Kapitel 12

 

Während die Tage verstrichen und das Schiff über einen Ozean segelte, der innerhalb desselben Tages ruhig und aufgewühlt sein konnte, während Regen sich aus dunklen Wolken ergoss und die Sonne aus dem finsteren Himmel hervorbrach, während bleiches Mondlicht auf strahlenden Wellen glitzerte und Meerestiere sich auf ihren Streifzügen um Leben und Tod wie hellblaue Bänder verflochten, spürte Matthew, dass er heilte.

Der Arzt namens Jonathan Gentry half ihm dabei. Morgens nach dem Frühstück und abends vor dem Essen kam Gentry zu ihm in die Kajüte. Manchmal brachte er ihm einen Arzneitee, manchmal entfernte Gentry das Verbandspflaster unter Matthews linkem Auge, um die Naht zu überprüfen, trug eine grüne Salbe auf und legte das Pflaster wieder darüber. Der Arzt gab ihm ein Stück nach Gras riechender Seife und wies ihn an, alles sauber zu halten, denn diese Atlantikreise war ein schmutziges Unterfangen und allerlei Schimmel bildete sich auf dem Dreck, den ein Schiff mit sich führte – von den Ratten ganz zu schweigen, die so sorglos umherliefen, dass die Matrosen ihnen Namen gaben.

Matthew stellte Dr. Gentry jedes Mal dieselben drei Fragen. Eine war: »Werden Berry und Zed gut behandelt?«

Die Antwort darauf war stets dieselbe: »Natürlich werden sie das.«

Darauf folgte die Frage: »Darf ich sie sehen?«

»Noch nicht.«

Die dritte Frage war: »Wann erfahre ich, was Fells Problem ist?«

Und die Antwort: »Mit der Zeit, Matthew.« Dann: »Vergesst nicht, Euren Rundgang an Deck zu machen. Ja?«

Matthew nickte immer. Tatsache war, dass er sich auf seine Spaziergänge an Deck sehr freute. Egal, ob es regnete oder die Sonne schien, Matthew zog seine Runden an Deck und sah sich die Arbeit an, die dort vor sich ging. Ab und zu erhaschte er einen Blick auf Captain Jerrell Falco, eine strenge Gestalt in schwarzem Anzug, schwarzem Umhang und schwarzem Dreispitz, was zu seiner blauschwarzen, glänzenden Haut passte. Der Kapitän hatte einen weißen Ziegenbart und einen gedrehten Gehstock, den er auf dem Rücken von zu langsamen Matrosen skrupellos zum Einsatz brachte. Matthew war aufgefallen, dass sich unter der Besatzung mehrere Afrikaner oder schwarze Kariben befanden, sowie ein paar Asiaten aus dem Fernen Osten. Das Schiff war international. Matthew fiel auf, dass man ihn mit Büchern versorgte. Sie wurden in einem Korb in seine Kajüte geliefert und ein leiser Hauch von weiblichem Parfüm hing ihnen an. Er hatte den Eindruck, dass Aria Chillany entweder die Vorstellung von verletzter Haut unter ihren Händen gefiel, oder dass sie mit ihm spielte. Zu den Büchern gehörten Shakespeares Der Sturm, König Lear und Julius Cäsar , ein philosophischer Band über den Platz der Erde als Mitte des Universums und ein beunruhigend gotteslästerliches Buch, in dem erklärt wurde, dass Gott eine Kreation des Menschenverstands war. Matthew nahm an, dass einem das bloße Aufschlagen dieses Buchs in manchen Städten einen ausgepeitschten Rücken, wenn nicht ein Henkersseil um den Hals einbringen würde. Trotzdem hatte er vor, es vielleicht zu lesen. Immerhin mussten die Bücher an Bord wohl von Professor Fell abgesegnet worden sein und konnten daher möglicherweise einen Einblick in die geistige Verfassung von Fell geben.

Matthew fand weder an seiner Kajüte noch der Art, wie er verwöhnt wurde, etwas auszusetzen. Verwöhnt war in der Tat das richtige Wort. Auch wenn kein Mensch einen Einfluss auf das Rollen des Schiffs im Seegang, das Brechen der Wellen am Rumpf oder dem unaufhörlichen Knarren und Quietschen der Bohlen und Masten hatte, schienen sich alle an Bord zu bemühen, Matthew als einen geschätzten Gast zu behandeln. Ein Glas Wein – ganz nach seinem Wunsch mit Schlafmittel versetzt oder nicht – war nur ein Klingeln mit der Silberglocke weit entfernt. Seine Mahlzeiten waren nicht nur schmackhaft, sondern verdammt gut. Damit er den Fisch nicht leid wurde, war der täglich frische Fang seinen Vorlieben entsprechend gewürzt. Seine Kleidung war gewaschen und heiß gebügelt worden. Seine Stiefel glänzten. Seine Kajüte war so groß und sauber, wie es an Bord eines Segelschiffes nur möglich war. Das Himmelbett war am Boden festgeschraubt, damit es nicht verrutschte. Der Mann, der kam, um neue Kerzen zu bringen, tat es täglich und geizte nicht mit Wachs. Aber am aufschlussreichsten war, dass die Tür zu Matthews Kajüte nie von außen abgeschlossen wurde. Wenn er nicht gestört werden wollte, konnte er von innen einen Riegel vorschieben, aber er war nie gezwungen, sich wie ein Gefangener zu fühlen.

