußerst entspannten Spaziergang. Aber die Luft war schneidend kalt – genau wie die Grausamkeit, die Matthew in ihren Mienen sah.
Der Hauptwachtmeister führte Matthew an den nächstgelegenen Brunnen, der sich vielleicht vierzig Schritte weit die Crown Street hinunter befand. Er ließ Matthews Arm los, lehnte sich unter das Holzdach, das den Brunnen vor dem Wetter schützte, und richtete den Lichtstrahl seiner Laterne nach oben.
»Herr Ermittler«, sagte Lillehorne mit einer so angespannten Stimme, dass sie Blut aus einem Stein hätte pressen können. »Wenn Ihr dieses Rätsel hier bitte lösen könntet?« Matthew stellte sich neben Lillehorne und folgte dem Lichtschein der Kerze mit einem unterdrückten Schauder, vielleicht einer Vorahnung, nach oben.
Und dort stand es.
Dort.
Weiß unter das Dach gemalt.
Matthew Corbett , für alle Welt zu sehen.
»Zuerst hat es niemand bemerkt.« Jetzt klang Lillehorne nicht mehr so angespannt, lediglich sachlich. »Erst, als das Feuer fast aus war. Ich glaube, Herr Problemlöser, dass Ihr definitiv ein Problem habt .«
»Was zum Teufel ist das jetzt?« Hudson Greathouse hatte sich unter das Dach gedrängt, um darunter zu schauen. Matthew konnte nicht anders, als sich zu fragen, ob der Magen des großen Mannes sich nicht etwas zusammenzog, als er so dicht an der Art von Wasserreservoir stand, die ihn im Oktober fast das Leben gekostet hatte. Greathouse beantwortete seine eigene Frage sofort selbst. »Eine große Ladung Scheiße ist, was das ist!«
»Ich hab’s zuerst gesehen!«, sagte ein Mann, der aus den Schaulustigen hervorgetreten war. Matthew erkannte Ebenezer Grooder, einen berüchtigten Taschendieb, an seiner verzerrten Lippe. Grooders Mund war voller schlechter Zähne und beim Sprechen versprühte er Spucke. »Krieg ich jetzt ‘ne Belohnung?«
»Aber sicher«, sagte Greathouse und schlug dem Mann so hart auf den Mund, dass Grooder die restlichen Zahnstummel aus dem Mund flogen und er auf seinem bewusstlosen Weg zu Boden einen seiner gestohlenen Stiefel verlor.
»Aufhören! Aufhören!«, kreischte Lillehorne wie die kleinste Pfeife einer Drehorgel. Weder er noch ein anderer Mann vor Ort hatten auch nur die kleinste Aussicht, Hudson Greathouse festzuhalten. Aber mehrere Männer nutzten die Gelegenheit, Grooders schlaffe Gestalt beiseite zu werfen – nachdem sie die Taschen des Unglücklichen um ein paar Münzen und einen Silberring mit Gravur erleichtert hatten. »Greathouse, wehe, Ihr lasst Euch heute Nacht noch in einer Schänke blicken!«, warnte Lillehorne, weil seine Autorität es verlangte. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit schnell wieder der Unterseite des Dachs zu. Matthew starrte immer noch seinen eigenen Namen an und versuchte zu verstehen, warum die Mallorys dies getan hatten. Weil Matthew ihre Einladung zum Essen abgelehnt hatte – und sie immer noch ablehnte?
»Es ergibt keinerlei Sinn«, sagte Matthew.
»Keinerlei Sinn, da stimme ich zu«, sagte Lillehorne. »Und trotzdem steht es da. Ich frage mich, was für eine Botschaft das vermitteln soll.«
»Das weiß ich nicht.« Und doch begann Matthew etwas zu ahnen. Kommt zu uns oder wir werden diese Stadt in Asche legen.
Er sah sich nach dem Arzt und seiner Gattin um, aber sie hatten sich davongeschlichen. Vermutlich triumphierend , nahm Matthew an. Er wurde sich bewusst, dass jetzt auch andere Menschen näherkamen, um zu sehen, was es zu sehen gab: Effrem, der wortlos wieder ging; Marmaduke Grigsby, der ein Geräusch wie ein auf Papier klatschender Stempel von sich gab; Berry, die sich kurz auf die Unterlippe biss und ihm einen traurigen Blick zuwarf, bevor sie ging. Und noch andere kamen und gingen, bis es Matthew vorkam, als hätte die gesamte Stadt unter das Dach des Brunnens gespäht. Als Letzter stieß Gilliam Vincent seinen Perückenkopf darunter, um zu gucken, und betrachtete Matthew dann mit einem Blick, den man naserümpfend einem verdorbenen Stück Käse schenken würde. Matthew war knapp davor, Hudson Greathouse nachzueifern und Vincent mit der Perücke voran zu Boden zu schlagen, aber er bezwang sich.
