Kapitel 20

 

Hörte die Erde auf sich zu drehen? Brach der Fußboden unter Matthew ein? Schüttete sich ein Höllenloch voller Dämonen vor Lachen aus oder weinte eine Wolke voller Engel?

Nein. Aber Matthew kippte trotzdem fast um, sein Herz zersprang beinahe, und die Erkenntnis, dass der Professor-Fell-Roboter keine Maschine war, sondern lebte, ließ ihm schwindelig werden.

Die Kreatur trug noch denselben weißen Anzug mit den Goldborten und den goldenen Verzierungen. Auf dem Kopf saß der goldverzierte weiße Dreispitz. Auch die hautfarbenen Handschuhe, die lange Finger bedeckten, waren dieselben, wie auch die hautfarbene Kutte über dem Kopf und Gesicht, die die leichten Umrisse von Nasenspitze, Wangenknochen und Augenhöhlen verriet.

Als die Figur erneut sprach, sah Matthew, wie der Stoff über dem Mund sich leicht bewegte. »Ja«, sagte Professor Fell. »Ich mag meine Spielchen.«

Matthew brachte keinen Ton heraus. Genau wie Gentrys Gesicht gekämpft hatte, sich das Wo und Wie und Warum zu erklären, verzog sich auch Matthews Miene mit eben diesen Fragen.

»Ihr seid noch so jung«, sagte der Professor. »Darauf war ich nicht vorbereitet.«

Matthew schnappte ein paarmal nach Luft und fand dann seine Stimme wieder. »Ich bin … so alt … wie ich sein muss.«

»Vielleicht älter als Ihr sein solltet .« Die behandschuhten Fingerspitzen drückten sich gegeneinander. »Ihr habt verstörende Dinge gesehen.«

Matthew zwang sich, zu nicken. Zu seiner Antwort musste er sich nicht zwingen. »Heute Abend … war wohl das Schlimmste.«

»Ich würde mich ja entschuldigen, aber es war notwendig. Es diente mehreren Zwecken.«

»Es hat auf jeden Fall dazu gedient, mir den Appetit am Nachtisch zu verderben«, sagte Matthew mit trockenem Mund.

»Es wird noch andere Mahlzeiten geben«, gab der Professor zurück. »Und andere Desserts.«

»Andere Köpfe, die abgesägt werden?«

Verbarg die Kutte ein schnelles Lächeln? »Möglicherweise. Aber nicht bei Tisch.«

Wagte er es, die Frage zu stellen? Ja! »Wessen Köpfe?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich werde darauf warten, dass Ihr es mir sagt.«

Matthew meinte, mitten in einen Albtraum hineingestolpert zu sein. Geschah dies wirklich oder hatte er verdorbene Muscheln gegessen? Obwohl die Kerzen hell brannten, wünschte er sich, es gäbe mehr Licht im Zimmer. Er wünschte sich, Professor Fell wäre weiter weg. Er wünschte sich, überall auf der Welt zu sein, nur nicht hier, vier Schritte vom Kaiser der Verbrecher und Katherine Herralds Erzfeind entfernt. »Ich?«, fragte er. »Sage es Euch ?« Seine Stirn war bereits gerunzelt, doch jetzt vertieften sich die Falten. »Sage Euch was?«

»Wer als Verräter hingerichtet werden muss«, entgegnete der Professor.

»Als Verräter ?« Matthew fragte sich, warum er in äußerst belastenden Situationen immer wie ein betrunkener Papagei klang. »Doctor Gentry ist eben als Verräter hingerichtet worden.«

»Das ist korrekt … und doch nicht ganz.«

Nichts davon wollte für Matthew einen Sinn ergeben. Sein Verstand fühlte sich überfordert. Er wich vor der maskierten Figur auf dem Stuhl zurück. Als er gegen den Eisenständer der Waschschüssel stieß, streckte er unbeholfen eine Hand nach hinten, schöpfte Wasser und benetzte sein Gesicht. Wasser tropfte ihm vom Kinn und er blinzelte wie eine Meeresschildkröte.

»Lasst Euch Zeit«, riet der Professor ihm. »Ich bin mir sicher, dass Ihr Fragen habt.«

Matthew fand seinen Weg zu dem Stuhl vor dem Pult und sank darauf nieder. Er hatte in der Tat Fragen … und zwar so viele, dass sie sich ineinander verhakten wie eine Unzahl von Kutschen, die sich gleichzeitig durch einen Tunnel zu zwängen versuchten.