Eines Nachmittags klopfte es an seiner Tür und ein älterer Mann trat mit einem Maßband und Kreide ein, nahm Matthews Maße – Arme, Beine, Brustkorb und so weiter – und verschwand wieder, ohne ein Wort zu sagen.

Natürlich gab es Bereiche des Schiffs, die Matthew nicht betreten konnte. Gentry hatte ihn davor gewarnt, unter Deck zu gehen, wo er sich mit einem unerwünschten Pilz oder einer Entzündung anstecken konnte, die ihm in seinem momentanen Zustand alles andere als zuträglich sein würden. Auch war er auf mehrere abgeschlossene Türen gestoßen, die man ihm offensichtlich nicht öffnen würde. Er vermutete, dass eine davon in den Bauch des Schiffs führte. Aber solange er niemandem im Weg war, ermutigte man ihn, an Deck zu gehen, und er hatte mehrmals mit Gentry in dessen Kajüte gegessen, die nur ungefähr halb so groß wie Matthews und nicht annähernd so gut eingerichtet war. Gentry war ein interessanter Gesprächspartner, der hauptsächlich von seinen Reisen durch Südamerika, die Karibik, Italien, Preußen, China, Japan und andere Länder erzählte. Aber über den Professor oder den Anlass dieser Reise ließ er kein Wort verlauten.

So kam es, dass Matthew am siebten Tag auf See gern in seine Kajüte und zur Lektüre von Der Sturm zurückkehrte, nachdem er seine Morgenrunden an Deck unter einem strahlend blauen Himmel beendet hatte, dessen Sonne für die Jahreszeit erstaunliche Wärme verstrahlte. Ein Klopfen an der Tür ließ ihn aus seinem bequemen Sessel aufstehen.

»Ja?«, sagte er sanft, denn er hatte gelernt, dass es in seiner Situation weder Sinn machte noch nötig war, unhöflich zu sein.

»Mein lieber Matthew«, erwiderte die Frau mit den rabenschwarzen Haaren auf der anderen Seite der Tür, »ich habe Euch etwas gebracht.«

Er hatte Aria Chillany seit mehreren Tagen nicht mehr gesehen. Er musste zugeben, dass sie eine äußerst schöne Frau war, und seinen Augen fehlte diese Schönheit unter all den rauen, verwitterten Matrosen. Daher legte er das Buch beiseite, stand auf, ging zu Tür – stellte dabei wieder einmal fest, dass diese Kajüte mindestens doppelt so groß wie sein Kühlhaus war – und öffnete.

»Guten Morgen«, sagte sie mit einem echten Lächeln, obwohl ihre saphirblauen Augen wie immer auf der Hut waren. »Darf ich hereinkommen?«

Er trat beiseite und bedeutete ihr, einzutreten. Sie schloss die Tür hinter sich.

Sie war in ein lilafarbenes Kleid und eine dunkelblaue Jacke mit schwarzen Lederbesätzen gekleidet, ihre Haare hingen ihr füllig über die Schultern und den Rücken herunter. Ein exotischer Duft mit einer Unternote wie gezuckerter, heißer und leicht verbrannter Kaffee ging von ihr aus. Sie musterte ihn mit ihrem direkten Blick. »Eure Wunden verheilen gut.«

Sollte er darauf mit einer amüsanten Bemerkung antworten? Er entschied sich für ein einfaches »Danke.« Ihm war ebenfalls aufgefallen, dass der Rasierspiegel ihm freundlicher gesonnen war. Die schlimmsten Prellungen schimmerten nur in schwachem Blau, die Schnitte waren mit Schorf bedeckt und der ehemalige angebliche Gatte dieser Frau hatte vor, am Nachmittag das Verbandspflaster zu entfernen und die Fäden zu ziehen. Matthew hatte keine Schmerzen mehr und alles schien sich wieder an seine gewohnten Stellen gefügt zu haben. Er glaubte, dass das mehr an dem tiefen, heilsamen Schlaf durch den mit Betäubungsmitteln versetzten Wein lag als an irgendwelchen von Gentrys anderen Behandlungsmethoden.