»Ich habe nichts getan!«, sagte Matthew. Er sprach mit Lillehorne, bekannte aber gleichzeitig ganz New York gegenüber seine Unschuld.
»Natürlich nicht!«, sagte Greathouse. Und dann zum Hauptwachtmeister: »Verdamm Euch, wenn Ihr glaubt, dass er das war! Was glaubt Ihr denn, dass er diese Feuer legt und seine Taten signiert ?«
»Ich glaube«, sagte Lillehorne müde, »dass ich bald wieder zu Lord Cornbury bestellt werde. Ach je.« Er richtete den Lichtstrahl seiner Laterne auf Matthews Gesicht. »Also gut. Ich weiß, dass Ihr das nicht gewesen seid. Warum auch, sofern … Euch Eure letzten Abenteuer mit dem Irren nicht aufs Gehirn geschlagen sind.« Das ließ er ein paar Sekunden so stehen, bevor er weitersprach. »Sagt mir, fällt Euch irgendein Grund ein, warum das gemacht wird? Kennt Ihr irgendeine Person , die dies tun könnte? Sprecht, Corbett! Diese Gebäude werden offenbar in Eurem Namen zerstört. Habt Ihr dazu etwas zu sagen?«
»Er steht nicht vor Gericht!«, feuerte Greathouse mit aufsteigender Wut zurück.
»Haltet Euer Gemüt und Eure Fäuste im Zaum«, sagte Lillehorne. »Bitte.« Seine kleinen schwarzen Augen richteten sich wieder auf Matthew. »Ich habe Euch drei Fragen gestellt. Habt Ihr wenigstens eine Antwort?«
Nicht eine Antwort, aber zwei Verdächtige , dachte Matthew. Er runzelte im Kerzenlicht die Stirn. Es war unmöglich, die Mallorys mit diesen Vorfällen in Verbindung zu bringen. Noch, zumindest. Und zu enthüllen, was er für die Wahrheit hielt: eine Verbindung zwischen Jason und Rebecca Mallory und Professor Fell … nein, auch dazu war er noch nicht bereit. Daher schaute er dem Hauptwachtmeister ins ziegenbärtige, spitznasige Gesicht und sagte ruhig: »Nein, habe ich nicht.«
»Keine Idee? Nichts? «
»Nichts«, sagte Matthew. Er klang sehr glaubwürdig.
Lillehorne senkte die Laterne. »Verdammt«, sagte er. »Corbett, Ihr müsst krank sein. Vielleicht habt Ihr da draußen in der Wildnis doch Euren Verstand verloren? Na, Ihr könnt jedenfalls darauf wetten, dass ich Euch vorladen werde, wenn Cornbury mich vorlädt. In das Gesicht werde ich nicht allein gucken. Hört Ihr?«
»Wir hören Euch«, antwortete Greathouse mit rauer Stimme.
»Das ist dann alles, was ich mit Euch zu bereden habe.« Lillehorne betrachtete den Namen nochmals. »Es hole mir jemand Kalkfarbe!«, rief er den einfachen Bürgern zu. »Wenn’s sein muss, streiche ich das selbst über!«
Matthew und Greathouse nutzten die Gelegenheit, um zu gehen. Sie schlüpften durch die Menschenmenge und marschierten dann auf der anderen Seite die Crown Street in Richtung Osten bis zum Wasser hinunter. Sie drehten nach Süden auf die Queen Street ab, die kalte salzige Brise im Gesicht.
»Du behältst irgendwas für dich«, sagte Greathouse, nachdem sie alle lauschenden Ohren abgeschüttelt hatten. »Lillehorne kannst du vielleicht was vormachen, aber mir nicht. Sag, was du weißt.«
Matthew war nahe daran, es zu sagen. Er dachte, beim nächsten Schritt würde er seinem Freund alles erzählen, aber … er tat es nicht. Hudson in diese Sache hineinziehen, ohne dass es Beweise gab? Ihn zu irgendwelchen Handlungen gegen … was? Schatten? … aufzustacheln? Oder gegen ein spöttisches Grinsen von Jason und Rebecca Mallory, das er sich vielleicht nur eingebildet hatte? Nein, das konnte er nicht. Dies war ein persönliches Duell, er gegen sie, und diesen Kampf würde er still und allein austragen müssen.
