Kapitel 17

 

Bis jetzt hatte Matthew Corbett gemeint, das Gleichgewicht der Welt zu verstehen. Das Gute trug die Belohnung in sich. Böse Taten wurden bestraft. Gott war im Himmel und dem Teufel war für immer verboten, durch die Straßen der Welt zu wandeln. Aber hier im Reich des Professors wurden Matthew diese Sonntagspredigtplattheiten und Frömmigkeiten als bloßes Echo von hohlen Stimmen lang verstorbener Heiliger enthüllt.

Kein Reicher aus New Yorks Golden Hill hatte je so gewohnt. Matthew fragte sich, was für ein reicher Londoner sich ein derartiges Monument verdienen konnte. Er nahm an, dass er in der Haupteingangshalle stand. Und was für eine Halle es war: Die hohe gewölbte Decke war wie das Reich von Engeln, die sich mit ihren gefiederten Schwingen zwischen den polierten Eichenbalken verstecken und die schneeweißen Steine hätten küssen können. An beiden Wänden hingen die Fahnen vieler Nationen von Masten, darunter die weiße Flagge Frankreichs, der gekrönte Adler Preußens, die Trikolore der Niederlande und das spanische Wappen von Bourbon-Anjou. Matthew fiel auf, dass keine Fahne im Mittelpunkt oder höher als eine andere hing, nicht einmal der britische Union Jack. Matthew erklärte sich es damit, dass für Professor Fell alle Länder gleichermaßen zu plündern waren.

Der schwarzweiß gemusterte Marmorboden weckte in Matthew die Frage, ob der Professor ein Schachspieler war. Aber natürlich war er das, entschied Matthew. Was sonst konnte er sein, wo er durch seine bösartige Sichtweise des Lebens den Wert von hilflosen Bauern, schwarzherzigen Springern, unehrlichen Läufern und einer oder zwei fehlgeleiteten Königinnen erkannte?

Hinter der Eingangshalle öffnete sich ein opulenter Flur mit einer großen Treppe. Der Professor schien goldverziertes Weiß zu lieben. Nun ja, überlegte Matthew, als er Minx Cutter in Richtung Treppe folgte, der Professor war sein eigener Gott – warum sollte er sich nicht auch seinen Himmel auf Erden erschaffen?

»Ich zeige Euch Euer Zimmer«, sagte Minx. Ihre Stimme hallte von den Deckenbalken wider.

»Ich werde ihm sein Zimmer zeigen.« Aria hatte die beiden von hinten eingeholt und fasste nun nach Matthews anderem Arm.

Minx bedachte die Invasorin mit einem ruhigen, aber eisigen Blick. »Ich würde annehmen, dass Ihr von Eurer Reise sehr müde seid«, sagte sie. »Und dass eine Frau Euren Alters ihren Schlaf braucht. Da wir heute Abend ein großes Essen geben und noch viel vorzubereiten haben, darf ich vorschlagen, dass Ihr Euch in Euer Zimmer begebt und Euren … Schönheits schlaf genießt?« Ihre Hand schloss sich noch stärker um Matthews Arm und er hatte das Gefühl, dass sie ihm das Blut abdrücken würde, wenn sie nur noch ein bisschen kräftiger drückte. Sie richtete ein blitzschnelles und durch und durch unehrliches Lächeln an Arias versteinertes und – so könnte man sagen – verblüfftes Gesicht. »Ich führe Euch zu Eurem Zimmer, Nathan«, sagte sie. Eine Offenbarung darüber, wer hier das Sagen hatte und gleichermaßen eine Feststellung der Tatsachen. Denn sie führte ihn mit derartig ausholenden Schritten die Treppe hoch, dass eine Frau gewissen Alters Stiefellängen hinter ihr zurückblieb.

Matthew hatte gerade noch genügend Zeit, um über seine Schulter nach Aria zu schauen, die ihre Beherrschung ausreichend zurückgewonnen hatte, um ihm einen Blick zuzuwerfen, der wohl sagte: Vorsichtig mit ihr, und passt auf Eure Kehle auf . Die Warnung war unnötig, aber jetzt war er wirklich ganz auf sich selbst gestellt – und worum es hier auch gehen mochte, er war tief darin verwickelt.

Auf ihrem Weg die Treppe hoch, kamen sie an einem Buntglasfenster vorbei, das die Morgensonne einfing und sie zu gelben, goldenen, blauen und tiefroten Juwelen zersplitterte. Matthew hatte zuerst gedacht, dass es einen heiligen Märtyrer darstellte, aber jetzt sah er, dass es das Porträt einen vielleicht zehn oder zwölf Jahre alten Jungen war, der seine gefalteten Hände an die Seite seines Gesichts legte. Blutige Tränen rannen aus seinen Augen. Als Zentralpunkt vom Professor-Paradies war es ein seltsames Schmuckstück, und Matthew wollte fragen, wen es darstellte, aber sie gingen daran vorbei weiter nach oben und er verfolgte die Frage nicht.