»Hier«, sagte sie und reichte ihm eine Rolle Pergamentpapier, die mit einer schwarzen Kordel zusammengebunden war.

»Was ist das?«

»Eure Zukunft«, sagte sie. Ihr Blick wanderte zu der Kommode und der braunen Keramikschale, in der die zwei Äpfel, eine Orange und eine Zitrone lagen, die ihm täglich gebracht wurden. Ohne zu fragen, ging sie mit steif raschelnden Unterröcken an die Schale, wählte einen Apfel aus und biss hinein. Kauend beobachtete sie ihn dabei, wie er die Pergamentrolle öffnete.

Matthew sah, dass es eine von ruhiger und äußerst disziplinierter Hand in schwarzer Tinte verfasste Lebensgeschichte war. Die Überschrift lautete: Das Leben und die Erlebnisse von Nathan Spade .

»Und wer genau ist Nathan Spade?«, fragte Matthew.

»Das seid Ihr «, sagte Madam Chillany und kaute an einem weiteren Bissen Apfel.

Er überflog das Dokument. Es gab einen falschen Geburtstag an mit einem Geburtsjahr, das Nathan zwei Jahre älter als Matthew machte. Es beschrieb eine ärmliche Kindheit auf einem Bauernhof in Surrey. Ein jüngerer Bruder, Peter, war im Säuglingsalter gestorben. Die Mutter – Rose – starb an Schwindsucht. Der Vater Edward war von einem Straßenräuber angegriffen worden und hatte die Kehle für eine Handvoll kümmerliche Münzen durchgeschnitten bekommen. So kam es, dass Nathan mit zwölf Jahren verbittert und allein in der Welt stand, endlose einsame Meilen vor sich, und viele Rechnungen mit der gesamten Menschheit zu begleichen hatte. Seine erste Arbeitsstelle: In einem Londoner Hafenbordell Betrunkene auszurauben und den Dreck hinter ihnen wegzuwischen – Erbrochenes, Blut oder andere Flüssigkeiten.

»Wie nett«, sagte Matthew. Er starrte der Frau in die Augen und zwang seine Miene, versteinert und ausdruckslos zu bleiben. »Wozu soll das gut sein?«

»Das ist Euer neues Ich, wie Ihr seht«, antwortete sie.

»Und weshalb sollte ich eins brauchen?«

Sie aß gemächlich ihren Apfel. Sie lächelte leicht; das Lächeln eines Raubtieres. Sie kam zu ihm herüber und blieb hinter ihm stehen. Er ließ es zu. Sich vornüberbeugend, flüsterte sie in sein rechtes Ohr: »Weil es dort, wo wir hinfahren, Euren Tod beschleunigen würde, wenn Ihr Matthew Corbett, der Problemlöser der Herrald-Vermittlung wärt. Ihr würdet keinen Tag lang überleben, liebster Matthew.« Ihr Zeigefinger, nass vom Saft des Apfels, spielte in seinen Haaren. »Einige der Personen, auf die Ihr treffen werdet, kannten Lyra Leka. Die würden sich nicht darüber freuen, herauszufinden, welche Rolle Ihr in ihrem Ableben gespielt habt. Euer Name ist bereits in aller Munde. Daher möchte der Professor Euch … vor ihnen beschützen, und auch vor Euch selbst .« Das letzte Wort endete mit einem Biss in Matthews Ohr. Vielleicht war das spielerisch gemeint, aber sie hatte scharfe Zähne.

Er entschied, dass es doch besser war, wenn sie nicht hinter ihm stand. Er drehte sich zu ihr um und wich einen Schritt zurück.

»Oh«, sagte Aria, deren Gesicht ruhig und beherrscht war. Aber ihre auf ihn gerichteten Augen betrachteten ihn, als wäre er der saftigste Apfel, den man pflücken konnte. »Ihr solltet Euch nicht vor mir fürchten, mein Liebling. Vor den anderen solltet Ihr Angst haben. Vor denen, die Ihr treffen werdet.«

»Und wer genau sind diese Leute?«

»Kollegen. Und Freunde von Kollegen.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und er wich weiter zurück. »Ihr seid zu einer Zusammenkunft eingeladen, Matthew. Einem … Fest , könnte man sagen. Deshalb braucht Ihr einen neuen Namen und ein neues Leben. Damit Ihr … wollen wir sagen … zu den anderen passt.«

Er las einen weiteren Absatz. »Hm«, machte er. »Spade hat mit vierzehn Jahren sein erstes Opfer ermordet? Er hatte eine Affäre mit einer Hure und hat einen Zuführer umgebracht?« Ein Zuführer war ein Mann, der versucht, eine Prostituierte mittels Komplimenten oder Gewalt aus einem verruchten Haus einem anderen zuzuführen.