»Ich weiß nichts«, antwortete er.
Greathouse blieb stehen. Im schwachen Lichtschein der Laternen von New York wirkte seine Miene gleichmütig. Seine kohlschwarzen Augen schauten wissend drein. »Du lügst«, sagte er. »Ich lasse mich nicht anlügen.«
Matthew erwiderte nichts. Wie konnte er auch? Es war nutzlos, die Wahrheit mit einer weiteren Lüge zu tarnen.
»Ich geh nach Hause«, verkündete Greathouse nach ein paar Sekunden. Sein Zuhause war ein Gasthaus in der Nassau Street, das von der netten, aber recht neugierigen Madam Belovaire betrieben wurde. Matthew hatte sich bereits Gedanken darüber gemacht, ob Greathouse die Witwe Donovan in seine Zimmer schmuggelte oder sie ihn in ihre. So oder so wurde viel geschmuggelt. »Nach Hause« , wiederholte Greathouse betont. Er zog seinen Mantelkragen enger um den Hals zusammen. »Lass mich wissen, wenn du dich dafür entscheidest, mit dem Lügen aufzuhören. Ja?« Er machte einen Schritt in Richtung Nassau Street und drehte sich dann wieder zu Matthew um. Erstaunt nahm Matthew die Mischung aus Verärgerung und Verletzung in Greathouses Gesicht wahr. »Vergiss nicht«, sagte Greathouse. »Ich bin immer auf deiner Seite.« Und dann folgte er mit steifer Würde seinem auf die Erde tappenden Gehstock.
Matthew stand einsam im Wind.
Seine Gedanken waren ein einziges Durcheinander, genauso verworren, wie ihm sein Leben im Moment vorkam. Er begann sich in nördlicher Richtung die Queen Street entlang auf den Heimweg zu machen. Er kam an den Segelschiffen und dem Sklavenmarkt vorbei. Der Wind, jetzt stürmischer und kälter, peitschte aus verschiedenen Richtungen auf ihn ein, wie um ihm das Gleichgewicht in der Welt zu rauben. Als er mit hochgezogenen Schultern, das Kinn an den Hals gepresst, am letzten der vertäuten Schiffe vorbeikam, warf er einen Blick auf die Dunkelheit des Meeres hinaus. So viel Finsternis , dachte er. Die Finsternis war unermesslich groß, und er spürte, wie sie an seiner Seele zog. Er spürte sie nach ihm schnappen, ihn hänseln, seinen Namen verspotten und aus seinem Verlangen nach der Wahrheit eine Lüge machen.
Und diese Finsternis besitzt einen Namen , dachte er.
Dieser Name lautete Professor Fell.
Abrupt blieb er stehen und spähte in die schwarze Nacht.
Was war das eben? Ein kurzes, rotes Aufblitzen? Weit, weit draußen war es gewesen. Falls es tatsächlich existiert hatte. Bildete er sich rote Signallampen ein? War er dabei, wie Hooper Gillespie zu werden und in der Einsamkeit seines Verstands als nächstes Selbstgespräche zu führen? Aufs Meer hinausschauend wartete er, aber die rote Lampe – oder was es auch gewesen sein mochte, falls es überhaupt dagewesen war – zeigte sich nicht wieder.
Er erinnerte sich an das, was Greathouse ihm über Professor Fell erzählt hatte. Es kann sein, dass Fell inzwischen kurz davorsteht, das zu erschaffen, was wir vermuten: ein Verbrecherreich, das die Kontinente überspannt. All die kleinen Haie – die in ihren eigenen Meeren tödlich genug sind – haben sich um diesen großen Hai versammelt und sind sogar bis hierher geschwommen …
Dieser große Hai, dachte Matthew, hatte große Zähne und große Augen. Er sah alles und wollte alles verschlingen. Sogar – vielleicht insbesondere – das Herz eines jungen Mannes, der sein Leben in Massachusetts als Sohn eines Pflügers und einer Frau begonnen hatte, die beide früh gestorben waren, und der dann auf den Schweinehof einer Tante und eines Onkels auf Manhattan Island geschickt wurde. Nachdem er auf einem Heuwagen aus dem Kerker aus Schweinescheiße und betrunkener Gewalt geflüchtet war, hatte er sich einer Gruppe anderer Kinder im Hafen angeschlossen, nur um später buchstäblich vom langen Arm des Gesetzes eingefangen, verschnürt und dem Waisenhaus der Stadt übergeben zu werden. Dort hatte ihn ein intelligenter, freundlicher Schulmeister erzogen, aber weiteres Unglück wartete bereits. Natürlich, neues Unglück gab es immer … daraus bestand das Leben. Es stärkte einem entweder den Charakter oder man zerbrach daran. Dann arbeitete er als Gerichtsdiener für zwei Richter, bis ihm schließlich der Posten als Problemlöser für die Herrald-Vermittlung von niemand Geringerem als Katherine Herrald höchstpersönlich angeboten wurde.
