Kapitel 13

 

An diesem Tag war Matthew nicht er selbst. Es war der dreizehnte Morgen, an dem er sich an Bord der Nightflyer befand, und er war ruhelos und gereizt und hatte das Gefühl, aus der Haut zu fahren, wenn sie nicht endlich den Hafen erreichten. Natürlich würde das Erreichen des Hafens eine eigene Misere mit sich bringen. Ihm taten die Besatzungen und Passagiere der Schiffe leid, die von England in die Kolonien segelten. Aber eine Flucht aus dem ewigen Rollen des Schiffs in den Wellen und dem Anblick von Sonnenschein auf dunkelblauem Wasser bot sich ihm: Er wurde zu Nathan Spade.

Madam Chillany hatte ihm an dem Nachmittag, an dem Berry und Zed aus den Zellen gelassen wurden, mit kalter Stimme gesagt: Ich nehme an, Ihr seid stolz darauf, dieses kleine Scharmützel gewonnen zu haben? Aber vor Euch liegen echte Kämpfe, Matthew, und ich hoffe, dass Ihr die Kraft habt, sie genauso tapfer auszutragen, denn Ihr werdet vielleicht um Euer Leben kämpfen. Ich würde Euch raten, das Pergament zur Hand zu nehmen, das Ihr so achtlos beiseite geworfen habt, und es ganz durchzulesen. Professor Fell hat es für Euch zusammengestellt. Deshalb ist es ernst zu nehmen. Prägt Euch das Leben und die Erlebnisse von Nathan Spade ein, mein Liebling. Werdet zu ihm, wenn Euch Euer Hals lieb ist … und die Hälse Eurer Freundin und des Mohren. Am Ende nächster Woche werden wir in den Hafen einlaufen. Bis dann solltet Ihr Nathan Spade sein. Merkt Euch diesen Rat gut, ja?

Werde ich , hatte Matthew zurückgegeben. Ich hoffe, Eure neue Kajüte wird Euch gefallen. Ich bedanke mich für Eure Gastfreundschaft Miss Grigsby gegenüber.

Eine merkliche Kühle hatte in der Luft gelegen, als die Frau seine Kajüte verlassen hatte.

Warum er zu Nathan Spade werden sollte, wusste er nicht. Aber da Aria Chillany derartig darauf beharrte, dass er beim Anlegen nicht mehr Matthew Corbett war, schien es das Beste zu sein. Und was ihre Behauptung anging, dass Einige der Personen, auf die Ihr treffen werdet, Lyra Leka kannten … Nun, lang lebe Nathan Spade.

Ob Nathan Spade jemals wirklich gelebt hatte oder nicht, war eine Frage, über die Matthew sich Gedanken machte. Schließlich beschloss er, Madam Chillany nicht danach zu fragen, denn die Existenz einer solchen Kreatur würde seine Auffassung von Gottes Macht über das Böse auf der Erde lediglich weiter trüben. Als Matthew an diesem dreizehnten Morgen im Sonnenschein mit der ausgeruhten, gesättigten und schimmelfreien Berry an seiner Seite an Deck spazieren ging, dachte er beunruhigt über das Leben und die Erlebnisse von Master Spade nach.

Nathan Spade beging einen Mord nach dem anderen, als befände er sich auf einer Entdeckungsreise zum tiefsten Tief der menschlichen Seele. Anscheinend war Spade äußerst gut im Morden geworden. Er hatte sich einer Gruppe Londoner Verbrecher angeschlossen, die die Last Chancers genannt wurden, und – möge es bitte Professor Fells Versuch von Erzählkunst sein – bis zu seinem zwanzigsten Geburtstag acht Männer ermordet. Und dann weitere zwei an seinem zwanzigsten Geburtstag, anscheinend nur zum Spaß. Man nannte ihn das Pepper Kid , weil er seinen Opfern eine Handvoll gemahlenen Pfeffer in die Augen warf, bevor er ihnen mit einem gebogenen Messer entweder den Bauch oder die Kehle aufschlitzte – je nachdem, ob er sie schnell oder langsam sterben lassen wollte. Dann wurde er zu einem Zuführer erster Klasse und beschaffte den Last Chancers die Gin-getränkten Dirnen, mit denen sie die Zimmer ihres Freudenhauses an der Blue Anchor Road in Southwark bestückten. Er erfüllte diese Rolle mit dem höchsten, übelsten Ehrgeiz, den ein Sauhund nur haben konnte, denn er hatte die Last Chancers darauf aufmerksam gemacht, dass kleine Mädchen und Jungfrauen sich in jeder Wirtschaftslage gut verkaufen ließen – und dass in Londons Straßen ständig kleine Mädchen zu finden waren, die sich verlaufen hatten oder vor die Tür gesetzt worden waren. Und es gab immer Ärzte, die den Stolz einer munteren Jungfrau für eine gewisse Summe mit Nadel und Faden wiederherstellten.