»Ja«, sagte Aria. »Der Zuführer hatte sie in einer Nacht fürchterlich geschlagen. Hat ihre schöne Nase gebrochen und geschworen, sie aufzuschlitzen und mit anzusehen, wie ihre Gedärme auf den Boden fallen. Und wisst Ihr was, lieber Matthew? Vielleicht war ihr Name Rebecca gewesen.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis er verstand. Er hielt das Pergamentpapier hoch. »Ich dachte, das ist alles erfunden.«

»Erfundenes ist oft ein Echo der Wahrheit«, antwortete sie, ohne dass ihr Blick ins Wanken kam. »Meint Ihr nicht?«

Matthew musterte ihr Gesicht. Ihre Nase war tatsächlich ein bisschen schief, aber immer noch schön. Er fragte sich, was diese Augen alles gesehen hatte. Oder vielleicht wollte er es lieber doch nicht wissen.

Aber einen Einblick wollte er wirklich haben. Er beschloss, dass dies der richtige Augenblick dafür war. »Ich nehme an, dass Ihr die Frau seid, die an jenem Tag auf Chapels Landsitz einen blauen Sonnenschirm trug? Als er uns seine Falken hinterhergehetzt hat?« Er meinte einen Vorfall, der sich im Sommer während seiner Ermittlungen um die sogenannte Königin der Verdammten ereignet hatte.

»Die bin ich. Und jetzt freuen wir uns alle, dass Ihr jenem Schicksal entronnen seid.«

»Und ich nehme an, dass Ihr durch den versteckten Tunnel entkommen seid? Durch den, der zum Fluss hinunterführt?« Er wartete auf ihr Nicken. »Dann sagt mir, was aus dem Fechter geworden ist. Aus dem Preußen«, betonte Matthew. »Er nannte sich Graf Dahlgren.« Matthew und der Graf hatten um Leben und Tod gekämpft, und hätte es da nicht einen silbernen Obstteller gegeben, wäre der junge Problemlöser von einem brutalen Degen aufgespießt worden. Obwohl Dahlgren mit seinem gebrochenen linken Handgelenk in Vorhänge gewickelt in einen Goldfischteich befördert worden war, hatte der rätselhafte Preuße sich an jenem Tag der Festnahme entzogen und war verschwunden.

»Ich habe keine Ahnung«, gab Aria zurück. »Das ist die Wahrheit.«

Matthew glaubte ihr. Er hasste offene Fragen. Dahlgren war definitiv eine offene Frage. Mehr noch, Dahlgren war eine offene Frage, die weiterhin einen Degen schwingen konnte und mit Sicherheit einen preußengroßen Groll gegen den Kampfgegner hegte, der ihn besiegt hatte. Die Frage stand weiterhin offen: Wohin war Dahlgren verschwunden und wo befand er sich jetzt?

Am Ende dieser Seereise würde der Graf sicherlich nicht auf ihn warten, überlegte Matthew. Aber er hatte das unbestrittene Gefühl, dass er Dahlgren irgendwann, irgendwo wiedersehen würde.

Matthew beschloss, eine seiner üblichen drei Fragen anders anzugehen, jetzt, wo er im Besitz dieses Dokuments war, und ahnte, dass man von ihm erwartete, einen ziemlich unangenehmen jungen Mörder zu spielen. Offenbar war der Plan des Professors, worum es sich dabei auch handeln mochte, unter langwierigen Überlegungen und Vorbereitungen herangereift. »Ich will Berry und Zed sehen.«

»Das geht nicht. Soviel ich weiß, hat Gentry Euch versichert …«

»Ihr sprecht, obwohl Ihr zuhören solltet«, unterbrach Matthew sie. »Ihr müsst nicht richtig gehört haben. Ich bitte nicht darum. Ich verlange es.« Er rollte das Pergament zusammen und schlang die schwarze Kordel darum. »Ich will Berry und Zed sehen. Und zwar jetzt

»Nein«, sagte sie.