Die Treppe zog sich bis ins dritte Stockwerk, aber Minx führte Matthew in den Korridor des ersten Stocks, dessen Wände voller Türen und Wandteppichen mit detailgenau gewebten Jagdszenen waren. Matthew meinte, dass sie entweder aus dem Mittelalter stammen oder äußerst überzeugende Imitationen sein mussten. Vor einer weißen Tür in ungefähr der Mitte des Flurs blieb Minx stehen. »Dies ist Eure Kammer«, sagte sie und öffnete ihm die Tür. Im Zimmer stand ein schwarzes Himmelbett. Auch hier war der Fußboden im schwarzweißen Schachbrettmuster gehalten. Ein eiserner Kerzenständer mit acht Kerzen wartete auf Matthews Zündholzer und auf einer weißen Kommode stand ein weiterer Armleuchter mit drei Kerzen. Es gab ein kleines Pult mit einem Stuhl davor. Auf dem Pult lag ein Schlüssel, vermutlich für die Tür, und daneben stand eine Kerzenuhr. Neben dem Bett befand sich ein weißer Stuhl mit hoher Lehne, die mit schwarzem Stickmuster durchwirkt war. Auf einer Waschschüssel aus Keramik, die auf einem schmiedeeisernen Ständer stand, lagen gefaltete Handtücher sowie ein Rasiermesser mit perlenbesetztem Griff und ein kleiner runder Spiegel. Matthew nahm das Stück Seife neben dem Spiegel in die Hand und roch Limetten. Er entdeckte, dass man sein Gepäck hereingebracht und ans Fußende des Himmelbetts gestellt hatte. Er fragte sich, ob unter dem Bett ein massiv goldener Nachttopf stand, wo hier doch mit Sicherheit jedes Stück Scheiße etwas wert war.

»Das hier wird Euch vielleicht gefallen«, sagte Minx und öffnete zwei Lamellentüren. Die warme Seeluft drängte ins Zimmer und brachte den Salzgeschmack des Atlantiks mit sich. Ein kleiner Balkon mit einem schwarzen Eisengeländer überblickte das Meer, das sich zwanzig Meter tiefer zu Gischt zerschlug. Matthew hatte eine Aussicht auf den Horizont, der nur aus dem leeren, blauen Ozean und funkelnden Wellen bestand.

»Sehr hübsch«, stimmte er zu und merkte unangenehm berührt, dass die junge Frau, die so gut mit Messern umgehen konnte, ein paar Schritte zurückgewichen war und hinter seinem Rücken stand. Er drehte sich zu ihr um – und stellte erschreckt fest, dass sie leise wie eine Katze zu ihm herangekommen war und nur noch ein paar Zentimeter von ihm entfernt stand.

Minx spähte in seine Augen, als betrachtete sie die Auslage im Schaufenster eines Krämers. »Habt Ihr mich schon einmal irgendwo gesehen?«

Ein Schauder durchlief Matthew. War das eine Trickfrage? Sollte er sie schon mal gesehen haben? Er entschied sich für die sicherste Antwort. »Nein«, sagte er. »Ich glaube, nicht.«

»Und ich habe Euch auch noch nie gesehen«, sagte sie mit hochgezogener Augenbraue. »Ihr seid ein gutaussehender Mann. An Euch würde ich mich erinnern.«

»Oh.« Errötete er ein wenig? Vielleicht. »Tja, dann … danke.«

»Allerdings habt Ihr weiche Hände«, sagte sie und nahm seine rechte Hand. »Mit Pferden könnt Ihr nicht gut umgehen, oder?«

»Ich habe nicht oft mit Pferden umgehen müssen.«

»Hm«, machte sie. Eine gewisse Wildheit schlich sich in ihre golden angehauchten Augen. »Seid Ihr mit Madam Chillany zusammen?«

»Zusammen?«

»Liiert« , erklärte sie.

»Oh. Nein … sind wir nicht.«

»Das denkt Ihr vielleicht«, antwortete sie. Dann ließ sie seine Hand los. »Falls Ihr lernen wollt, helfe ich gern.«

»Lernen?«

»Wie man mit Pferden umgeht. Der Professor hat einen äußerst gut bestückten Stall. Ich kann Euch die Insel zeigen, wenn Ihr möchtet.«

»Ja«, sagte er und schenkte ihr ein leichtes Lächeln. »Das möchte ich.« Sofort dachte er, dass er gerade einen Sprung ins tiefste Wasser gemacht hatte. Aber trotzdem … solche Wasser sollte man erkunden.

»Kommt in einer Stunde nach unten.« Sie ging bereits auf die Tür zu, aber an der Schwelle hielt sie inne. »Das heißt«, sagte sie, »falls Ihr dann noch in der Lage sein werdet, Euch die Insel anzusehen. Nach Eurer Reise, meine ich.«

»Schlafen kann ich heute Abend.« Kaum, dass er das gesagt hatte, fiel ihm ihr Gesichtsausdruck auf, der besagte, dass er damit genauso daneben lag wie mit Aria Chillanys Interesse an ihm.

