»Herein«, sagte Captain Falco, als die Glocke an Deck achtmal geschlagen wurde. Matthew hatte soeben an die mit einem geschnitzten Löwengesicht verzierte Tür geklopft. Er drehte den Knauf und erwartete halb, dass der Löwe brüllen würde. Dann betrat er die Kapitänskajüte, in der Falco sich gerade an einer auf einem Tisch stehenden Kerze seine Tonpfeife ansteckte.
»Setzt Euch«, kam die nächste Einladung, die mehr wie ein Befehl klang. Falco atmete eine Rauchwolke aus und deutete auf einen Stuhl, der ihm gegenüber auf der anderen Seite des Tisches stand.
Matthew gehorchte. Er sah, dass Falcos Teller voller Gräten vom Abendessen lag, daneben die Überreste von Zwieback und brauner Soße. Auf einem kleineren Teller lagen Limettenscheiben. Zwei Holztassen und eine dickbauchige, zwiebelförmige Flasche aus schwarzem Glas standen ebenfalls auf dem Tisch. Matthew ließ seinen Blick schnell durch die Unterkunft des Kapitäns schweifen. Sie lag im Bug der Nightflyer und hatte sechs mit Fensterläden versehene Fenster, die offenstanden und eine Aussicht aufs Meer und den sternenbesetzten Himmel gewährten. Sehr viel größer als Matthews Kajüte war sie allerdings nicht. Es gab eine Eichenholzkommode mit Spiegel, darauf eine Wasserschüssel. Auf einem Pult lagen eine graue Schreibunterlage und eine Feder, daneben stand ein Tintenfass. Ein Bett – eher eine Koje mit dünner Matratze – war so säuberlich gemacht, dass der straff gespannte Stoff darauf Qualen zu leiden schien. Mehrere Laternen hingen an in die Deckenbalken eingelassenen Haken und beleuchteten das Reich des Kapitäns. Falco rauchte seine Pfeife und Matthew registrierte das satte, duftende Aroma von Tabak aus Virginia.
»Schenkt Euch ein.«
Wieder gehorchte Matthew. Aus der schwarzen Flasche floss ein durchsichtig goldener Likör in seine Tasse.
»Brandy«, sagte der Kapitän. »Ich habe mich dafür entschieden, einen guten Tropfen aufzumachen.«
»Danke.« Matthew nippte daran und befand den Tropfen für mehr als gut, aber nicht so stark, dass ihm die Augen tränten – was er erwartet hatte.
»Ein zivilisierter Trunk.« Falco schenkte sich selbst ein. »Für zivilisierte Männer, hm?«
»Ja«, antwortete Matthew, denn Falco schien einen Kommentar zu erwarten. Der Kapitän bot Matthew den Teller mit den Limettenscheiben an, aber Matthew schüttelte den Kopf. Falco kaute an einer der Scheiben, inklusive der Schale. Er hatte eine hohe, sehr faltige Stirn und Geheimratsecken in seinen eisengrauen Haaren. An seinem linken Ohr fehlte das obere Stück. Matthew fragte sich, ob er vielleicht die Bekanntschaft eines Fechters namens Dahlgren gemacht hatte. Bei dieser Beleuchtung schien Falcos Haut vom tiefsten, bläulichen Tintenschwarz zu sein, was die Bernsteinaugen bei ihrer unaufhörlichen Begutachtung des Gastes sowohl heller als auch durchbohrender wirken ließ.
Falco aß die Limette auf, bevor er erneut sprach. »In was, beim Namen des Herrn, seid Ihr da hineingeschlittert?«
Die Frage war so direkt, dass Matthew ein paar Sekunden lang wie betäubt war. »Sir?«
»Ich wiederhole mich nicht.« Pfeifenqualm rollte durch die Luft.
Stille dehnte sich aus, während der eine Mann wartete und der andere überlegte.
Schließlich sagte Matthew: »Das weiß ich wirklich noch nicht.«
»Dann findet Ihr es besser schleunigst heraus. Übermorgen kommen wir auf Pendulum an.«
Matthew war unsicher, ob er richtig gehört hatte. Er runzelte die Stirn. »Pendulum?«
»Pendulum Island. Es ist eine der Bermuda-Inseln und gehört … aber Ihr wisst, wem es gehört. Oder nicht?«
»Doch.«
Falco nickte, den Pfeifenstiel fest zwischen die Zähne geklemmt. Seine Augen sahen gleichzeitig unheilvoll und heiter aus. Spöttisch vielleicht , dachte Matthew. Oder vorsichtig neugierig. »Habt Ihr Angst?«, fragte Falco.