»Und warum nicht? Weil ich mich weigern könnte, diesen … Unsinn mitzumachen, wenn ich sehe, wie sie untergebracht sind?« Er warf die Pergamentrolle quer durch die Kajüte. Sie landete in der hintersten Ecke. »Also gut. Sagt Sirki, dass ich mich weigern werde, das Schiff zu verlassen, wenn wir in unserem Zielhafen anlegen. Sagt ihm, dass sie mich nun doch auf einer Bahre heraustragen werden müssen. Sagt ihm …«

»Ich werde ihm sagen«, stimmte Aria zu, »sie umzubringen. Das Mädchen zuerst.«

Matthew zwang sich zu einem rauen Lachen. Obwohl weder er noch die Frau einen Degen hatten, fochten sie doch einen Kampf miteinander aus. Und verdammt, sie handhabte ihre Waffe genauso gut, wie Dahlgren seinen Degen beherrscht hatte. »Das werdet Ihr nicht tun«, sagte Matthew und ging jetzt auf sie zu. Sie wich nicht zurück und hob ihr Kinn. »Sirki hat geschworen, dass Berry heil und ganz nach New York zurückgebracht wird, genau wie ich. Inzwischen wird seine Wut auf Zed verraucht sein. Ich habe das Gefühl, dass er auf seine Art ein ehrbarer Mann ist.« Und Ihr in jeder Hinsicht eine unehrenhafte Frau seid , hätte er hinzufügen können. Er ging weiter auf sie zu, als gehörte ihm selbst die Luft, die sie atmete. Er hatte bereits entschieden, dass er in dieser Situation äußerst wenig zu verlieren hatte. Er musste unnachgiebig sein. So unnachgiebig, wie er ihr vorgaukeln konnte, um ganz ehrlich zu sein. Kurz flackerten Zweifel über Arias Gesicht, bevor sie sich wieder fing. Sie stand unbeweglich und herausfordernd vor ihm und setzte an, wieder in den dahinschwindenden Apfel zu beißen.

»Wenn ich schon Nathan Spade sein soll«, sagte Matthew, »dann fange ich jetzt damit an. Rebecca «, fügte er leicht spöttisch hinzu. »Und wer hat Euch erlaubt, mir meine Äpfel zu stehlen?« Er nahm ihn ihr weg, bevor sie ihn an ihren Mund führen konnte, und biss zu. Noch ein bisschen grün und sauer, aber egal. »Ich sagte, dass ich heute Berry und Zed sehen will«, erklärte er, während er kaute. »Jetzt. Ist das verständlich genug für Euch ausgedrückt?«

Sie antwortete nicht. Sie stand mit ausdrucksloser Miene wie eine Chiffre da, zeigte vielleicht, dass sie keine Seele hatte. Oder womöglich kämpfte sie einfach nur darum, nicht die Beherrschung über eine Szene zu verlieren, die dem Bühnenschriftsteller entgleist war.

»Na gut. Ich werde sie auch ohne Hilfe finden.« Matthew nahm die Keramikschale, um weiteren Diebstahl zu verhindern und um Berry und Zed Obst mitzubringen. Denn er hatte fest vor, entweder jemanden aufzuspüren, der ihm die richtige Tür aufschloss, oder sie einzutreten.

Sie wartete, bis er den Türgriff in der Hand hatte, bevor sie sprach. »Ihr könnt nur ein paar Minuten bei ihnen verbringen. Falls ich Euch hinführe.«

Er drehte sich zu ihr um, als suchte er nach der richtigen Stelle, in die er den Degen versenken konnte, jetzt, wo ihre Verteidigungshaltung zunichtegemacht war. »Ihr werdet mich hinbringen«, sagte er. »Und ich werde so lange dort bleiben, wie ich möchte.«

Sie zögerte. Dann verzog sie den Mund zu einem kleinen, katzenartigen Lächeln. »Ich weiß nicht, ob mir dieser Nathan Spade sonderlich zusagt. Er teilt anscheinend gern Befehle aus, obwohl er nicht autorisiert …«

»Schweigt«, sagte Matthew knapp. »Ich habe nicht darum gebeten, hier zu sein. Meine Freunde auch nicht. Also bringt mich zu ihnen oder macht Platz oder tut, was Ihr tun müsst, Madam. Aber Euer Geschwätz höre ich mir nicht länger an.«

Ein Hauch von Rot stieg Aria Chillany in die Wangen. Sie blinzelte, als hätte man sie geohrfeigt. Aber das erstaunlichste war, fand Matthew, dass sich in ihren Augen nicht Unmut, sondern Ungestüm zeigte. Sie begann auf ihrer Unterlippe zu kauen, als könnte ein Wein des erlesensten Jahrgangs daraus hervorquellen.

»Ich werde Euch hinbringen«, sagte sie leise.

Gut , dachte Matthew, und wäre die Frau nicht in seiner Nähe gestanden, dann hätte er derartig erleichtert ausgeatmet, dass es die Segel von den Masten gerissen hätte.

Er folgte ihr den Korridor entlang. Sie holte einen Schlüssel aus der Innentasche ihrer Jacke und machte sich daran, ungefähr zehn Meter von Matthews Kajüte entfernt eine schmale Tür aufzuschließen – nur um zu entdecken, dass die bereits aufgesperrt war. Widerstandslos drehte sich der Knauf unter ihren Fingern. Sie steckte ihren Schlüssel zurück in die Tasche. »Anscheinend haben Eure Freunde heute Morgen bereits einen Besucher«, sagte sie.