»Also gut.« Minx erwiderte sein leichtes Lächeln. »In einer Stunde.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie seinen Namen hinzu: »Nathan.«

Als das Mädchen gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete Matthew tief aus und musste sich auf dem Bett niederlassen, egal, wie nass seine Hosen waren. Das Zimmer schien sich im Rhythmus der Atlantikwellen zu wiegen. Er bezweifelte, dass er lange auf einem Pferd sitzen konnte, aber das Angebot, Pendulum Island gezeigt zu bekommen, war zu verlockend, um es auszuschlagen. Falls er vom Pferd fiel, würde Minx Cutter seine Entschuldigung dafür zumindest verstehen. Er stand auf, ging an die Waschschüssel, goss Wasser aus einer Karaffe hinein und bespritzte sein Gesicht. Dann machte er den Zipfel eines Handtuchs nass und kühlte den Peitschenstriemen auf seinem Nacken. Es schmerzte nicht allzu sehr, aber ein Umschlag aus Geißblatt würde lindernd kühlen. Er musste aus dieser Kleidung heraus und … was? … sie nach unten schicken, damit sie gewaschen wurde? Er nahm an, dass das so einfach war.

Er überlegte, was auf seinem Ausflug mit dem Mädchen alles schiefgehen konnte. Aber … er musste an sich glauben. Er hatte schon andere Rollen gespielt, insbesondere die von Michael Shayne gegenüber Lyra Leka – die zu dem Zeitpunkt ihre eigene Rolle als Gemini Lovejoy spielte. Professor Fell glaubte an ihn, fuhr Matthew durch den Kopf. Und dann dachte er, dass er den Verstand verloren haben musste, wenn er sich nach der fragwürdigen Meinung des Professors richtete. Oder vielleicht benebelte die schwüle Inselluft seinen Kopf?

Er zog seinen anderen Anzug, der von einem samtigen Waldgrün war, zu einem weißen Hemd und weißen Strümpfen an. Als er den letzten Hemdknopf zugeknöpft hatte, wurde er sich der schrillen Möwenschreie draußen bewusst und trat auf den Balkon, um zu sehen, warum die Vögel in Aufruhr waren.

Sie saß im Schneidersitz auf einem großen Felsen im Meer, vielleicht sieben Meter über den Wellen. Die Möwen kreisten über ihren glänzenden schwarzen Haaren, vielleicht davon aufgestört, dass ein Mensch ihren Ruheplatz belegte. Sie war splitternackt und ihre braune Haut glänzte im Sonnenlicht. Matthew fasste mit beiden Händen nach dem Balkongeländer. Sie saß fünfzehn Meter unter ihm, das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt, das Gesicht dem Meer zugewandt; abgeschieden und in ihrer Nacktheit allein. Matthew konnte dieses Schauspiel völliger Entrücktheit aus der Welt nur anstarren. Wo hatte sie sich ausgezogen und ihre Kleider gelassen? Sie machte sich offensichtlich keinerlei Gedanken darüber, dass die Gäste auf sie aufmerksam werden könnten … oder, dachte Matthew dann, es kümmerte sie nicht mehr.

Sie nennen sie Fancy , hatte Minx gesagt.

Natürlich war das ein erfundener Name, sagte Matthew sich. Fast ein sarkastischer Name, den ihr die Thacker-Brüder aufgezwungen hatten oder wer es sonst auch gewesen sein mochte, der sie von ihrem Stamm fort über den Atlantik gelockt hatte. Er fragte sich, wie sie den Zwillingen in die Hände gefallen und unter ihren dreckigen Zungen gelandet war.

Sie war so ein schönes Mädchen, dachte er. Und da saß sie, immer noch allein.

Ganz plötzlich überkam ihn ein Gefühl, als würde der Balkon unter seinen Füßen wegbrechen und er in die Tiefe fallen. Er krallte seine Hände fester ums Geländer. Nichts bewegte sich, er fiel nicht … und doch meinte er, sich innerhalb von ein paar erschreckenden Sekunden aus der einen gefährlichen Lage in eine andere, ebenso gefährliche gestürzt zu haben.

»Oh Gott«, sagte er leise zu sich selbst und wer ihm hier in Professor Fells Hallen der Selbsthuldigung noch lauschen mochte. Der Gedanke war ihm bereits gekommen, als er das indianische Mädchen das erste Mal in der Kutsche gesehen hatte.

Eine Schande, dass so ein hübsches Mädchen allein sitzt.

Er rief sich die Geschichte seines indianischen Freundes Wanderer in zwei Welten zurück ins Gedächtnis, der aus diesem Leben in die Ewigen Jagdgründe verschieden war. Der Wanderer hatte ihm von dem Indianermädchen namens Hübsches Mädchen sitzt allein erzählt. Das Mädchen, das von ihrem Stamm fortgerissen war und ihn und den dem Untergang geweihten Flinken Kletterer auf ihrer Atlantikreise nach England begleitet hatte, wo sie von zwei Männern in eine Kutsche verfrachtet wurde, während der Wanderer seine Parodien von wilden Rothäuten auf englischen Bühnen begann.

»Oh Gott«, wiederholte Matthew für den Fall, dass sein Begehren, gehört zu werden, beim ersten Mal auf taube Ohren gestoßen war.