»Dann lasst mich anfangen.« Der verhängte Kopf neigte sich ganz leicht zur Seite. »Was mein kleines Spiel bei Tisch angeht – so zu tun, als wäre ich ein Roboter … mich faszinieren mechanische Konstruktionen. Sirki kennt die Wahrheit und Mother Deare auch – und jetzt Ihr. Meine Scharade hilft mir, einen angemessenen Abstand zu meinen Mitarbeitern zu wahren.«

Matthew meinte zu nicken, aber sicher war er sich nicht. »Darf ich fragen … wie das funktioniert? Ich habe die Maschine gehört … und Eure Stimme.«

»Oh, im Stuhl befindet sich tatsächlich eine Maschine. Ich bediene sie, indem ich auf die Beschläge an den Armlehnen drücke. Und was die Stimme angeht …« Die rechte Hand schlüpfte in eine Tasche und zog ein kleines Metallobjekt heraus, das den Pfeifen einer Miniaturorgel glich. »Das hier passt in meinen Mund. Es ist etwas unangenehm und auch eine Herausforderung. Ich musste lernen, anders zu atmen. Es ist so gebaut, dass es meiner Stimme den gewünschten Effekt gibt.« Er steckte die Mundorgel zurück in die Tasche und blieb dann reglos und stumm sitzen, als wollte er seine Fähigkeit zur Schau stellen, wie eine aus Zahnrädern und Ketten bestehende Statue zu wirken.

»Ich kann nicht …« Matthew schüttelte den Kopf. Er fühlte sich wieder ganz benommen. Das Graue Tal war ihm doch sicher nicht hierher gefolgt? »Stehe ich unter Drogen?«, fragte er.

»Nur unter denen Eures eigenen Verstandes«, lautete die Antwort.

Matthew versuchte die Stimme zu analysieren. Wie alt war sie? Schwer zu sagen. Handelte es sich um einen Mann Ende vierzig, Anfang fünfzig? Die Stimme war sanft und weich, ohne jegliche Bosheit. Sie strahlte Bildung und Reichtum aus. Sie war überaus von sich überzeugt und hatte die Macht, den Zuhörer in ihren Bann zu schlagen, wie warmes Feuer eine Motte aus der Dunkelheit anzieht.

Dies ist der Mann, der mich umbringen wollte , dachte Matthew. Dies war der Mann, der nie vergaß, der den Tod bestellte wie ein Dessert nach dem Essen und der ein ganzes Parlament von Verbrechern ins Leben gerufen hatte, das Matthews Vorstellungskraft überstieg. Dies war der Zerstörer von Leben und Hab und Gut und Seelen. Dies war die verkörperte Angst, und Matthew fühlte sich ihr gegenüber entsetzlich klein. Und trotzdem … hinter der Maske verbarg sich ein gebildeter Mann, der lesen und schreiben konnte. Matthews Neugierde – sein angeborener Drang, Antworten zu finden – war zu einem wahren Flächenbrand entflammt.

»Ihr erinnert mich an jemanden«, sagte Professor Fell leise.

»Und wer mag das sein?«

»Mein Sohn«, kam die noch leisere Antwort. »Zumindest daran … wer er hätte sein können, wenn er noch am Leben wäre. Ist Euch das Buntglasfenster an der Treppe aufgefallen? Natürlich ist es das. Es stellt meinen Sohn Templeton dar. Ich habe das Dorf nach ihm benannt. Mein lieber Temple.« Ein sanftes Lachen mit trauriger Note. »Was ein Vater nicht alles tut, um eine Erinnerung am Leben zu halten.«

»Was ist ihm zugestoßen?«, fragte Matthew.

Darauf wurde nicht gleich geantwortet. Dann stieß die maskierte Gestalt einen Seufzer aus, der wie der Wind am Ende der Welt klang. »Lasst mich Euch erklären, warum Ihr hier seid«, sagte er. »Ihr nennt Euch Problemlöser. Ich nenne Euch Vorsehungsreiter, denn ich brauche einen Spurenleser, der sich vorwagt – und den richtigen Pfad findet. Viel hängt davon ab, Matthew. Es hat viel Geld gekostet und … Umstände bereitet, Euch herzubringen. Wie Ihr wisst.«

»Ich weiß, dass viele Menschen zu leiden hatten.«

»Ja, hatten sie. Aber das lag an Euch . Ihr habt eine Einladung zum Essen abgelehnt, oder nicht? Ihr müsst begreifen … dass niemand Nein zu mir sagt, Matthew.«

Gesprochen wie ein Mann, der meinte, keinen größeren Gott als sich selbst zu brauchen, dachte Matthew. Aber er entschied, dass es unklug wäre, das zu äußern.