Hinter der Tür lag eine Treppe, die unter an Haken von der Decke hängenden Lampen nach unten führte. Unten befand sich eine weitere Tür. Hier im Bauch des Schiffes, näher am Meer und den Muscheln, die vermutlich zu Hunderten am Kiel hingen, war der Geruch von Teer, Fisch und altem, nassem Holz geradezu betäubend. Das fortwährende leise Donnern der Wellen war schon schlimm genug, aber das Knarzen der Nightflyer klang, als bräche das Schiff an den Zapfen, Nägeln und Nähten auseinander. Und hier unten schwankte das Schiff wie ein tollwütiger Hund. Matthew hatte keinen Zweifel daran, dass er irgendwann Berrys Zorn darüber zu spüren bekommen würde. Dabei war er es, der verärgert sein sollte, denn wer hatte sie gebeten, ihre Nase in diese Angelegenheit zu stecken? Wer hatte sie gebeten, hinter ihm herzuschleichen und in dem augenscheinlichen Versuch, ihn zu retten, auf dem Anleger zu erscheinen? Wer hatte sie darum gebeten?

Ich nicht , dachte Matthew und merkte nicht, dass er es laut gesagt hatte, bis Aria Chillany einen Blick über ihre Schulter warf und fragte: »Was, bitte?«

Er schüttelte den Kopf. Sie führte ihn durch eine zweite Tür in den Bauch des Schiffs hinein.

Für einen Moment fühlte er sich in die Zeit zurückversetzt, in der er das heruntergekommene Gefängnis von Fount Royal betreten hatte, um sich als Gerichtsdiener eine Hexenanklage anzuhören. Dies mochte ein Schiffsgefängnis sein, aber die vier Zellen sahen vertraut aus und die Eisenstäbe genauso abweisend wie die Landkäfige für Menschen. Mehrere schmutzige Laternen baumelten an Haken und beleuchteten die Szene mit trübem gelbem Licht. Eine Ratte huschte vor Matthews Füßen auf der Jagd nach einer krebsgroßen Kakerlake über den Boden. Fauliger Gestank vermischte sich mit dem Geruch von schimmeligem, nassem Holz. Das fischige Gedärm des Schiffs stank apokalyptisch. Matthew spürte kalte Wut in sich hochsteigen, als er Zed in einer Zelle zu seiner Linken entdeckte, und Berry – sie sah wie ein armseliger, verschimmelter Lumpenhaufen mit verfilzten roten Haaren aus – rechts in der am weitesten entfernten. Beide hatten eine Strohmatratze und einen Eimer, und damit hörte die Gastfreundschaft auf.

»Gott verdammt noch mal!« Matthew brüllte es fast. Seine Kehle hatte sich zusammengekrampft. »Holt sie da raus!«

Ein Mann trat aus dem Dunkeln von Zeds Zelle. »Sir, bitte beherrscht Euch.«

»Ich soll mich beherrschen ? Heiliger Himmel!« Matthew war völlig außer sich, rot angelaufen und schäumte vor Wut. Er hatte das Gefühl, dass er jedem Mistkerl, der sich ihm widersetzte, den Kopf abreißen konnte – selbst wenn es sich dabei um den ziegenbärtigen, gestrengen Captain Jerrell Falco handelte, der mit seinem gedrechselten Stock bewaffnet vor ihm stand und ihn mit unbewegten, eher angsteinflößenden bernsteinfarbenen Augen ansah. »Das hier sind meine Freunde!«, warf Matthew Falco ins Gesicht. »Sie sind keine Tiere und sie haben nichts verbrochen!«

»Oh je«, sagte Madam Chillany, ein dünnes, höhnisches Grinsen im Gesicht, das fast ihr letztes geworden wäre. »Ich wusste, dass das keine gute Idee war.«

»Matthew!«, rief Berry. Sie klang schwach und krank. Und wem würde es schon anders gehen, dachte Matthew, in diesem Unterwassersarg, der nach Teer und toten Fischen stank, wo das Schiff derartig rollte, dass es einem die Organe aus dem Körper riss.

»Lasst sie raus!« , brüllte Matthew sowohl die Frau als auch den Kapitän an. Der Dame rutschte ihr Grinsen vom Gesicht und Falcos Ziegenbart rauchte vielleicht ein bisschen.

Der gedrechselte Stock wurde sanft, aber fest auf Matthews rechte Schulter gelegt.