Den Löwen anzulügen, nützte nichts. »Ja.«
»Solltet Ihr auch. Meinen Dienstherrn muss man fürchten, wie ich höre.«
»Wie Ihr hört ? Habt Ihr ihn denn noch nie getroffen?«
»Nein. Hab ihn nie zu Gesicht bekommen. Seine Befehle kommen mir durch Sirki zu.« Die Augenlider senkten sich schwer und zwischen dem Kapitän und Matthew strudelte der Rauch. Falco schenkte sich wieder ein und nahm die Pfeife aus dem Mund, um zu trinken. »Ich weiß, dass er … viele Menschen befehligt und an vielen Fäden zieht. Ich habe einige Dinge gehört, aber wenn ich will, kann ich meine Ohren verschließen. Und mein Mund kann stumm bleiben, wenn es sein muss. Was meistens der Fall ist.« Ein weiterer großer Schluck rann seine Kehle hinunter, und dann kehrte der Pfeifenstiel zwischen die Zähne zurück.
»Also gehört Ihr nicht zu seinen Verbrechern?« Es war eine gewagte Frage, aber Matthew hatte das Gefühl, sie stellen zu können.
»Ich bin der Kapitän dieses Schiffes«, lautete die wohlüberlegte Antwort. »Ich kann Euch gar nicht sagen, wie lange ich darauf brannte, Kapitän zu sein. Wie lange ich dafür gearbeitet habe … eine sehr lange Zeit. Er hat mir die Nightflyer gegeben. Er hat mir die Position verschafft, nach der ich mich sehnte«, verbesserte Falco sich. »Und er bezahlt mir, was ich wert bin.«
»Um was genau zu tun? Um von wo nach wo zu segeln?«
»Von hier nach da und überall hin. Um Passagiere und Fracht und Briefe zu befördern. Ich bin nicht wie die anderen, versteht Ihr.«
»Welche anderen?«
Falco spie der Decke eine lange Rauchfahne entgegen. Er trank einen weiteren Schluck. »Seine anderen Kapitäne. Jene, die …« Er stockte, den Kopf leicht schief gelegt und den Blick frisch geschärft. »Die nicht nur Passagiere transportieren«, beendete er seinen Satz.
»Was sonst gibt es noch zu transportieren?«, fragte Matthew, erpicht auf so viele Auskünfte über Professor Fell, wie er sich einverleiben konnte. Je mehr er wusste, so sagte er sich, desto besser würde er gewappnet sein.
»Mehr«, erwiderte Falco mit der Andeutung eines schnell verfliegenden Lächelns, das seine Augen nicht erreichte. »Aber ich habe Euch hergebeten, weil ich wissen möchte, was Ihr auf Pendulum Island vorhabt. Mir wurde nichts gesagt. Meine Befehle lauteten, einen Passagier zu erwarten. Einen Passagier, nicht drei. Dann wurde mit der Signallaterne hantiert und ich habe Feuer in Eurer Stadt brennen sehen. Anscheinend haben die Schießpulverbomben, die Sirki in einer Holzkiste an Bord brachte, Verwendung gefunden. Ich entschied mich dafür, nichts weiter zu wissen.«
»Aber Ihr seid neugierig, aus welchem Grund ich hier bin?«, fühlte Matthew nach. »Warum?«
Falco sog Rauch in seine Lungen und atmete ihn aus. Wieder trank er, bevor er antwortete. »Ihr passt hier nicht hin. Ihr seid nicht …« Er zögerte auf der Suche nach dem, das er ausdrücken wollte. »Das, was ich normalerweise sehe«, sagte er. »Ganz im Gegenteil. Und das junge Mädchen und der Ga-Krieger? Die sollten nicht hier sein. Ich verstehe dieses Bild, das ich sehe, nicht. Ihr habt Euch unten im Schiffsgefängnis dieser Frau widersetzt. Und das aus gutem Grund. Meine Freunde , sagtet Ihr. Seht Ihr, das ist es, was mir Rätsel aufgibt. Die Menschen, die ich für meinen Dienstherrn hin und her befördere, haben keine Freunde, junger Mann. Für jemand anderen auch nur irgendetwas zu riskieren … nun, das habe ich auf diesem Schiff noch nie zuvor gesehen. Daher frage ich mich … in was, um Himmels willen, seid Ihr da hineingeschlittert?«
Matthew dachte über die Frage nach. Seine Antwort war: »Ich bin ein Problemlöser. Professor Fell hat mich vorgeladen, um für ihn ein Problem zu lösen. Könnt Ihr Euch vorstellen, um was es sich handeln könnte?«
»Nein. Und wieso auch? Ich halte mich aus seinen Geschäften raus.« Falco nickte, wie zur Antwort auf eine Feststellung. »Da seht Ihr, ich wusste, dass Ihr anders seid. Ihr kommt nicht aus seiner Welt, wenn Ihr versteht, was ich meine. Aber passt auf, dass seine Welt nicht in Euch hineinkriecht, denn es gibt viel Geld in ihr.«