»Jetzt seid Ihr hier«, sagte der Professor. »Das ist das Wichtigste. Ihr habt einen Teil meiner Welt gesehen; was ich erreicht habe. Und ich … bin von akademischen Wurzeln aufgestiegen. Man kann es kaum glauben, nicht wahr?«

»In der Tat.«

»Vernünftig, dass Ihr mir zustimmt. Ich habe Euch hergebracht, weil es da ein Haar in der Suppe meiner Errungenschaften gibt. Ein kleines Haar, das mich Tag und Nacht stört. Jonathan Gentry war kein Verräter. Zumindest hat er mich nicht verraten. Sich selbst vielleicht schon mit seinen immer schlimmer werdenden Abhängigkeiten. Vor einiger Zeit habe ich ihm nahegelegt, ein Notizbuch mit seinen Giftrezepten und anderen nützlichen Mitteln anzulegen. Danach wurde er nutzlos. Allerdings … war er heute Abend sehr nützlich.«

Matthew sagte nichts. Es war besser, keinen Fuß in einen Garten aus Treibsand zu setzen.

»Er war insofern nützlich«, fuhr der Professor fort, »als dass sein Tod dem wahren Verräter vielleicht das Gefühl vermittelt hat, mit seinem Vergehen gegen mich davongekommen zu sein. Es gibt einen Verräter unter ihnen, Matthew. Ich habe den Verdacht, dass dieses störende Haar einer von drei Männern ist: Adam Wilson, Cesar Sabroso oder Edgar Smythe. Jeder von ihnen hatte die Gelegenheit – und vielleicht auch das Motiv – gehabt, mir das anzutun, was letzten Sommer geschah.« Die Figur lehnte sich ein bisschen vor und die behandschuhten Finger krallten sich in die Armlehnen. Matthew hatte das Gefühl, dass das Gesicht hinter der Maske immer noch ruhig war, der Mund sich aber vielleicht verspannt und kochende Wut in die Augen geschlichen hatte.

»Ich brauche Euer Können, um diesen Verräter zu entblößen.« Der Stoff über dem Mund flatterte leicht. »Als ihr Herr und Gebieter habe ich das Recht, alle drei Verdächtigen hinzurichten. Doch das wäre Verschwendung. Daher … brauche ich einen Namen. Und noch mehr – wenn es Beweise für den Verrat gibt und der Verräter sie noch hat, will ich sie sehen. Also, um Eure Frage zu beantworten … nur noch ein Kopf wird rollen müssen, und Ihr werdet mir sagen, wessen Kopf es sein muss.«

Fast hätte Matthew gelacht. Fast – bis er sich vorstellte, wie sein eigener Kopf auf dem Tisch lag. »Was Ihr da erwartet … ist unmöglich . Ich würde so viel mehr wissen müssen. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich es wissen will – genau wie ich mir sicher bin, dass Ihr es mir nicht sagen wollt.« Trotz seiner Zwangslage röteten seine Wangen sich plötzlich verärgert. Er stand auf. »Ich kann es nicht glauben! Ihr habt mich hergebracht, um einen Verräter aufzuspüren, obwohl ich nicht einmal wissen darf, wo ich überhaupt anfangen soll! Also gut, dann sagt mir Folgendes: Was hat der Verräter verbrochen?«

»Wegen ihm ist vor Portsmouth ein Schiff von der Royal Navy beschlagnahmt worden. Es war unterwegs, um sich auf dem Meer mit einem anderen Schiff zu treffen.«

»Und ich nehme an, dass es wertvolle Fracht geladen hatte? Was für Fracht war das?«

»Das müsst Ihr nicht wissen.«

»Natürlich nicht!« Matthew verzog den Mund zu einem halbverrückten, halbpanischen Grinsen. »Welche Nationalität hatte das Schiff, mit dem es sich treffen sollte?«

»Auch das müsst Ihr nicht wissen.«

»Oh, ganz sicher nicht!« Matthew versuchte es mit einem anderen Köder, auf der Jagd nach einem anderen Fisch. »Was ist dieses oder dieser Kymbelin, das Ihr bei Tisch erwähnt habt? Ihr sagtet: Es geht um Kymbelin. War das der Name des Schiffes?«