Er hatte keine Ahnung, wie alt das Mädchen war, das mit seiner Krone aus kreisenden Möwen unter ihm auf dem Felsen saß. Der Wanderer hatte ihm nicht gesagt, wie alt das Mädchen gewesen war, als sie ihren Stamm verließen. Wir drei Kinder , hatte der Wanderer gesagt. Matthew hatte ihn auf sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig geschätzt. Von daher … falls es tatsächlich Hübsches Mädchen sitzt allein war, mochte sie gleichen Alters oder etwas jünger sein. Jedenfalls bestand die Möglichkeit … die entfernte Möglichkeit … dass unter ihm dasselbe Mädchen saß, das mit dem Wanderer die angsteinflößende Reise nach England unternommen hatte und das von rauen Händen in ein raues Leben gestoßen worden war, das sie hierhergeführt hatte … zu zwei orangehaarigen Lumpen, die sich für die Besitzer einer schönen … Squaw , hatte Mack Thacker sie genannt, hielten.

Und doch … mit Sicherheit waren in all den Jahren seit der Seereise des Wanderers andere Indianermädchen aus der Neuen Welt verschleppt worden. Natürlich. Viele, die als Kuriositäten oder Dienstmägde oder … was auch immer nach Europa gebracht worden waren.

Dass es sich bei dieser jungen Frau um dieses Mädchen handeln konnte … es war kaum zu glauben.

Sie musste Matthews bestürzte Gedanken plötzlich gespürt haben, denn sie wandte ihm ihr Gesicht so unbeirrt zu, als hätte sie ihren Namen gehört. Sie starrten sich an, nicht nur über die Entfernung hin, wie es schien, sondern auch über die verstrichenen Jahre hinweg.

Fancy stand auf. Sie erhob sich zu ihrer vollen Größe. Braun und glänzend machte sie einen Schritt nach vorn und warf sich in die Luft wie ein Pfeil von des Wanderers Bogen. Als sie ins Meer eintauchte, spannte sie ihren Körper an, machte sich schmal und versank mit dem Mut und der Leichtigkeit einer Kreatur im schäumenden Wasser, die dazu geboren war, ein Teil der Natur zu sein, und die sich vielleicht danach sehnte, in die Träumereien der Kindheit zurückzukehren.

Sie tauchte nicht wieder auf. Obwohl Matthew mehrere Minuten lang auf die unbändigen Wellen starrte, gab es nirgendwo ein Anzeichen, dass sie wieder ins Reich der Luftatmenden zurückgekehrt war. Er fragte sich, ob sie halb Fisch war und ihr in der Sicherheit der blauen Wasserwelt Flossen und Kiemen gewachsen waren, ob Schwanzflossen Gestalt angenommen hatten und sie mit kräftigen Schlägen zum Meeresboden abgetaucht war, wo ein hübsches Mädchen wieder allein sitzen konnte. Für einen Augenblick überfiel ihn kalte Angst. Sollte er jemanden zu Hilfe rufen? Aber dann dachte er sich, dass niemand ohne den Mut der Indianer es wagen würde, in solche Tiefen zu tauchen – und wenn sie lieber in der friedlichen Einsamkeit eines wässrigen Grabes träumen wollte, als Fancy genannt und wie eine Gliederpuppe zwischen dem Abschaum der Erde herumgeschubst zu werden, dann sollte es eben so sein.

Matthew verließ den Balkon und machte die Lamellentüren zu. Er nahm den Schlüssel, ging aus seinem Zimmer, schloss ab und durchquerte dann den Flur in Richtung Treppe. Ein großer dünner Mann mit gestutztem grauen Bart und hohlen Wangen kam die Stufen hoch. Seine glatten grauen Haare waren zu einem Zopf gebunden und er trug einen schwarzen Anzug. Er rauchte Pfeife und die grauen Augen in seinem faltigen Gesicht nahmen Matthew kaum wahr. Aber Matthew registrierte den unverwechselbaren Geruch ungewaschener Haut.

Eine weitere faulige Zutat aus diesem abscheulichen Eintopf , dachte Matthew auf seinem Weg nach unten. Wer mochte das sein und welche Rolle spielte er für Professor Fell?

Oder … war das Professor Fell gewesen?

Geh weiter, mahnte er sich. Was du auch tust, sieh dich nicht um. Wir wollen nicht schon heute zu einer Salzsäule erstarren.