»Ruhe«, sagte der Kapitän, »ist in misslicher Lage eine Tugend, junger Mann. Darf ich Euch raten, in Euren Äußerungen mir gegenüber tugendhafter zu werden, und zwar schon mit Eurem nächsten Wort.« Er hatte eine tiefe, resonante Stimme. Matthew dachte, dass jeder Pfarrer für diese Stimme seine Seele verkaufen würde. Und dann drehte Falco den Kopf und sagte etwas in einem rauen Dialekt zu Zed. Mit bodenlosem Erstaunen hörte Matthew, wie Zed ein kehliges Lachen von sich gab.

»Ihr könnt … mit ihm reden ?«, fragte Matthew und spürte, wie der Schweiß, den die Wut ihm auf die Stirn getrieben hatte, zu verdampfen begann. »Er versteht Euch?«

»Ich spreche Ga«, antwortete Falco. »Und noch fünf weitere Sprachen. Lesen und schreiben kann ich insgesamt in zehn Sprachen. Ich bin in Paris zur Schule gegangen und habe auf drei Kontinenten gelebt. Warum hätte ich nicht Nutzen aus meinen Reisen ziehen sollen?«

»Er versteht Euch«, wiederholte Matthew. Diesmal war es eine Feststellung.

»Ich glaube, diese Tatsache haben wir soeben bewiesen.« Falco runzelte die Stirn. Seine Augenbrauen waren grau, aber noch nicht schneeweiß wie sein Bart. Die Haare, die unter dem braunen Lederdreispitz herausschaute, waren ebenfalls grau. »Was macht Ihr hier unten?« Die bernsteinfarbenen Augen richteten sich auf Madam Chillany. »Warum habt Ihr ihm das gestattet?«

»Er bestand darauf.«

»Wenn ich darauf bestehe, dass Ihr mit einer Halskette aus Fischgedärm zu den Haien springt, würdet Ihr das auch tun?« Er bedachte sie mit einem Blick, der der durchschnittlichen Frau die Knie hätte zittern lassen, aber da Aria Chillany selbst fast eine Hexe war, hatte er keinen großen Effekt.

Matthew ging an den beiden vorbei zu Berrys Zelle. Zu sagen, dass sie ein trauriges Häufchen Unglück war, wäre eine so passende Beschreibung, als erklärte man, dass nachts nicht die Sonne schien. Und ihre üblicherweise so sonnige Frohnatur war in diesem fortwährenden Dämmerlicht derartig getrübt, dass Matthew spürte, wie sich frische Tränen der Wut an seinen Augäpfeln vorbeischoben. »Verdammt!«, sagte er. Er legte eine Hand um die Gitterstäbe. In der anderen trug er immer noch die Schale mit dem Apfel, der Orange und Zitrone. Die Zellen waren für meuternde und verrückt gewordene Matrosen gedacht, und Eisen, das sich einem Ga-Krieger nicht ergab, würde einem Problemlöser nicht weichen. Berry kam mit ins Gesicht hängenden Haaren dicht an ihn heran, und Augen, die so trübe wie das Licht waren. »Kannst du mir frisches Wasser besorgen?«, fragte sie ihn. »Ich bin so durstig.«

»Ja«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Ich werde dir frisches Wasser besorgen. Aber nimm erst mal die hier.« Er schob die Orange zwischen den Stäben hindurch, und sie nahm sie und biss in die Schale, als wäre die Orange das erste Stück Essen, das sie seit dem Ablegen in New York erhalten hatte. Matthew drehte sich zu Falco und Madam Chillany um. In seinen Augen schwelte so etwas wie Mordlust. »Ich will, dass meine Freunde hier rauskommen. Captain, ich bitte Euch von ganzem Herzen. Sie haben kein Verbrechen begangen, das diese Art von Strafe rechtfertigen würde. Ich will sie aus den Zellen befreit und in anständigen Kajüten untergebracht sehen.«

»Unmöglich«, sagte die Frau. »Alle sind besetzt.«

»Ich denke, man kann alles benutzen, was zur Verfügung steht«, sagte Matthew. »Zum Beispiel könnte Eure Kajüte freiwerden, wenn Ihr zu Eurem Gatten ziehen würdet. Ich meine, zu dem Mann, der sich als Euer Gatte ausgegeben hat. Vielleicht verliebt Ihr Euch wieder bis über beide Ohren, wenn Ihr erst ein paar Nächte bei ihm geschlafen habt.«

»Lieber sterbe ich!«, kreischte die Harpyie.