»Schmutziges Geld, mit Sicherheit.«
»Sauber oder schmutzig, es kauft Euch, was Ihr wollt, wann immer Ihr es wollt. Mir wird es eines Tages mein eigenes Schiff kaufen. Ich werde mein eigenes Frachtunternehmen gründen. Deshalb bin ich mit dabei.«
»Ein vernünftiger Plan«, sagte Matthew. Er beschloss, es nochmals mit einer Frage zu versuchen, die er beantwortet haben wollte: »Was machen die anderen Kapitäne? Außer Passagiere zu befördern?«
Eine Zeit lang antwortete Falco nicht, sondern steckte sich stattdessen die Pfeife an der Kerze neu an. Matthew dachte, dass die Frage unbeantwortet bleiben würde, doch dann sagte Falco: »Es gibt noch vier andere. Eine hübsche Flotte, die der Professor hat. Die anderen Schiffe besitzen Kanonen, die an Bord zu haben ich mich weigere. Ich will ein sauberes, schnelles Schiff ohne die Last von schwerem Eisen. Aber die anderen sind auch im Hochseegeschäft.«
»Piraten?«
»Sie fahren unter keiner Flagge«, korrigierte Falco. »Sie stehen im Dienst des Professors.«
Matthew begann das Komplott zu verstehen, und es faszinierte ihn. »Also erhält der Professor einen Großteil der Beute dafür, dass er diesen … äh … anderen Kapitänen einen sicheren Hafen bietet?«
»Wie gesagt, er zahlt gut. Und in letzter Zeit scheint die Beute etwas zu sein, das er offenbar sehr wertvoll findet.«
»Was denn? Mit Goldmünzen gefüllte Schatzkisten?«
»Ganz und gar nicht.« Falco sog an seiner Pfeife und bläulicher Virginiarauch quoll aus seinem Mundwinkel. »In den letzten Monaten hat sich das Interesse des Professors auf Schiffe gerichtet, die Zucker aus der Karibik geladen haben.«
»Zucker?« Matthew musste sich auf seinem Stuhl zurücklehnen, denn vor seinem inneren Auge tauchte der empörte Solomon Tully am Great Dock auf, der ihm und Hudson Greathouse die Frage stellte: Was für ein Pirat stiehlt eine Ladung Zucker und lässt alles andere unberührt? Schon die dritte Frachtladung in drei Monaten, hatte Tully in seinen untröstlichen Qualen über verlorene Geschäfte gestöhnt. Und ich bin nicht der Einzige, der davon betroffen ist! Micah Bergman in Philadelphia und den Pallister-Brüdern in Charles Town ist es ebenso ergangen!
Professor Fell bei der Arbeit , dachte Matthew. Er schickt seine Kapitäne in die Handelsrouten, um die Zuckerschiffe abzufangen.
»Warum?« , fragte Matthew durch die vielen Schichten Rauch, die zwischen ihm und Captain Falco hingen.
»Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass der Zucker in den Hafen an der Nordspitze gebracht und mit Pferdewagen weggeschafft wird.« Er schenkte Matthew ein Lächeln, das dünn wie ein Rasiermesserschnitt aussah. »Vielleicht etwas von Interesse für einen Problemlöser?«
Matthew fiel noch etwas ein, das Solomon Tully an jenem kalten Tag am Great Dock gesagt hatte: Diese ständigen Zuckerdiebstähle haben mit etwas Bösem zu tun! Wo der Zucker hingeht und warum, weiß ich nicht, und das treibt mich in den Wahnsinn! Habt Ihr nie vor etwas gestanden, das Ihr unbedingt wissen musstet und das Euch innerlich mit dem Drang zerrissen hat, es herauszufinden?
Als Matthew jetzt Jerrell Falco über den Tisch hinweg ansah, erkannte er, dass diese unbeantwortete Frage den Kapitän ebenfalls beunruhigte. Vielleicht hatte Falco gespürt, dass der Wind sich drehte oder dass sein Leben sich zu dunkleren und tieferen Strömungen hinneigte.
Und vielleicht war er zu dem Schluss gekommen … ganz tief in seinem Herzen, wo jeder Mensch lebt … dass er dort nicht hin wollte.
Er bat Matthew herauszufinden, was es mit dem Zucker auf sich hatte. Weil auch er, genau wie Solomon Tully, sich mit etwas konfrontiert sah, das ihm böse schien. Wenn Professor Fell eine Schiffsladung nach der anderen davon verlangte … konnte es noch Zweifel geben?
»Vielleicht werde ich dem ein wenig nachgehen«, sagte Matthew.