»So heißt ein Theaterstück von William Shakespeare«, sagte Professor Fell mit seiner aufreizend weichen, ruhigen Stimme. »Vielleicht ist Euch sein Werk bekannt?«

»Ja. Und das Stück auch. Aber Ihr seht, Ihr verratet mir nichts. Wie kann ich einen Judas aufdecken, ohne die Einzelheiten seiner Tat zu kennen?«

Die Fingerkuppen legten sich wieder gegeneinander. Das maskierte Gesicht blieb lange in Matthews Richtung gedreht, ohne ein Wort zu sagen. Dann: »Ihr nennt Euch Problemlöser, oder stimmt das nicht? Und Ihr habt schon so einige Probleme in Eurem Städtchen aufgeklärt. Habt Ihr inzwischen nicht ein Gespür für Lügen entwickelt? Könnt Ihr einem Gesicht oder einer Stimme nicht die Wahrheit ablesen? Könnt Ihr Schuld oder Unschuld nicht am Gebaren eines Mannes erkennen? An der Art, wie er sich anderen gegenüber verhält? An der Art, wie er auf Fragen und Druck reagiert? Ich gestatte Euch, Fragen zu stellen und Druck auszuüben. Natürlich wisst Ihr, dass Ihr um Eurer eigenen Sicherheit willen die Maskierung als Nathan Spade aufrechterhalten müsst.«

»Um meiner Sicherheit willen? Ich glaube, dass die Thacker-Brüder mit Matthew Corbett ein bisschen besser als mit Nathan Spade umgehen würden.«

»Die fühlen Euch nur auf den Zahn. So sind sie eben.«

»Ach so. Na dann.« Matthew nickte, immer noch das verzerrte Grinsen im Gesicht. »Solange sie mich nicht umbringen

»Wenn Ihr Euch von ihnen nicht tyrannisieren lasst, werden sie sich bald nicht mehr dafür begeistern.«

»Ich finde, diese Aufgabe ist ein Ding der Unmöglichkeit«, sagte Matthew. »Wie viel Zeit habe ich für diese Verräter-Aufdeckung? Ein oder zwei Wochen?«

»Drei Tage«, sagte Professor Fell. »Die Versammlung endet, nachdem mir Bericht erstattet worden ist.«

Drei Tage , wiederholte Matthew und konnte es kaum glauben, wollte aber nicht wieder zum betrunkenen Papagei werden. »Unmöglich«, stöhnte er. »Niemand könnte schaffen, was Ihr erwartet!«

»Ihr glaubt, Katherine Herrald könnte es nicht?«, fragte der Professor aalglatt.

Matthew schwieg. Er starrte auf den Boden, der wohl das Spielbrett ihrer grandiosen Schachpartie war. Leider fiel ihm kein geschickter Schachzug ein.

»Lasst uns über Geld sprechen«, sagte Professor Fell. »Lasst uns über die Belohnung sprechen, Matthew. Falls es Euch nicht gelingt, den Verräter in den nächsten drei Tagen aufzudecken, werde ich Euch dreihundert Pfund zahlen und Euch, Eure Freundin und den Mohren zurück nach New York schicken. Falls Ihr es aber schafft, den Verräter und Beweismaterial für seinen Verrat zu finden, zahle ich Euch dreitausend Pfund, bevor ich Euch nach Hause schicke. Hinzu wird Eure Blutkarte zu Asche verbrannt werden und ebenfalls die Eures Freundes Nathaniel Powers in der Carolina-Kolonie. Alles gegen Euch und Powers Vorliegende wird vergeben. Klingt die Aufgabe noch immer so unmöglich?«

Matthew brauchte einige Sekunden, um sich von der Erwähnung einer derartig großen Geldsumme zu erholen – und von der Tatsache, dass der ehemalige Richter Powers den Mann, der nicht vergaß, nicht mehr würde fürchten müssen. »Unmöglich vielleicht nicht«, antwortete Matthew. »Aber beinahe undurchführbar. Mit was kann ich denn arbeiten?«