Minx wartete unter den Flaggen der vielen ausgeplünderten Nationen auf ihn. Sie hatte immer noch die Männerhosen an, die cremefarbene Bluse und die hohen braunen Stiefel, trug jetzt aber eine beigefarbene mit Goldmuster verzierte Weste. Matthew fragte sich, wie viele Messer wohl darunter versteckt waren. Sie runzelte die Stirn, als sie ihn sah, und fragte: »Habt Ihr denn keine Reitkleidung?«

»Das hier wird reichen müssen«, antwortete er und beschloss, hinzuzufügen: »Sofern Ihr mir nicht etwas von Euch leihen wollt?«

»Hm«, sagte sie mit einem Blick auf seinen Schritt. »Nein, ich glaube, Ihr seid zu klein für meine Hosen. Wollen wir los?«

Es war nur ein kurzer Weg bis zum gut ausgestatteten Stall, wo ein schwarzer Lakai ihre Pferde sattelte und ihnen einen angenehmen Ausritt wünschte. Dann ritten sie los, Minx auf einer geschmeidigen schwarzen Stute, die der Knecht Esmerelda genannt hatte, und Matthew auf einer breiter gebauten Fuchsstute namens Athena. Minx übernahm die Führung und wusste offensichtlich, wo sie hinwollte. Sie lenkte ihr Pferd auf einen Pfad, der das Anwesen in Richtung Straße durchschnitt. Matthew folgte pflichtbewusst und fand, dass Athena trotz ihrer Namensvetterin, der griechischen Kriegsgöttin, nicht zu schwer zu beherrschen war. Der Pfad führte sie über die Straße und auf die von windgepeitschtem Gras bewachsene Ebene. Aber hundert Meter weiter tauchten sie in grüne Wildnis ein und ritten eine Weile schweigend, während das Sonnenlicht sich durch die Äste über ihnen schob und unbekannte Vögel im Farnkraut sangen.

Schließlich beschloss Matthew, dass es Zeit für eine Frage war. Er trieb Athena neben Minx’ Pferd. »Darf ich fragen, was für Dienste Ihr dem Professor leistet?«

Sie sah weiter geradeaus. »Ihr wisst doch, dass man keine derartigen Fragen stellt.«

»Oh ja.« Er nickte. »Natürlich sollte niemand wissen, was der andere macht. Entschuldigt meine Neugierde.« Seine Neugierde, dachte er, hatte man oft verflucht, aber noch nie entschuldigt.

Sie ritten weiter, an einem kleinen See vorbei, wo weiße Reiher im seichten Wasser nach Fischen suchten. Hier und da griffen braune Dornenranken aus dem sanfteren Grün zu beiden Seiten des Pfads heraus, um an der Kleidung unvorsichtiger Reiter zu reißen. Matthew musste an die dornige Lage denken, in die Berry und Zed sich hereingeritten hatten. Ich kann dir helfen , hatte sie ihm gesagt. Ja , dachte er, du kannst uns allen zu anonymen Gräbern verhelfen. Und der Abend, an dem sie in der Gasse gegenüber dem Haus der Mallorys aufgetaucht war und ihn dermaßen erschreckt hatte, dass seine Tenorstimme fast zu einem permanenten Falsett geworden war. Mein Gott, diese Frechheit! , dachte er. Sie war hübsch, das stimmte, aber ihre Neugierde war ebenfalls zu verfluchen und nicht zu entschuldigen. Für wen hielt sie sich? Für eine weibliche Version von ihm? Und jetzt musste er nicht nur auf jeden seiner eigenen Schritte in diesem wunderschönen Morast achten, sondern auch noch Berry und Zed davon abhalten, auf Treibsand zu treten … und das aus der Ferne.

»Ich werde über Eure mangelnden Manieren hinwegsehen«, verkündete Minx unerwartet, während die Pferde noch nebeneinander hertrotteten. »Da es die erste Zusammenkunft ist, der Ihr beiwohnt. Und ich nehme an, dass Ihr neugierig seid, wer die anderen Gäste sind.«

»Bin ich.« Er zögerte ein paar Sekunden, bevor er weitersprach. »Stimmt es, dass der Professor den anderen etwas über mich erzählt hat?«

»Ein bisschen. Nur ganz wenig.« Sie hielt ihren fast an den Zeigefinger gepressten Daumen hoch, um zu zeigen, wie wenig.

»Aber so viel, dass sie wissen, wer ich bin und was ich für ihn mache?« Er war überrascht, wie leicht dies ging, wobei er gleichzeitig dachte, dass der Treibsand ihn jederzeit verschlucken konnte.

»Ja.« Sie starrte immer noch nach vorn, wo der Pfad sie jetzt durch einen Stand dürrer Bäume führte, deren Blätter wie winzige grüne Ventilatoren aussahen.

»Damit bin ich übervorteilt. Ich werde nicht gern übervorteilt.« Er lächelte zufrieden. Wohl gesprochen, Nathan!

Sie waren wohl um die vierzig Meter weitergeritten, als Minx ihr Gewicht im Sattel verlagerte und antwortete.