»Wie Ihr meint«, sagte der Kapitän. »Mit einem Auge nach vorn und dem anderen nach hinten über die Schulter, darf ich doch annehmen?«
»Immer«, antwortete Matthew.
»Trinkt aus«, sagte Falco. »Nehmt Euch ein Stück Limette, wenn Ihr möchtet.«
Matthew trank den Rest des äußerst guten Brandys. Er nahm sich eine Limettenscheibe und zerkaute sie wie der Kapitän samt Schale. Ihm war klar, dass er entlassen war, und so erhob er sich und wünschte eine gute Nacht.
»Gute Nacht, Mr. Corbett«, erwiderte Falco hinter seinem wirbelnden Schleier aus Rauch. »Ich hoffe, dass Ihr die Probleme lösen könnt, vor denen Ihr steht.«
Matthew nickte. Es war ein ernstgemeinter Wunsch, den er selbst teilte. Er verließ die Kajüte und ging den Korridor entlang zu seinem eigenen kleinen Zimmer auf See.
Als er die Tür öffnete, entdeckte er, dass drei Menschen bei Laternenlicht auf ihn warteten. Sirki und Jonathan Gentry saßen in seiner Kajüte auf Stühlen, während Aria Chillany es sich auf der Bettkante bequem gemacht hatte. Sie saßen, als warteten sie auf den Beginn eines Bühnenstücks oder Konzerts. Da die Vorführung sich etwas verspätet hatte, vertrieb Doctor Gentry sich mit einem Stück verknoteter Schnur zwischen den Fingern die Zeit mit einem Fadenspiel. Als Matthew eintrat, stand der riesige Sirki auf, groß und würdevoll in seinem weißen Turban und Gewändern, und Madam spitzte die Lippen und schien ein bisschen die Beine auszustrecken, als wollte sie Matthew auf seinem Weg an ihr vorbei zum Stolpern bringen.
Matthew brauchte nur ein paar Sekunden, um sich zu sammeln, obwohl der Anblick der drei in seiner Kajüte ihn zutiefst erschreckte. »Guten Abend«, sagte er mit ausdrucksloser Miene. Es war besser, keine Nervosität zu zeigen. Nathan Spade hätte bestimmt nicht angefangen zu schwitzen. »Habt Ihr es Euch bequem gemacht?« Er schloss die Tür hinter sich, ein weiteres Zeichen von Selbstbewusstsein, das er nicht ganz spürte.
»Ja«, sagte Sirki auf die Frage hin. »Sehr bequem. Wie schön, Euch zu sehen. Ich nehme an, Ihr wart an Deck spazieren?«
»Ich befürchte, auf diesem Schiff kann man sich nicht viel anders amüsieren. Die Bücher habe ich ausgelesen.«
»Ah.« Sirki nickte. Matthew spürte die Blicke der anderen beiden auf sich ruhen. »Amüsieren«, wiederholte Sirki. »Anscheinend sind wir gerade rechtzeitig gekommen, um Euch Amüsement zu bieten. Und Instruktionen . Bald werden wir unseren Hafen … könnt Ihr das lassen ?« Sirki warf Gentry, der immer noch mit der Schnur spielte, einen finsteren Blick zu. Gentry ließ die Hände auf den Schoß sinken und presste in schmollender Empörung die Lippen zusammen. Zu seiner weiteren Schmach gab Madam Chillany ein hartes, kleines Lachen von sich, das wie eine Heckenschere klang, die ein Paar Hoden abschneidet.
Matthew hatte das Gefühl, dass die Seereise seine Gastgeber genauso wie ihn selbst zermürbt hatte. Er ging an seine Kommode und goss sich aus der Karaffe dort ein frisches Glas Wasser ein. Würde Nathan Spade seinen Gästen etwas zu trinken anbieten? Nein.
Sirki räusperte sich leise, bevor er erneut sprach. »Habt Ihr geraucht?«
Matthew ließ sich mit der Antwort Zeit, bis er sein Wasser ausgetrunken hatte. Er schluckte langsam, um sich vorzubereiten. Er wollte diese drei nicht unbedingt wissen lassen, dass er mit Captain Falco geredet hatte – für den Fall, dass sie den Grund von Falcos Einladung herauszufinden beschlossen. Falcos plötzliche Neigung zur Neugierde und sein eventueller Wunsch, herauszufinden, in welche Abgründe die Niedertracht seines Dienstherrn reichte, würde diesem Trio sehr missfallen. »Wie bitte?«, entgegnete Matthew.