»Ich wünschte, du würdest mir diese Dinge nicht erzählen«, sagte Berry auf ihrer Deckumrundung, als Matthew diesen Aspekt von Nathan Spades Charme erwähnte. Dann berichtigte sie sich: »Aber ich will es wissen. Warum musst du so tun, als ob du er wärst? Und was will dieser Professor Fell von dir?«

Matthew war keine andere Wahl geblieben, als ihr alles zu erzählen, was er wusste. Er sah sie während seiner Spaziergänge jeden Tag, aber Zed hatte er nur ein paarmal zu Gesicht bekommen, da der meist unter Deck arbeitete. Matthew war zu dem Schluss gekommen, dass es kein nobles Bestreben mehr war, Berry im Ungewissen zu halten, sondern unbarmherzig. »Wie ich schon sagte«, gab er zurück. »Er will, dass ich für ihn arbeite. Um irgendein unbekanntes Problem zu lösen. Aber ich vertraue seinem Versprechen, uns danach wieder zurück nach New York zu bringen.«

»Und warum solltest du seinem Wort vertrauen?«

Matthew sah sie an. Ihm fiel auf, dass sie braun wurde. Ihre Sommersprossen wurden von ihrem gesunden Teint betont. In den letzten paar Tagen hatte die Sonne die Tage so warm wie Aprilwetter in New York werden lassen. Sie näherten sich den Bermuda-Inseln und Matthew schätzte, dass sie nur noch ein paar Tage weit von Land entfernt sein konnten. »Ich muss es«, antwortete er. »Obwohl ich … sozusagen … seine Pläne mehr als einmal durchkreuzt habe, glaube ich, dass er mich …« Er zögerte und überlegte, wie er es ausdrücken sollte. »… für seine Zwecke nützlich findet«, sagte er.

»Ich begreife immer noch nicht, warum du niemandem etwas davon gesagt hast, Matthew! Von den Mallorys! Ich meine … Doctor Gentry und diese Frau .« Sie sprach das Wort mit großer Verachtung aus. »Du hättest es Hudson sagen können! Warum hast du’s nicht getan?«

»Aus demselben Grund, aus dem ich dir nichts gesagt habe«, erinnerte er sie. »Ich wollte nicht, dass jemand meinetwegen stirbt. Wenn Hudson sich hier eingemischt hätte, wäre er von ihnen vielleicht umgebracht worden. Weil es nicht er war, den sie wollten. Und nicht anders mit dir. Und jetzt … bist du natürlich hier. Sieh dir an, was passiert ist. Jetzt haben sie nicht nur mich , sie haben dich durch Zed in ihrer Gewalt und mich durch dich

»Wie du bereits erwähnt hast«, sagte sie mit einem Aufblitzen von Verärgerung in ihren blauen Augen. »Oft.«

»Und ich werde es noch oft sagen, bevor ich damit fertig bin.« Sein Zorn brodelte nicht so schnell über, aber brannte vielleicht tiefer. Trotzdem gewann er nichts damit, ihr ihre Halsstarrigkeit vorzuwerfen – einen Charakterzug, den er ebenfalls besaß und der ihn selbst öfter in brenzlige Lagen gebracht hatte.

Sie gingen weiter, beendeten eine Umrundung des Decks und achteten darauf, weder über aufgerollte Taue noch die vielen Matrosen zu stolpern, die die nassen Planken schrubbten. »Also gut«, sagte Matthew. »Ich mache weiter mit Master Spade, wenn du noch mehr hören willst.«

Berry zögerte nur kurz. Ihre damenhafte Empfindlichkeit konnte sich nicht mit ihrer übermächtigen Neugierde messen. »Mach weiter.«

Das tat Matthew auch. Nathan Spade – falls er tatsächlich gelebt hatte – war anscheinend ein äußerst erfolgreicher Zuführer gewesen und hatte im Alter von zweiundzwanzig Jahren im Blue Anchor Bordell der Last Chancers das Sagen. Ein halbes Jahr später vertraute man dem Pepper Kid ein weiteres Freudenhaus von Southwark in der Long Lane an. Und mit vierundzwanzig war er derartig bekannt dafür, neues Talent zu finden und Konkurrenten ein Messer in den Bauch zu stecken, dass er von einem gewissen Doctor Jonathan Gentry im Auftrag eines gewissen Professors kontaktiert wurde, der wissen wollte, ob der zuvor genannte Master Spade in dieser Welt aufsteigen wollte. Und zwar in einem neuen Haus fast im Schatten des Parlamentsgebäudes, wo Männer guter Herkunft und erfreulichen Wohlstands sich unter Frauen schlechter Herkunft mischten, die darauf aus waren, die gefüllten Taschen um einen Anteil des erfreulichen Wohlstands zu erleichtern. Und es genügt zu sagen, dass die Frauen wunderschön waren und aus den beischlafbenommenen oder verliebten Schwerenötern rücksichtslos Auskünfte herauskitzelten, die sie an Nathan Spade weitergaben, der sie an Doctor Gentry weiterleitete, von wo sie ans Ohr des Professors gelangten.