Schließlich? Nein, Matthew hatte keinerlei Zweifel daran, dass seine Lebensgeschichte noch lange nicht zu Ende war. Aber im Moment fühlte er sich in Ungewissheit verloren, in einem grauen Tal, das ihn nur durch die richtigen Entscheidungen und Handlungen freigeben würde; doch welche dies waren, wusste er nicht.
Und dort draußen im dunklen Meer schwamm der große Hai. Zog seine Kreise, näher und näher.
Eine Hand berührte seine Schulter. Er erstarrte fast zur Salzsäule.
»Entschuldige!«, sagte Berry und zuckte zurück. Sie trug einen schwarzen Mantel mit einer dunklen Haube, in dem sie beinahe mit der Nacht verschmolz. »Warst du am Nachdenken?«
»War ich«, brachte er heraus, als er das Gefühl hatte, wieder verständlich sprechen zu können. Sein Herz war immer noch wie eine Trommel, auf die die Faust eines Irren drosch. »Weißt du nicht, dass man sich an Leute nicht anschleichen soll?«
»Entschuldige«, sagte sie und fügte hitzig hinzu: »Nochmals.«
Matthew nickte. Es war besser, den Rückzug einzutreten, als den Zorn eines Karottenkopfes zu riskieren. »Ist schon gut. Schon vorbei.« Er zuckte die Schultern. Sein Herzschlag beruhigte sich vom Galopp zum Trab, was ihn auf den Gedanken brachte, dass er ein nervenstärkendes Getränk aus der nach galoppierenden Pferden benannten Schänke in der Crown Street gebrauchen könnte – wenn Felix Sudbury denn die Türen für die Löschmänner und Schaulustigen geöffnet hatte. New York war wirklich auf dem besten Wege, zu einer Stadt zu werden, die niemals schläft. Zumindest nicht sonderlich fest.
»Matthew?«
»Ja?« Er hatte zu Boden gestarrt und hob jetzt den Blick, bis er sie ansah.
»Hast du nicht irgendeine Ahnung? Ich meine … wirklich . Irgendwas?«
»Nichts«, antwortete er ein wenig zu schnell.
Sie trat einen Schritt näher. Ihr Blick war durchbohrend und ernst. Sie akzeptierte diese Antwort nicht. »So bist du nicht«, erklärte sie. »Irgendwelche Ideen hast du immer. Vielleicht sind manche besser als andere …« Sie stockte. Er wusste, dass sie an ein gewisses Ausweichmanöver mit Pferdemist dachte, mit dem sie im letzten Sommer in einer furchtbaren Situation ihre Gesichter davor bewahrt hatten, von Falken abgerissen zu werden. »Sehr viel besser als andere«, fuhr sie fort. »Aber Ahnungen und Ideen hast du immer. Hättest du die nicht, dann wärst du nicht …« Sie stockte erneut und überlegte. »Wenn du also welche hast, Ahnungen, meine ich, dann würde ich die gern hören. Wenn du sie mir sagen möchtest.«
Er sah sie aus einem Abstand an, der gleichzeitig schrecklich groß und im Moment unangenehm klein war. Er erkannte, dass sie ihn bat, ihr zu vertrauen. Denn sie konnte in seinen Augen sehen, dass er darin etwas versteckte, in seinem Gehirn. Und sie wollte Teil daran haben.
Ein paar Sekunden lang gingen Matthew viele Dinge durch den Kopf. Was er sagen könnte. Die richtigen Worte, der richtige Ton. Ein komplizierter Satz, der der Wahrheit nahekam, um ihrer Neugierde ein Ende zu setzen, und sie unbedingt vor Gefahr zu bewahren. Aber was ihm einfiel, bestand nur aus drei einfachen Worten.
»Ich kann nicht.«
Dann wandte er sich von ihr ab und ging auf der Suche nach einem spätabendlichen Getränk in Richtung Crown Street zum Trot .
Berry blieb, wo sie war. Der Wind fühlte sich kälter an. Sie zog ihren Mantel enger um sich herum. Ach, Matthew , dachte sie. Wohin gehst du?