»Ich bin eine Handschriftexpertin. Für Fälschungen in vier Sprachen«, betonte sie, als begriffe er nicht. »Ich habe drei Lehrlinge, denen ich die Kunst beibringe. Ihr habt die Bekanntschaft von Augustus Pons gemacht. Er ist auf Erpressung spezialisiert. Und vielleicht habt Ihr auf der Treppe noch Edgar Smythe gesehen. Er hat irgendetwas mit Waffen zu tun, was, weiß ich nicht genau. Dann gibt es noch Adam Wilson, der sich mit Finanzen befasst. Cesar Sabroso ist ein Spanier mit Einfluss auf Philip den Fünften. Heute Abend beim Festmahl werdet Ihr Miriam Deare kennenlernen. Sie zieht es vor, Mother Deare genannt zu werden. Was sie macht, weiß ich nicht, aber sie gehört zu den langjährigsten Mitarbeitern des Professors. Ihr wisst vielleicht schon, dass Jonathan Gentry ein Fachmann für Gifte ist und dass Aria Chillany eine wichtige Position in Bezug auf Auftragsmorde hat. Und dann gibt es noch die Thacker-Brüder, die viel von ihren Fähigkeiten halten, Schutzgelder einzutreiben. Und Ihr … seid der Hurenhirte, der Staatsgeheimnisse klaut.«

»Ja«, stimmte Matthew ihr zu. »Das heißt, wenn sich mir die Möglichkeit bietet.«

»Klingt, als wärt Ihr stolz darauf.«

»Bin ich auch.« Die Lügen kamen wie von selbst. Es machte ihm Angst. »Ich bin mir sicher, dass Ihr ebenfalls stolz auf Eure Arbeit seid?«

»Ich bin stolz auf meine Fähigkeiten. Die habe ich mir hart erkämpft.«

»Euer Talent mit Messern spricht für sich selbst. Auch eine Fähigkeit, die hart erkämpft ist?«

Minx bedachte ihn mit einem kleinen spöttischen Lächeln. Sie ritten unter Ästen hindurch, von denen grünes Moos wie Vorhänge hing. »Ich wurde in eine Zirkusfamilie hineingeboren«, sagte sie. »Ich musste mir meinen Lebensunterhalt verdienen. Aus irgendeinem Grund hatten es mir Messer angetan. Ihr wisst schon – damit auf bewegliche Ziele werfen. Inklusive meinen Eltern. Ich war eine richtige Attraktion, als ich mit zwölf Jahren beidhändig mit Messern gezielt und die Umrisse meiner Mutter mit Klingen abgesteckt habe, während sie auf einer Holzplatte rotierte. Oder wie ich mit verbundenen Augen einen Apfel auf dem Kopf meines Vaters durchtrennt habe.«

»Die Kunst der Geschicklichkeit«, kommentierte Matthew. »Und dazu sicherlich viel Selbstvertrauen. Habt Ihr je daneben geworfen?«

»Meine Eltern treten immer noch im Zirkus auf. Vielleicht haben sie mehr graue Haare, als sie sollten. Jedenfalls habe ich nie daneben geworfen.«

»Dafür bin ich dankbar.« Er warf ihr einen schnellen Blick zu. »Wie es alle in unserer Kutsche sein sollten. Aber meint Ihr nicht, dass Jack Thacker jetzt etwas gegen Euch hat? Schließlich habt Ihr in mit mehr als nur einer Schreibfeder gepiekt.«

»Vielleicht hat er was gegen mich«, gab Minx ihm recht. »Aber er wird mich wegen dieses Pieks in Ruhe lassen. Und meine Geschicklichkeit als Fälscherin ist dem Professor wichtiger als mein Können mit dem Wurfmesser.«

Matthew sagte nichts dazu. Er dachte nach. Seine Gedanken wurden mit derselben Zielstrebigkeit ins Ungewisse gezogen, mit der die Pferde dem Pfad folgten. Ich habe drei Lehrlinge , hatte Minx gesagt.

Man konnte davon ausgehen, dass die anderen – Pons, Smythe, Wilson, Sabroso, Mother Deare und natürlich die bezaubernden Thackers – ebenfalls ihren individuellen Berufssparten vorstanden und nicht allein agierten. Womöglich hatte jeder von ihnen ein paar – oder Dutzende – von niederen Schergen unter sich; genau wie er, Nathan Spade, ein ganzes Netzwerk von Huren und gut instruierten Parlamentsspionen besaß. Wenn er also einem dieser sogenannten Mitarbeiter begegnete, stand er einem kleinen Zahnrad einer vielleicht gewaltig großen Verbrechensmaschine gegenüber.

»An was denkt Ihr?«

Er zwang sich in die Gegenwart zurück. Der Wald zu beiden Seiten war dicht und finster und Vögel schrien in harschem Ton aus den Zweigen. »Nur an die Konferenz«, sagte er und beschloss aus einer Laune heraus, ein verfilztes Thema anzusprechen. »Warum sie wohl stattfindet.«

»Verständlich, da es Eure erste ist. Ich habe das erste Mal vor zwei Jahren daran teilgenommen. Inzwischen sind wir alle daran gewöhnt, herbeordert zu werden – manche mehr als andere.«

»Und das Ganze dient …?« Er ließ die unvollständige Frage in der Luft hängen.

»Es dient dazu, dem Professor Gehorsam zu leisten«, erklärte Minx betont. »Und er hört sich gern persönlich an, wie seine Mitarbeiter vorankommen. Schließlich ist das alles ein Geschäft , versteht Ihr.«

»Natürlich ist es das. Warum würde man es sonst machen?«

Plötzlich spornte Minx Esmerelda an, zügelte die Stute dann scharf und wendete sie, sodass sie Matthew den Weg versperrte. Matthew zügelte Athena ebenfalls. Er und Minx starrten sich an. Pollenstaub trieb durch die Streifen Sonnenlicht und dunkle Schmetterlinge flatterten zwischen ihnen hin und her.