»Mit Eurem Instinkt. Eurer Intelligenz. Eurer Erfahrung. Euren … Vermutungen, wenn nichts anderes hilft. Ich werde Euch einen Schlüssel geben, mit dem Ihr die Zimmer unserer drei Verdächtigen betreten könnt. Sirki wird Euch über die beste Zeit dafür in Kenntnis setzen. Und ich werde ihn befugen, weitere Fragen zu beantworten – in vernünftigen Grenzen, natürlich. Vielleicht werdet Ihr selbst entdecken, aus was genau der Verrat bestand, aber ich werde Euch Folgendes sagen: Wenn ich Euch jetzt die genauen Umstände erklären würde, müsste ich Euch und Eure Gefährten davon abhalten, diese Insel jemals wieder zu verlassen. Daher … bitte ich Euch, von Euren Fähigkeiten Gebrauch zu machen, Matthew. Seid Ihr dieser Aufgabe gewachsen oder nicht?«

Er antwortete mit der Wahrheit. »Das weiß ich nicht.«

»Seht zu, dass Ihr es bis morgen früh wisst. Sirki wird vor dem Frühstück an Eure Tür kommen.«

»Dann sagt mir zumindest dies«, forderte Matthew. »Geht es auch um den Mann, den Ihr sucht? Brazio Valeriani?«

»Nein. Das ist eine andere Angelegenheit. Aber ich muss sagen, dass ich, falls Ihr in dieser Sache Erfolg habt, überlegen würde, Euch auf der Suche nach Valeriani nach Italien zu schicken. Und solltet Ihr ihn finden, würde ich Euch so viel zahlen, dass Euch die ganze kleine Stadt gehören kann, in der Ihr lebt.«

»Ich habe keinen Ehrgeiz, eine Stadt zu besitzen.«

»Ha«, machte der Professor und Matthew dachte, dass der unausgesprochene Kommentar dahinter war: Meiner ist, die ganze Welt zu besitzen.

»Bis zum Morgen werde ich irgendeine Art von Entscheidung getroffen haben«, antwortete Matthew, obwohl er wusste, wie die Entscheidung lauten musste. Er würde mit verbundenen Augen arbeiten, aber versuchen musste er es.

Professor Fell stand plötzlich auf. Er war ungefähr sechs Zentimeter größer als Matthew und wirkte zerbrechlich, bewegte sich aber mit eleganter Kraft. »Ich vertraue darauf, dass Ihr Euch selbst vertraut. Ich weiß, was Ihr könnt. Schließlich haben wir eine gemeinsame Vergangenheit , nicht wahr?«

Die Beulenpest hatte auch eine Vergangenheit, dachte Matthew.

»Ich werde wieder mit Euch reden«, versprach der Professor. Er ging zur Tür und blieb mit der Hand auf dem polierten Knauf stehen. »Dies ist mir wichtig, Matthew. Es ist entscheidend . Findet diesen Verräter, und eine äußerst vielversprechende Zukunft liegt vor Euch.«

Matthew hoffte, sich überhaupt irgendeiner Zukunft sicher sein zu können, aber er entschied, diese Überlegung nicht auszusprechen. Allerdings hatte er eine andere Frage. »Bevor Ihr in mein Zimmer kamt, gab es so etwas wie einen kleinen … Ruck. Eine Bewegung. Was war das?«

»Ein Erdbeben. Wir haben sie ab und zu, aber es ist nichts, weswegen man sich Sorgen machen muss.«

»Dieses Schloss steht am Rand einer Klippe und Ihr sagt, dass ein Erdbeben nichts ist, um das man sich Sorgen machen muss?«

»Die Erdbeben sind schwach und das Schloss ist stabil«, sagte der Professor. »Ich weiß das, weil ich es wieder aufbauen ließ, als ich die Insel als mein Geburtsrecht an mich nahm. Ich wurde in diesem Haus geboren. Mein Vater war der Gouverneur hier.«

»Der Gouverneur? Von Templeton?«

»Es ist Zeit, dass Ihr Euch ausruht«, kam die sanfte Antwort. »Ich wünsche Euch angenehme Träume.«

»Danke, aber sorgt Ihr Euch nicht, dass Ihr im Flur auf einen Eurer Mitarbeiter treffen könntet? Das wäre Eurer Scharade als Roboter nicht förderlich, oder?«

»Nein, absolut nicht. Deshalb sind der Vanillekuchen, die gezuckerten Mandeln und der Wein mit einem starken Schlafmittel versetzt worden. Ich glaube, die anderen ruhen sich inzwischen auf der Terrasse in bequemen Liegestühlen aus. Ich bezweifle, dass Miss Cutter heute Abend ihr Zimmer verlassen wird, um durch die Korridore zu streifen. Madam Chillany befindet sich ebenfalls hinter einer verriegelten Tür und wird nicht herauskommen.«