»Ob Ihr geraucht habt.« Sirki stellte sich mit geblähten Nasenflügeln vor ihn. »Ich rieche Tabakrauch an Euch.«
»Hm«, machte Matthew mit hochgezogenen Augenbrauen. »Ich muss wohl durch ein oder zwei Wölkchen gelaufen sein.«
»An Deck? Für Rauchwolken scheint es mir zu windig zu sein.«
»Hier drinnen scheint es windig zu sein«, sagte Matthew und begegnete Sirkis durchbohrendem dunklem Blick mit so viel Willensstärke und Ruhe, wie er in seiner bibbernden Seele finden konnte. »Worum geht’s?«
»Gottverdammte Kackscheiße nochmal!«, schrie die Frau, die entweder vom sägenden Geschnarche oder den giftigen Ausdünstungen ihres Kajütengefährten zu ihrem wahren Maß an Feingefühl reduziert worden war. »Nun sagt’s ihm schon!«
Sirki beachtete sie nicht, sondern konzentrierte seine Aufmerksamkeit allein auf Matthew. »Morgen früh«, sagte er nach einer Weile, »wird der Schneider Euch zwei Anzüge bringen. Beide werden Euch gut stehen. Den einen – welchen, ist Eure Wahl – werdet Ihr tragen, wenn wir auf Pendulum einlaufen und das Schiff verlassen. Von dem Moment an seid Ihr Nathan Spade. Matthew Corbett wird es nicht mehr geben, bis Ihr zurück auf dieses Schiff geht, um zurück nach New York gebracht zu werden. Verstanden?«
»Mehr oder weniger«, entgegnete Matthew mit einem gelangweilten Schulterzucken, um seine überschwemmende Neugierde zu kaschieren.
Sirki trat auf ihn zu und packte Matthew am Kragen. »Hört mir gut zu, young Sir«, sagte die leise, tödliche Stimme. »Begeht keine Irrtümer. Keine Fehler.« Seine Augen bohrten sich in Matthews. »Es ist zu teuer gewesen, Euch zu holen, als dass Ihr Euch einen Fehler erlauben könnt. Und behaltet Folgendes im Kopf: Wenn Ihr dieses Schiff verlasst, werdet Ihr ein kleiner Fisch in einem Meer voller Haie sein. Die können Schwäche riechen . Genauso, wie ich den Tabakrauch in Eurer Kleidung rieche und mich frage, wo Ihr heute Abend Eure Zeit verbracht habt und warum. Die können … wie soll ich es ausdrücken … Blut im Wasser riechen. Sie werden Euch freudig verschlingen, wenn Ihr irgendeinen Teil von Euch zeigt, der nicht Nathan Spade ist. Also, habt Ihr das verstanden?« Sirki ließ Matthews Kragen los, und obwohl Matthews erster Instinkt war, seinen Rücken an eine Wand zu drücken, blieb er stattdessen stehen und hob das Kinn.
»Nein«, sagte Matthew. »Ich verstehe nichts davon. Also erklärt es mir auf der Stelle . Was erwartet mich?«
Es war Madam Chillanys Stimme, die kühl und recht spöttisch antwortete: »Mein lieber Junge, Ihr betretet die Welt des Professors als einer der Seinen. Ihr werdet einer Versammlung beiwohnen. Ein Geschäftstreffen könnte man es wohl nennen. Die englischen und europäischen Mitarbeiter des Professors kommen nach Pendulum Island zu einer … einer …« Ihre Beschreibungskraft verließ sie.
»Konferenz«, schob Sirki ein. »Einige sind schon seit Wochen hier und warten darauf, dass die anderen eintreffen. Es ist seit vielen Monaten geplant. Eure Unfähigkeit, Anweisungen zu befolgen, lässt uns verspätet eintreffen, aber ohne Euch kann es nicht beginnen.«
Matthew versuchte immer noch, den Satz über die Mitarbeiter des Professors aus England und Europa zu verdauen, die nach Pendulum Island gekommen waren. Er fühlte sich, als hätte man ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Eine Zusammenkunft von Fells Verbrechern mit Matthew Corbett – nein, Nathan Spade – unter den unehrenhaften Gästen.
Mein Gott , dachte Matthew. Ich bin in tiefe Scheiße …
»Wasser«, sagte die Frau träge. »Matthew, würdet Ihr mir etwas einschenken?«
Er tat es, denn er war nicht so tief gesunken, dass er gute Manieren missachtete. Und als Matthew Madam Chillany den Keramikbecher reichte, schlug Sirki ihn im verächtlich aus der Hand. Der Becher zerbrach auf den festen Eichenbohlen, die die Stiefelspuren von vielen Passagieren wie ihm trugen.
»Es ist an der Zeit, dass Ihr lernt, nur auf den Namen Nathan zu reagieren«, sagte Sirki mit einem so schwelenden Blick, als würde er gleich in gefährliche Flammen explodieren.