Matthew ignorierte sie. »Captain, könntet Ihr eine Koje für einen Ga finden? Und ihm vielleicht etwas zu arbeiten geben, nachdem er eine richtige Mahlzeit und gesunde Luft in die Lungen bekommen hat?«

»Er bleibt hier!«, sagte Madam Chillany. »Das ist für alle am sichersten!«

Captain Falco hatte Matthew konzentriert gemustert. Jetzt richtete sich sein bernsteinfarbener Blick auf die Frau. »Höre ich Euch Entscheidungen über mein Schiff und meine Besatzung fällen, Madam?«, fragte er leise. »Falls dem so ist, lasst Euch daran erinnern, dass dieses Schiff unter meinem Befehl …«

»Ich sagte nur, dass es besser ist, wenn er hinter verschlossenen …«

»Ich höre, was Ihr sagt«, sprach der Kapitän weiter, »und bedanke mich für Eure Meinung.« Er sah wieder Zed an und sagte irgendetwas, das Zed mit den Schultern zucken ließ. »Ich glaube nicht, dass er eine Gefahr darstellt«, erklärte Falco an Matthew gewandt. »Das Mädchen ist ganz sicher keine Gefahr.«

»Sie sollten hier rausgelassen werden«, sagte Matthew. »Je eher, desto besser.«

»Das sehe ich anders.« Madam Chillany stellte sich zwischen Matthew und Falco, um ihre wachsende Übereinstimmung zu stören. »Captain, darf ich Euch daran erinnern, dass Ihr sehr gut dafür bezahlt werdet, die …«

»Madam, Ihr bezahlt mich nicht«, sagte er mit der Andeutung einer verächtlich verzogenen Lippe. »Ja, ich werde sehr gut bezahlt. Solange mein Dienstherr gut zahlt, bin ich ihm treu. Ich übe meine Arbeit stets so gut aus, wie ich nur kann … aber meine Arbeit, Madam, besteht daraus, unter den Segeln über unseren Köpfen die bestmöglichsten Entscheidungen zu fällen. Ich komme schon seit Tagen hier herunter, um mit dem Ga zu sprechen. Und auch mit dem Mädchen. Als sie an Bord gebracht wurden, ist mir lediglich gesagt worden, dass sie aus Sicherheitsgründen und der Einfachheit halber hier in die Zellen kommen sollten, und ich habe Euch beigestimmt. Zu dem Zeitpunkt habe ich Euch beigestimmt«, fügte er hinzu. »Aber jetzt, nachdem ich mit beiden gesprochen habe und die … wollen wir sagen … gegebenen Sachverhalte etwas besser verstehe, sehe ich keinen Sinn mehr darin, sie noch länger in diesen Zellen zu lassen.« Er streckte die Hand nach der Wand aus, wo ein Schlüsselring an einem Haken hing. »Denn wo sollten sie schon hingehen ? Und ich glaube, dass die Degen und Pistolen an Bord unseres Schiffes mit einem Ga zurechtkommen, sollte er die Beherrschung verlieren.« Wieder sagte er etwas zu Zed, der mit einem Grunzen tief in der Brust und einem Kopfschütteln antwortete. »Madam«, übersetzte Falco, »er schwört, seine Beherrschung nicht zu verlieren.«

»Dem Professor wird das nicht gefallen«, warnte sie, als Falco einen Schlüssel in das Schloss von Zeds Zelle steckte, und Matthew wusste sofort, dass sie eine Drohung zu viel ausgesprochen hatte.

Falco schloss die Zelle auf und öffnete die an ihren meeresrostigen Scharnieren quietschende Tür. Er winkte Zed heraus. »Ich glaube, unser junger Gast hatte eine gute Idee«, sagte Falco. »Was die Unterbringung angeht. Ich denke, unserem Ga hier können Arbeiten zugewiesen werden, mit denen er sich zumindest ein Laken an Deck, wenn nicht eine Hängematte verdienen kann.« Er schlenderte an Matthew vorbei, um einen anderen Schlüssel in das Schloss an Berrys Zellentür zu stecken. »Was sie angeht, sollte sie sich zur Wiedergutmachung für diese unwürdige Behandlung in ein bisschen Komfort erholen können. Madam, ich erwarte, dass Ihr noch in dieser Stunde in die Kajüte des Arztes umzieht. Falls er daran etwas auszusetzen hat, weiß er, wo er mich finden kann.«

»Nein!« Die Frau hatte ein lautes Organ. Es erschütterte fast die Eichenbohlen der Decke. Ihre Augen blitzten. Sie war fuchsteufelswild. »Ich weigere mich! Er schnarcht, dass sich die Balken biegen, und seine Füße stinken wie der Arsch des Teufels!«

Der Schlüssel drehte sich. Das Schloss sprang auf. Falco öffnete die Tür und Matthew war zur Stelle, um Berry aufzufangen, als sie herausstolperte.

»Ich kann Euch gern mit Baumwollstückchen versorgen«, sagte Falco zu Aria Chillany. »Zwei für die Ohren und zwei für die Nase. Wollen wir nun nach oben gehen und die Sonne genießen?«