»Aber Ihr wusstet, dass ich von diesem dubiosen Nachtisch nichts wollen würde?«

»Nach diesem Mahl nicht, nein. Aber Mother Deare hatte ein Auge auf Euch und war bereit, einzugreifen, und sonst hätte Sirki Euch von der Terrasse weggerufen. Außerdem bin ich nicht die Haupttreppe hochgekommen und werde sie auch nicht hinuntergehen.«

»Gibt es hier keine Geheimgänge?«, wagte Matthew ein bisschen leichtsinnig zu fragen.

»Keine, die Ihr kennen solltet«, sagte Professor Fell. »Ach … Ihr wisst schon, dass Ihr in die Hose genässt habt, nicht? Legt Euren Anzug draußen vor die Tür. Ich werde ihn für Euch waschen lassen.« Matthew musste nicht erst an sich heruntersehen. Für den Nachttopf war es inzwischen zu spät. »Gute Nacht.« Die maskierte Gestalt öffnete die Tür, hielt nur kurz inne, um in den Korridor zu blicken, und verließ dann Matthews Zimmer. Die Tür schloss sich hinter Professor Fell mit fast demselben Geräusch wie der Atem, der ein paar Sekunden später aus Matthews Lungen entwich.

Matthew zwang seine Beine, sich zu bewegen. Er trat auf den Balkon hinaus, um den Wellen zu lauschen, die sich gegen die Felsen warfen. Der pechschwarze Himmel war mit Sternen übersät. Eine majestätische Kulisse, die aber gleichzeitig furchtbar einsam und gefährlich wirkte. Matthew ging vieles durch den Kopf. Er konzentrierte sich darauf, sein Gehirn vor dem Bild von Jonathan Gentrys immer gelber werdendem Gesicht zu verschließen, aber das war schwer. Er wusste, wenn er versuchte zu schlafen, würde es ihn heimsuchen kommen. Deshalb würde er mit Sicherheit alle acht Kerzen im Kronleuchter anstecken und auch den Armleuchter die ganze Nacht brennen lassen.

Was für ein Tag! Er fragte sich, wie Berry und Zed ihn wohl überlebt hatten und wie ihre momentane Situation aussah. Er machte sich Gedanken über das geheimnisvolle Fort und die buntbemalten Totenschädel, die mit einem unheilvollen Schicksal drohten. Er fragte sich, wie es Captain Jerrell Falco erging. Er überlegte, wie er Fancy – wenn sie tatsächlich die war, für die er sie hielt – aus den groben Klauen der Thacker-Brüder befreien konnte. Er fragte sich, wer Brazio Valeriani war und um was es sich bei Kymbelin handelte. Er fragte sich, wie er innerhalb von drei Tagen einen Verräter entlarven konnte. Und vor allem fragte er sich, wie zum Teufel er in diese missliche Lage gelangt war.

Aber die Tatsache war nun mal … er war hier. Und steckte bis zum Hals seines nach Blut stinkenden Anzugs in einem Meer voller Raubfische.

Ich wünsche Euch angenehme Träume , hatte der Professor gesagt.

Nicht in dieser Nacht , dachte Matthew.

Und doch würde er gleich seinen blutbespritzten Anzug ausziehen, ihn zusammenfalten und vor die Tür legen und sich dann in seinem Himmelbett in Professor Fells Schloss ausstrecken, um versuchen zu ruhen, denn sein Kopf musste am Morgen, wenn Sirki kam, wieder klar sein.

Er war, wer er war. Katherine Herrald hatte ihm damals bei seiner Anstellung in der Herrald-Vermittlung gesagt: Wir brauchen Euch, Matthew. Ihr werdet gut bezahlt und stark gefordert werden. Und schon bald vermutlich viel gereist sein. Und auf jeden Fall gut geschult in den Schwierigkeiten des Lebens und der Gedankenwelt von Verbrechern sein. Habe ich Euch abgeschreckt?

Matthew starrte in die tiefe Dunkelheit und antwortete laut mit denselben Worten, die er der Frau gegenüber gebraucht hatte. »Nein, Ma’am. Ganz und gar nicht.«

Allerdings wartete der nächste Tag bereits.