Matthew betrachtete die zerbrochenen Keramikstücke. »Das war ein verdammt guter Becher«, sagte er leichthin. »Ich gehe davon aus, dass Ihr mir Euren bringen werdet, um dieses Missgeschick wieder gutzumachen?« Er richtete seinen ebenso lodernden Blick auf Sirki und ließ diesen brennend auf ihm ruhen. »Ich bestehe sogar darauf.«
»Na, Ihr seid ja ein frecher Hund!«, höhnte Doctor Gentry, aber in seiner Stimme lag ein Hauch von belustigter Bewunderung.
»Ach, das ist jetzt mein Nathan!«, kam Arias Stimme. Ihre Bewunderung wirkte etwas flauer. »Macht ihm Platz, Sirki. Ich glaube, er ist groß genug für die Rolle.«
Matthew hatte zu ihrer Bemerkung keinen Kommentar übrig, fragte sich aber, ob er es in sich hatte, die Rolle ganz auszufüllen.
Sirki lächelte leicht, gerade so viel, dass man die Diamanten glitzern sah. »Ich glaube, Ihr habt recht, Aria.« Das Lächeln verschwand wie der Zaubertrick eines Gauklers. »Aber so vieles wird sich erst noch zeigen.« Er zog den Stuhl, auf dem er vorher gesessen hatte, zu sich herüber und setzte sich verkehrt herum darauf. »Ich kann Euch sagen«, wandte er sich an Matthew, »dass Eure Schöne und ihr Biest vorerst an Bord des Schiffes gehalten werden, nachdem Ihr es verlasst. Damit nicht unnötige Aufmerksamkeit erregt wird, werden sie bei Nacht in eine Kutsche verladen und an einen Ort gebracht werden, an dem sie unter Verschluss bleiben. Es wäre nicht förderlich, wenn sie jemand sieht und sich Gedanken darüber macht, wer sie sein könnten. Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die äußerst misstrauisch und sehr listig sind. Wir wollen nicht, dass irgendwelche Fragen in der Luft hängen.«
»Unter Verschluss?« Matthew runzelte die Stirn. »Mir gefällt nicht, wie das klingt.«
»Ob es Euch gefällt oder nicht, geht mich nichts an, aber ich kann Euch sagen, dass sie es bequem haben und gut versorgt sein werden.«
»Hinter Gitterstäben, nehme ich an?«
»Nicht hinter Gittern. Aber hinter Schloss und Riegel und mit ein oder zwei Wächtern, ja. Ich werde mich darum kümmern. Sie werden sich in der Nähe des Haupthauses befinden und niemandem im Weg sein, aber gleichzeitig außer Gefahr sein.«
»Was für Gefahr?«
»Dieselbe, die Euch droht, wenn irgendjemand herausfinden sollte, dass Ihr ein Hochstapler seid. Gegen manche von diesen Leuten ist Nathan Spade ein Heiliger. Die morden zum Zeitvertreib. Und glaubt mir, ich kenne zwei oder drei, die ihr Bestes geben werden, Euch auf die Spur zu kommen.«
»Das klingt weniger nach einer Konferenz als nach einer Versammlung von …« Haien , wollte Matthew sagen. All die kleineren Haie – die in ihren eigenen Meeren schon tödlich genug sind — haben sich um den großen Hai versammelt und sind daher bis hierhin vorgestoßen …
Gut ausgedrückt, Hudson , dachte er. Gut ausgedrückt.
»Nötigt niemanden«, riet Aria und stand vom Bett auf. Sie trat an Matthews Seite. Er hatte den Eindruck, dass sie nach Feuer und Schwefel roch. Lächelnd – wenn man es denn so nennen konnte – drückte sie ihm ihren Zeigefinger in die rechte Wange. »Aber lasst Euch auch keine Daumenschrauben anlegen.« Ihr Finger fuhr sanft über die verheilte Wunde unter seinem linken Auge, wo die Einstichstellen der Fäden noch zu sehen waren. »Dies wird Euch sehr helfen. Denen gefallen Anzeichen von Gewalt. Dabei wird ihnen ganz warm ums Herz.«
Und wie wird Euch dabei? , fragte er fast. Aber er nahm an, dass sie nur auf diese Frage wartete, und so viel von Nathan Spade hatte er nicht in sich. Noch nicht. Gott behüte.
»Wenn diese Leute so listig sind«, sagte Matthew und sah die Frau an, obwohl seine Worte für den indischen Riesen gedacht waren, »werden sie schnell merken, dass ich nicht der hartherzige Hurenhändler bin, der ich sein soll. Ein paar Fragen, was meine Verbindung mit den Last Chancers angeht und das genaue … äh … Wie und Wo meines Geschäftszweigs, und …«
»Derartige Fragen wird niemand stellen«, unterbrach Sirki ihn. »Alle verstehen, dass es besser ist, nicht zu viel zu wissen. Stellt Euch den Bund des Professors wie ein Schiff vor. Alle sind an Bord und haben doch ihre eigenen Kajüten.«
»Kein gutes Beispiel«, murrte die Frau.