»Was ist?«, fragte Matthew mit rasendem Herz, als Minx länger still blieb, als ihm angenehm war. Und ihre Augen blickten ihm zu scharf auf seine Haut.

»Ihr fasziniert mich«, antwortete sie. »Und verwirrt mich.«

Er zwang sich, zu lächeln. »Verwirrende Faszination. Ich fühle mich geschmeichelt, so viel Eindruck zu machen.«

»Bildet Euch nichts darauf ein. Was ich damit meine, ist, dass ich mir kein richtiges Bild von Euch machen kann. Eure Ausdrucksweise … Eure Haltung …« Sie runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nicht das, was man erwartet, nach allem, was man über Euch hört

Matthew zuckte die Achseln. »Vermutlich hätte ich Euch angesichts Eurer Meisterkunst im Fälschen auch nie für ein Zirkuskind gehalten. Jeder Mensch hat viele Seiten, nicht wahr?«

»Ja«, stimmte sie vorsichtig zu. »Trotzdem … halte ich Euch für ein Mosaik aus vielen Steinchen. Und nicht alle davon scheinen zu passen.«

Jetzt schien es Matthew am klügsten, zu schweigen, denn er wollte keine weiteren Mosaiksteinchen enthüllen, die nicht für Minx’ scharfe Augen und Auffassungsgabe gedacht waren. Sie wendete ihr Pferd zurück auf den Pfad und trieb Esmerelda an. Die Stute setzte sich in flottem Trab in Bewegung. Matthew spornte Athena ebenfalls an und hatte den wehenden Schweif des schwarzen Pferdes vor sich schnell eingeholt.

Schließlich kamen sie aus dem Wald auf eine andere Straße hinaus. Ein hoch mit bunten Früchten beladener Pferdewagen rollte vorbei. Minx lenkte ihr Pferd in die Fahrtrichtung des Wagens und hüllte den Obstkrämer beim Vorbeipreschen in eine Staubwolke ein. Matthew trieb Athena an, konnte Lady Cutter diesmal aber nicht einholen. Bald jedoch ließ ein grün beschriftetes Ortsschild sie ihr Tempo verlangsamen: Willkommen in Templeton . Das Dorf sah so altmodisch wie eine Quäkerhaube aus und so makellos wie die Seele eines Geistigen. Alle der kleinen Häuser waren weiß angestrichen und hatten grüne Fensterrahmen und Dachleisten. Überall waren niedrige weiße Holzzäune und schattenspendende Bäume. Eine Anzahl von Läden säumte die Straße: eine Bäckerei, ein Perückenmacher, eine Apotheke, ein Schuster, ein Kurzwarenladen und dergleichen mehr. An diesem sonnigen Morgen waren viele Menschen unterwegs. Die meisten von ihnen waren bunt gekleidete, braunhäutige Einheimische mit Strohhüten, aber es gab auch ein paar Weiße in zurückhaltender englischer oder europäischer Kleidung. Rechts hinter einem dunkelgrünen schmiedeeisernen Tor und Zaun fiel Matthew ein aus gelben Ziegelsteinen gebautes, zweistöckiges Gebäude auf: Templeton Inn stand auf einem kleinen Schild über der Eingangstür. Um einen kleinen runden Teich herum erstreckte sich ein gefliester Innenhof. Fenster mit zugezogenen Vorhängen sahen zur Straße hinaus und Türen führten auf Balkone mit grünem, schmiedeeisernen Geländer. Matthew fragte sich, ob Berry und Zed schon vom Schiff geholt worden waren. Dies hier sollte eine ganze Weile lang ihre Unterkunft sein. Es sah nach einem recht angenehmen Gefängnis aus. Er dachte, dass die Wachen sich vermutlich nicht allzu aufdringlich verhalten würden – aber dies war Fells Königreich, und wer würde sich hier schon beschweren?

Die Straße führte an einem Obst- und Gemüsemarkt vorbei, wo Bauern geschäftigen Handel trieben. Weiter links gab es einen Stall und gegenüber diverse Pferche voller Rinder und Schweine. Hier schimmerte Staub in der Luft und es roch wie New York im Hochsommer. Dann, nach ein paar weiteren der landläufigen Häuser, ließen sie das Dorf Templeton hinter sich und der Wald nahm wieder von den Straßenseiten Besitz. Minx und Esmerelda ritten weiter, und Matthew folgte auf Athena.

»Sollten wir nicht bald umdrehen?«, fragte Matthew schließlich, als die Sonne Mittagshitze verbreitete und ihm der Schweiß im Nacken brannte.