Ein wunderbares Angebot.

Das Pepper Kid war in seinem persönlichen Reich aus Milch und Honig angekommen. Jetzt brauchte er weder Pfeffer noch Messer, denn er konnte auf die Auftragsmörder des Professors zurückgreifen, wenn diese Arbeit vonnöten war. Er trug nun teure italienische Anzüge und flanierte mit den anderen reichen, gut platzierten Schlitzohren in den Hallen der Diplomaten.

»Widerwärtig«, lautete Berrys Kommentar, als der Vortrag beendet war.

»Da stimme ich dir zu«, sagte Matthew, aber er wurde trotzdem immer mehr zu Nathan Spade und fühlte sich daher gezwungen hinzuzufügen: »Aber Ehrgeiz muss man bewundern.« Er wurde sich bewusst, dass er diese Worte aus dem Wissen eines Bauernsohnes heraus sprach, der wusste, was nötig war, um einem Berg von Schweinescheiße zu entkommen.

Matthew und Berry wurden auf einige Matrosen aufmerksam, die sich an der Steuerbordseite zusammendrängten. Sie schauten, wohin die Finger und aufgeregt grinsenden Gesichter zeigten: hoch in die komplizierte Takelage der Nightflyer . Dort, im Dschungel aus Seilen und Netzen, kletterten und sprangen zwei Gestalten umher, während die Segel sich straff mit dem eingefangenen Wind blähten und an den Masten zerrten. Matthew sah, wie auf dem Deck ein paar Matrosen Münzen in eine schwarze Kiste warfen, die ein griesgrämig aussehender Seemann herumreichte. Neben ihm schrieb ein anderer Mann akribisch in ein Kontenbuch. Oben schwangen sich die beiden Gestalten an Seilen von Mast zu Mast, und auf Deck schrien einige Matrosen fröhlich auf, während andere abwertend pfiffen. Matthew erkannte, dass er nicht nur ein Rennen zwischen den Männern in der Takelage über sich sah, sondern dass auch gewettet wurde, wer gewinnen würde – aber wo die zum Preisgewinn zu überquerende Ziellinie lag, war ihm unklar. Anhand der vielen Rufe und ziemlich ungehobelten Ermunterungen der Wettenden fragte er sich, ob die Masten mehrmals umrundet werden mussten und es nicht nur um Geschwindigkeit und Wendigkeit, sondern auch um Ausdauer ging.

Eine Erinnerung stieg plötzlich in ihm hoch.

Sie hatte mit dem irokesischen Fährtenfinder Wanderer in zwei Welten zu tun, der ihm bei seiner Jagd nach Tyranthus Slaughter so entscheidend geholfen hatte. Der Wanderer hatte Matthew von einer Vereinbarung erzählt, die mehrere reiche Engländer getroffen hatten.

Man einigte sich darauf, drei Kinder auszuwählen und sie zu einer der fliegenden Kanuwolken zu bringen, die sich bei Philadelphia im Wasser ausruhten, hatte der Wanderer gesagt. Flinker Kletterer wurde ausgewählt, dann noch Hübsches Mädchen sitzt allein – und ich war der dritte. Uns drei Kindern und unserem Stamm wurde gesagt, dass wir die englische Welt und die Stadt London mit eigenen Augen sehen würden. Und wenn sie uns nach zwei Jahren wieder zurückbringen würden, könnten wir unserem Stamm selbst erzählen, was wir gesehen haben. Das sollte uns alle zu Brüdern werden lassen, sagten die Männer.

Aber Matthew wusste noch, dass das nur ein Teil der Geschichte gewesen war.

Beim bloßen Gedanken an die Reise wird meine Seele zu Asche , hatte der Wanderer gesagt. Als Matthew die Männer beobachtete, die durch die Seile hoch über seinem und Berrys Kopf schwangen, wusste Matthew wieder, woran ihn das erinnerte.