»Alle haben ihre Kajüten«, wiederholte Sirki, »und ihre Aufgaben. Ja, ich bin mir sicher, dass einige von Nathan Spade gehört haben werden, aber keiner von ihnen wird ihn je getroffen oder Geschäfte mit ihm gemacht haben. So läuft das nicht.«
Matthew schnaubte leise und wandte seine Aufmerksamkeit von Aria ab und Sirki zu. Gentry spielte trotz der Anweisung, damit aufzuhören, wieder mit der Schnur. Er hielt die Hände niedrig und bewegte die Finger so wenig wie möglich. »Ich verstehe«, sagte Matthew. »Das ist eine Sicherheitsmaßnahme, oder? Und hält jeden davon ab, zu begreifen, wie alles funktioniert?«
»Ich weiß, wie alles funktioniert«, erinnerte Sirki ihn. »Und nach mir versteht Madam es und als nächster unser guter Doktor, der dank der vielen exotischen Elixiere, die er inhaliert oder getrunken hat, die schlechte Angewohnheit hat, seine Konzentration zu verlieren. Stimmt das nicht, Jonathan?«
»So stimmig wie es stimmt«, sagte Gentry. Ein schiefes Lächeln stahl sich über sein teuflisch gutaussehendes Gesicht. »Ach, aber was habe ich für Farben gesehen.«
»Ich wünschte, du würdest weniger Farben und mehr Seife sehen«, sagte Aria. »Du stinkst.«
»Ha«, erwiderte Gentry mit einem humorlosen Lachen und richtete seine gesamte Aufmerksamkeit auf die Muster zwischen seinen Fingern. Matthew fragte sich, ob der Arzt an diesem Abend ein besonders starkes und exotisches Elixier, vielleicht eines aus den Dschungelpilzen Südamerikas, genossen hatte.
»Niemand wird zu viel über Nathan Spade wissen wollen«, fuhr Sirki fort. »Das wäre schlechtes Benehmen und würde die Spielregeln verletzen. Aber Ihr könnt Euch sicher sein, dass der Professor alle und jeden mit Eurem Namen und Ruf bekanntgemacht haben wird.«
»Fantastisch«, sagte Matthew bitter. »Darf ich fragen, ob es Nathan Spade in Wirklichkeit gibt – oder gab? Falls es ihn gibt – wo ist er, und falls es ihn gab – wie sah sein Schicksal aus?«
»Oh, Nathan gab es äußerst wirklich.« Aria streichelte Matthews Wange und sah ihm tief in die Augen. »Aber Nathan wurde schwach in seiner Position und mit dem vielen Geld. Er geriet ins Taumeln. Er wurde zu bequem.« Die Finger strichen über Matthews Haut. »Er vergaß, wer uns erschaffen hat, wer allen von uns das Leben geschenkt hat.«
»Gott?«, fragte Matthew.
»Ach«, sagte sie mit einem schnellen Lächeln, obwohl die saphirfarbenen Augen tot blieben, »Ihr seid so süß .«
»Obwohl ich tot bin? Ich gehe davon aus, dass Nathan sich nicht mehr auf dieser Seite des Hades befindet?«
Sirki erhob sich; ein unheilvolles Zeichen. Der Stuhl knarrte erleichtert. »Madam Chillany hat Nathan Spade letztes Jahr in den Kopf geschossen.«
»Fast genau vor einem Jahr«, fügte sie hinzu. Ihre Finger bewegten sich weiter, streichelten vom Kinn zum Ohr und zurück.
»Nathan Spade wurde zu einem Problem«, sprach Sirki weiter. »Er begann nebenher Geld zu verdienen, indem er ausländischen Interessenten Informationen verkaufte. Das stand im Widerspruch zu den Zielen, die der Professor sich gesetzt hatte. Niemand, den Ihr kennenlernen werdet, weiß davon – und auch nicht, dass Master Spade nicht mehr lebt. Seine Leiche ist zerstückelt und verbrannt worden, und die Reste …«
»Sind aus einem Korb in die Themse gekippt worden«, sagte die Frau fast im Flüsterton. Ob ihr die Stimme aus Anteilnahme oder Stolz versagte, konnte Matthew nicht beurteilen. »Er hatte verdient, was er bekam«, murmelte sie. Ihre Finger stoppten abrupt. Die Nägel drückten sich in Matthews Haut; hart, dann noch stärker. Sie lächelte mit glasigen Augen. »So ist das Leben«, sagte sie.