Es war, als befände er sich ständig auf dem Weg nach irgendwohin. Er war immer in Bewegung. Immer weg von dort, wo sie stand, so kam es ihr vor. Sie würde ihm nie erzählen, dass sie manchmal morgens durchs Küchenfenster Ausschau nach ihm hielt, um ihn aus seiner Tür kommen zu sehen. Dann fiel ihr jedes Mal auf, wie frisch gewaschen und rasiert er war, bereit, die Welt bei den Hörnern zu packen. Nur, dass er seit seiner Rückkehr aus der Wildnis nicht mehr ganz so bereit für die Welt zu sein schien. Er war verändert. Er wollte nicht darüber reden, aber sie sah, dass seine Schritte langsamer geworden waren und sein Rücken leicht gekrümmt, als erwartete er jeden Moment geschlagen zu werden. Vielleicht tötete es ihn, nicht darüber zu sprechen. Ganz langsam, innerlich. Vielleicht, überlegte sie, wenn er ihr ausreichend vertrauen könnte, um es ihr zu sagen … würde er wirklich aus der Wildnis heimkehren. Denn ein lieber und unschuldiger Teil seiner Selbst war dort geblieben und fehlte ihr sehr.
Sie wünschte sich von ganzem Herzen, dass sie ihm ihre Theorie über ihr Pech erzählen könnte. Sie hatte mehrere Verehrer gehabt, auf die der Fluch ihres Pechs gefallen war; auf den armen Effrem zum Beispiel, der ständig in ein Erdloch oder eine Pfütze trat, wenn er neben ihr herging. Und der arme Ashton, der versucht hatte, so selbstbeherrscht und weltmännisch zu sein, als er das erste Mal mit ihr wegging, nur um Minuten später den Absatz seines Schuhs zu verlieren. Es war zu einem lustigen Späßchen unter ihnen geworden – wie viele Absätze er an ihrer Seite verloren hatte.
Aber Berry erinnerte sich an einen Sommertag, an dem sie am Ende eines langen Stegs gezeichnet hatte. Der Steg, den sie auserwählt hatte, war ein Albtraum aus wurmstichigen Brettern und vom Wetter und unfähig befehligten Booten verursachten Schäden gewesen. Sie hatte ihn sich ausgesucht, weil sie in Ruhe gelassen werden wollte.
Und dann war er gekommen.
Darf ich zu Euch auf den Anleger kommen? , hatte er gefragt.
Und sie hatte geantwortet: Wenn Ihr wollt , und sich gedacht, dass er mit Sicherheit durch die Bretter brechen und ins Wasser krachen würde.
Sie hatte weitergezeichnet und auf seinen Aufschrei im Fall gewartet. Denn ihr Pech war mit Sicherheit die Verdammnis dieses Stegs, und er würde nicht einmal die Hälfte der Strecke zu ihr hin schaffen, bevor er ins Wasser fiel.
Sie wartete … und wartete …
Und dann, ganz plötzlich, stand er an ihrer Seite. Sie hatte ihn erleichtert ausatmen gehört, und vielleicht hatte sie unter ihrem Strohhut selbst erleichtert geseufzt. Schelmisch lächelnd hatte sie gesagt: Ein schöner Morgen zum Spazierengehen, nicht wahr, Mr. Corbett?
Seine etwas zittrige Antwort lautete: Erfrischend.
Und als sie sich wieder ihrer Arbeit zuwandte, die bunte Quintessenz der Weide in Breuckelen einzufangen, hatte sie gedacht: Jeder andere Mann wäre durch die Bretter gefallen. Warum nicht er?
Diese Frage beschäftigte sie immer noch.
Denn ihre Theorie über ihr sogenanntes Pech, zumindest was junge Männer anging, war, dass ihr Pech sie wie der Kompass eines abenteuerlichen Schiffes in die korrekte Richtung steuerte. Matthews Zielhafen aber war ihr unbekannt. Jedenfalls wirkte es oft, als sähe er einfach durch sie hindurch, als sei sie eine Nebelwolke, die er wie seidige Spinnweben wegwischen konnte.
Ich will dir etwas bedeuten , beschwor sie ihn still, wo auch immer er auf seinem Marsch durch die Dunkelheit sein mochte. Bitte … lässt du das zu? Aber in dieser Nacht kam keine Antwort. Es gab nur den Winterwind, der mit kalten Fingern über das Gesicht eines hoffnungsvollen jungen Mädchens strich.
Sie entschied, dass er an diese Stelle nicht so bald zurückkehren würde. Und daher verließ sie ihren Warteposten und kehrte nach Hause zurück, um schlafen zu gehen.