Flinker Kletterer überlebte die Schiffsreise nicht , hatte der Wanderer ihm erzählt. Die Matrosen hatten angefangen, Wetten abzuschließen, wie schnell er die Takelage hochklettern konnte, um eine mit einem Stück Leder am Mast befestigte Möwenfeder runterzuholen. Und sie haben sie höher und höher gehängt. Sie haben ihm Pfefferminzbonbons zur Belohnung gegeben. Er hatte einen davon im Mund, als er fiel.

Die Seemänner schrien auf. Einer der Akrobaten war abgerutscht, hatte sich aber im Sicherheitsnetz fangen können. Er kletterte wieder hoch, zum nächsten Seil, ohne davon beeindruckt zu sein, dass er um ein Haar gestorben wäre.

Als wir in England ankamen, hatte der Wanderer gesagt, wie Matthew sich erinnerte, ist Hübsches Mädchen sitzt allein von zwei Männern weggeführt worden. Ich habe sie so lange an der Hand festgehalten, wie ich konnte, aber sie haben uns auseinandergerissen. Sie haben sie in eine Pferdekiste gesteckt, in eine Kutsche. Sie sind mit ihr davongefahren, irgendwohin. Wohin, habe ich nie herausgefunden. Ein paar andere Männer haben mich in eine andere Kutsche geschubst, und dann sollte ich meinen Stamm fast zehn Jahre lang nicht wiedersehen.

Matthew kannte noch den Rest der Geschichte; dass der Wanderer in mehreren Theaterstücken den noblen jungen Wilden darstellen musste und dann – als das Glück ihn verließ, weil eine Rothaut auf Londoner Bühnen nichts Besonderes mehr war – bei einer Schaustellertruppe zum Dämonischen Indianer geworden war. Schließlich kehrte er zu seinem Stamm zurück, trauriger, weiser und – so sagte er – verrückt geworden.

Das Wettrennen ging weiter und weiter. Ein Fuß rutschte am Mast ab. Ein Seil wurde gepackt. Die zwei Männer, die auf derselben Rahe gelandet waren und sich gegenüber standen, rangen einen Moment lang wild miteinander. Einer fiel und verursachte einen lauten allgemeinen Aufschrei. Er landete in einem Sicherheitsnetz dreieinhalb Meter über Deck, sodass die Schau von rauem Können in den Seilen ohne Blutvergießen oder gebrochene Knochen endete. Anscheinend gehörte es zum Spiel dazu, den Gegner vom Mast zu werfen, denn ein zweiter Aufschrei schallte zum Sieger empor und die Männer begannen sich zusammenzudrängen, um sich ihre Auszahlungen aus der schwarzen Kiste zu holen.

»Eine Windjagd«, sagte jemand hinter Matthew und Berry. Es gab nur eine einzige Stimme auf der Nightflyer , die so klang. »So nennt man das«, sagte Captain Falco, als sie ihn fragend ansahen. »Eine alte Tradition. Wir sind dem Hafen jetzt nahe genug, dass ich fand, sie haben eine kleine Belohnung verdient.«

»Wie nahe am Hafen?«, fragte Matthew.

»Zwei Tage entfernt.« Die Bernsteinaugen suchten den Himmel ab. »Das Wetter bleibt noch so. Der Wind hält uns auf Kurs. Ja, zwei Tage noch.«

»Gott sei Dank«, sagte Berry mit einem erleichterten Seufzer, der vielleicht etwas voreilig war. »Ich kann es kaum erwarten, wieder Land unter den Füßen zu haben!« Dabei war diese Fahrt kein Vergleich zu ihrer qualvollen Reise auf der vom Pech verfolgten Sarah Embry von England nach New York letzten Sommer.

»Das kommt bald genug, Miss.« Falco betrachtete Matthew einen Moment lang schweigend. Matthew hatte das Gefühl, dass er versuchte, sich zu entscheiden. »Mr. Corbett«, sagte der Kapitän schließlich, »würdet Ihr mir die Gunst erweisen, heute Abend mit mir anzustoßen? Sagen wir um acht in meiner Kajüte? Ich habe etwas, das ich mit Euch bereden will.«

»Worum handelt es sich, wenn ich fragen darf?«

»Um Eure Anwesenheit hier. Und ich würde es schätzen, wenn Ihr keinem Eurer anderen Freunde davon erzählen würdet.«

»Oh. Ich verstehe.«

»Nein, Ihr versteht nicht «, korrigierte Falco ihn in einem etwas härteren Ton. Er sah hoch, wie er es mehr als hundertmal am Tag tat, um den Wind in den Segeln zu messen. »Zwei Tage weit entfernt«, wiederholte er. Und dann, an Matthew gewandt: »Pünktlich um acht.« Er drehte sich um und wandte sich seiner Aufgabe zu, ein Segelschiff zu befehligen, das der Kaiser der Verbrecher angeheuert hatte.