Ihre Hand verließ sein Gesicht.
Sie wandte sich ab.
Matthew sah, wie ihr Rücken sich versteifte, als sie an Sirki und Doctor Gentry vorbeiging. Sie nahm wieder ihre gleichgültige Stellung auf dem Bett ein. Vielleicht war es die Position, in der sie sich am wohlsten fühlte. Ihre ausdruckslose Miene hatte etwas Unnahbares und sogar Verzweifeltes an sich. Matthew mochte nicht zu lange hinschauen, denn er hatte die Trostlosigkeit des Winters in New York hinter sich gelassen.
Er wandte sich wieder an Sirki. »Ich begreife immer noch nicht, wozu ich gut sein soll. Was will der Professor denn, das ich tue ?«
»Professor Fell behält sich das Vergnügen vor, Euch persönlich darüber in Kenntnis zu setzen«, sagte der Riese.
Darauf hatte Matthew keine Antwort. Er wünschte, er hätte in Falcos Kajüte einen zweiten Becher Brandy zu sich genommen. Er wünschte, er hätte an diesem Abend eine Flasche Rum zur Gesellschaft. Er wünschte, er könnte bei Berry sein, die am Ende des Flurs in ihrer verriegelten Kajüte saß. Er wünschte, er wäre immer noch ein Gerichtsdiener, dessen Verpflichtungen mit einer Schreibfeder anfingen und aufhörten.
Aber nein. Jetzt war er jemand. Jemand Besonderes in dieser Welt. Und dafür musste er den Preis bezahlen.
»Die beiden Anzüge passen mir besser perfekt«, brachte er heraus. »Wenn ich diese Rolle spielen muss, will ich entsprechend aussehen.«
»Natürlich«, stimmte Sirki ihm zu. »Und das habt Ihr gut gesagt, Sir.« Dann richtete er sich an seine Kumpanen: »Wir sollten Mr. Spade Zeit zum Ausruhen geben und ihn seinen Gedanken überlassen.«
Aria Chillany verließ die Kajüte als Erste, anscheinend nach wie vor in ihrem weltverlorenen Zustand gefangen, gefolgt von dem Schnurspielfanatiker. Sirki blieb an der Tür stehen.
»Mir fällt gerade ein, dass Captain Falco raucht«, sagte er.
»Ach ja?« Matthew zeigte keine Reaktion. »Ich schätze, es gibt noch mindestens zwanzig andere Männer an Bord, die rauchen.«
»Wohl wahr, aber dieser duftende Virginiatabak ist teurer als andere und für die meisten Seemänner unerschwinglich, denke ich. Passt auf, welchen Rauch Ihr einfangt, young Sir. Er kann einem in die Augen steigen und für das blind machen, wegen dem man hier ist.« Er ließ die Worte wie eine beißende Rauchwolke in der Luft hängen. »Gute Nacht«, wünschte er dann.
Matthew erwiderte nichts. Sirki ging und Matthew schob sofort den Riegel vor die Tür. Auch wenn die Pferde nun die Scheune verlassen hatten, wollte Matthew keinen Mist mehr auf seinem Boden finden. Während er sich auf die Nacht vorbereitete, die, so nahm er an, schlaflos bleiben würde, konnte er nahezu spüren, wie sich die Nightflyer Pendulum Island näherte: Die Brigantine mit geblähten Segeln und ein paar brennenden Laternen an Deck, blauweißes Kielwasser und zarte Wolken, die sich langsam durch die Dunkelheit schoben. Und Professor Fells Spinnennetz, das sich mit jeder durchfahrenen Welle und jedem langsamen Schaukeln des Schiffes näherte. Er fragte sich, ob Sirki wusste, dass Captain Falco Zweifel an seinem Schicksal beschlichen. Ob Falco seine bösen Ahnungen womöglich irgendwem anvertraut hatte, der es jemand anderes weitergesagt hatte, der es in ein Ohr wisperte, das zu einer Stimme gehörte, die den indischen Riesen gewarnt hatte: Falco weiß zu viel, und er denkt zu viel nach.
Matthew kam der Gedanke, dass die Tage des Kapitäns möglicherweise gezählt waren. Vielleicht war dies Falcos letzte Reise und alle ausstehenden Rechnungen würden beim Eintreffen im Hafen beglichen werden.
Was würde Nathan Spade tun?
Lachen und sagen: Den sind wir los ?
Ja. Aber was würde Matthew Corbett tun?
Ihm schwirrte der Kopf vor Problemen und – leider – keiner einzigen Lösung.
Ja , dachte er.
Und dann löschte er bis auf eine Kerze sein Licht aus und legte sich im knarzenden Bauch der Nightflyer ins Bett.