»Ich will Euch etwas zeigen«, sagte Minx. »Es ist nicht mehr weit.«

Tatsächlich war es das nicht. Minx führte Matthew an die Kante eines Kliffs heran, unter dem sich das glitzernde Meer erstreckte. »Wartet«, befahl sie ihm, während er die heranrollenden Wellen betrachtete. »Oh ja!«, sagte sie plötzlich und zeigte aufs Wasser. »Da sind sie!«

Eine Gischtfontäne verriet das Auftauchen von Walen. Sie rollten sich wie spielende Kinder, klatschen mit den Schwanzflossen auf die Oberfläche und erschufen ihre eigene schäumende Brandung. Die Wale tauchten ab und kamen wieder hoch, zersplitterten das Meer in Regenbogentropfen. Matthew schaute zu Minx hinüber. Sie sah den Kapriolen der massiven Tiere lächelnd zu, und er dachte, dass der Zirkus zwar nirgendwo in der Nähe des Mädchens war, das Mädchen aber nie weit vom Zirkus entfernt war.

Etwas anderes erregte seine Aufmerksamkeit. Ein Fort, das auf der Nordspitze von Pendulum Island stand. Es handelte sich um mehrere, von einer mit Kanonen bestückten Mauer umgebene Gebäude. Eine Rauchwolke hing darüber. Aus dem Schornstein eines gedrungenen Gebäudes ganz rechts wehte leichter Rauch.

»Was ist das?«, fragte Matthew und zeigte mit dem Kinn in die Richtung.

Minx verging das Lächeln. »Es gehört dem Professor.«

»Das weiß ich. Aber … es ist ein Fort, oder?«

»Das geht nur ihn was an, uns nicht«, gab sie zurück. Trotz der Mittagssonne war es kühl geworden. Sie trieb Esmerelda vom Rand der Klippe weg. Der entspannte Augenblick, den sie beim Beobachten der spielenden Wale geteilt hatten, war vorbei. Matthew folgte ihr mit dem Gefühl zurück zur Straße, dass er in etwas getreten war, das ihm nun unter den Stiefeln klebte. Das Fort verschwand hinter einem Dickicht außer Sicht, aber nach einer Weile kamen sie an einer anderen schmalen Straße vorbei, die, so nahm Matthew an, durch den Wald in die Richtung der eben gesehenen Gebäude führte. Ihm fielen tief eingegrabene Wagenradspuren auf: Die Straße zum Fort war vielbefahren. Und zu beiden Seiten der Straße gab es einen für ihn interessanten neuen Aspekt der rätselhaften Insel. Mit Lederkordeln an zwei Pfosten befestigt baumelten zwei mit bunten Streifen bemalte menschliche Totenschädel.

Es war unnötig, Minx nach der Bedeutung zu fragen. Matthew verstand. Es war eine Todeswarnung, durch die farbigen Streifen zwar fröhlich verfasst, aber nichtsdestotrotz ernstgemeint. Matthew fand, dass sich hier ein verdrehter Sinn für Humor bewies. Die vermittelte Botschaft schien zu lauten: Unbefugtes Betreten verboten, oder es wird im Grab bunt zugehen. Er fragte sich, ob in der Nähe Wächter standen, die die Straße beobachteten, um die Drohung notfalls durchzusetzen. Er kam zu dem Schluss, dass es irgendwo im Gebüsch versteckt welche geben musste. Auf die Probe stellen wollte er seine Theorie nicht.

Zumindest nicht an diesem Tag.

Denn Matthew schien, dass es in einem von Kanonen bewachten, mauerumgebenen Fort auf einer Insel, die Professor Fell gehörte, etwas geben musste, das der Kaiser der Verbrecher den Bewohnern seiner schläfrigen Traumwelt nicht zu Gesicht kommen lassen wollte.

Na ja, sagte Matthew sich, morgen ist auch noch ein Tag. Inzwischen war er daran gewöhnt, unscheinbare Steine umzudrehen und mit anzusehen, wie unsagbar Entsetzliches darunter hervorkroch und verzweifelt nach schützender Dunkelheit suchend davonhuschte. Er zügelte Athena und saß für einen Moment still im Sattel. Er starrte die Straße zwischen den beiden Pfosten und Totenschädeln hinunter und schätzte, dass sie sich auf den Wegen, die sie geritten waren, ungefähr vier Meilen weit vom Schloss des Professors entfernt befanden. Seine Neugierde und Entdeckungslust zitterte förmlich in ihm. Er wusste, dass es hier eine Frage gab, die beantwortet werden musste.

»Kommt«, sagte Minx mit fester Stimme. »Wir sollten hier nicht verweilen.«

Gewiss nicht , dachte Matthew, als er Athena wieder antrieb. Denn er hatte das unzweifelhafte Gefühl, dass sie von irgendwo zwischen den Bäumen beobachtet wurden – und dass selbst den geladenen Gästen dieser seltsamen Verbrechertagung der Kopf vom Rumpf abgetrennt wurde, wenn sie dieser Straße ins Ungewisse folgten.

Aber ungewissen Straßen zu folgen gehörte natürlich zu seinem Beruf. Und es war Teil seiner Natur.

Ein andermal , versprach er sich.

Und egal, welchen Gefahren und Intrigen er sich an diesem Abend bei dem grotesken Festmahl ausgesetzt sehen würde – er wusste, dass er seine Versprechen immer hielt.