Kapitel 22

 

Matthew saß in seinem hell gestreiften kohlegrauen Anzug bereit und wartete. Der Anzug saß ein bisschen enger als vor dem Salzwasserbad, aber er stand ihm immer noch gut. Als es zu dieser frühen und sonnigen Stunde an der Tür pochte, öffnete Matthew rasch, denn er wusste, wessen Faust es war, die anklopfte.

»Guten Morgen«, wünschte Sirki ihm mit einem leichten Nicken seines Turbankopfes. An diesem Tag war der indische Riese in seine weißen Gewänder gehüllt, unbefleckt wie Neuschnee. Kurz blitzten die diamantbesetzten Schneidezähne auf. »Ihr seid wohlauf, nehme ich an?«

»Es geht mir ausgezeichnet«, antwortete Matthew, um einen leichten Tonfall bemüht. Doch das fiel ihm schwer. »Und Euch?« So gut wie erwartet, nahm Matthew an, für jemanden, dem es Spaß bringt, Köpfe von den dazugehörigen Körpern abzusägen.

»Ich bin angewiesen worden, Euch zu bezahlen«, gab der Riese zurück. Er hielt Matthew einen braunen Lederbeutel hin, der mit einer Kordel verschnürt war. »Dreihundert Pfund in Goldmünzen hat man mir gesagt. Eine sehr große Summe – die Ihr behalten dürft, egal wie Eure Entscheidung bezüglich des Problems lautet, vor dem der Professor steht.«

»Hm«, sagte Matthew. Er nahm den Beutel. Er war äußerst schwer. Matthew fielen das rote Wachssiegel auf der Kordel und der darin eingestanzte Krake auf; das Symbol des Professors Ehrgeizes. Matthew schwenkte den Beutel neben seinem rechten Ohr hin und her, um die Münzen klingeln zu hören. »Bevor ich mich entscheide, habe ich noch Fragen an Euch«, sagte er nachdrücklich. »Werdet Ihr sie mir beantworten?«

»Ich werde mich bemühen.«

Matthew beschloss, Sirki nicht von seinem Traum letzte Nacht zu erzählen, der ihn in seinem unruhigen Schlaf überfallen hatte. In dem von fantastischen Dingen durchzogenen Traum war Jonathan Gentrys nach Luft schnappender Kopf über den blutverschmierten Tisch gerollt und Matthew in den Schoß gefallen, wo der verzerrte Mund drei Wörter gekrächzt hatte, die Matthew jetzt Sirki gegenüber wiederholte.

»Finanzen. Waffen. Spanien.« Matthew war in der kalten Stunde vor der Dämmerung aufgestanden und auf dem Balkon hin und her gegangen, bis er meinte, die Situation klarer zu erfassen. »Das sind die Sphären, in denen die drei Männer tätig sind. Entsprechend vermute ich, dass die Royal Navy eine für die Spanier gedachte Waffenlieferung abgefangen hat, für die der Professor eine namhafte Summe Geld erhalten hätte?«

»Eure Vermutung könnte stimmen«, sagte der Riese mit ausdrucksloser Miene und ebenso gleichgültiger Stimme. »Ich denke, dass ich vielleicht besser zu Euch ins Zimmer komme, als dieses Gespräch im Flur zu führen«, fügte er hinzu.

Als Sirki das Zimmer betrat, wich Matthew vorsichtig vor ihm zurück, denn er nahm an, dass das abstoßende Messer mit der gezahnten Klinge irgendwo griffbereit war. Sirki schloss die Tür und baute sich davor wie ein indischer Eisenholzbaum auf. »Jetzt bin ich bereit, mir weitere Eurer Vermutungen anzuhören«, sagte er.

»Danke.« Matthews angedeutete Verbeugung vollendete die Höflichkeitscharade. »Entsprechend nehme ich an, dass Professor Fell die Spanier mit einer neuartigen Waffe versorgt? Und vorhat, dieselbe Waffe den Briten zu verkaufen, sobald Spanien sie in großen Mengen herstellt? Und dass er diese Waffe an weitere Länder liefern will?«

»Möglicherweise korrekt«, sagte Sirki.

»Aber jemand hat die Briten davon in Kenntnis gesetzt, und die erste Schiffsladung ist auf dem Meer abgefangen worden? Was für eine Waffe ist das, Sirki?«

»Derartige Auskünfte darf ich nicht geben«, lautete die Antwort.

»Also gut.« Matthew nickte gelassen. Darauf war er vorbereitet gewesen. »Der Professor glaubt, dass einer der drei Männer der Verräter ist. Könnte es sein, dass es unter den dreien zwei Verräter gibt, die zusammenarbeiten?«

»Ein guter Punkt. Der Professor hat diese Möglichkeit schon in Betracht gezogen und wollte, dass Ihr selbst darauf kommt.«

»Bei den Beweisen, nach denen Professor Fell sucht, könnte es sich also um irgendeine Botschaft oder Nachricht handeln, die diese zwei miteinander ausgetauscht haben – wenn es denn zwei sind?«

»Das wäre möglich.«

Matthew legte den Beutel mit den Goldmünzen auf den Schreibtisch. Obwohl er davon ausging, dass man ihn heute seinen Kopf behalten ließ, hasste er es, Sirki den Rücken zuzudrehen. Durch die Lamellentüren des Balkons konnte er die schrillen Möwenschreie und das Trommeln der Wellen unterhalb der Klippen hören, auf denen das Schloss stand. Es würde ein warmer Tag werden, hier, eine ganze Welt weit von New York entfernt. Er wünschte sich von tiefstem Herzen, mit Berrys Hand in seiner durch verschneite Straßen zu spazieren und sie von gefährlichen Situationen wegzusteuern zu können.

»Professor Fell bringt mich in eine Lage, in der ich selbst zum Verräter werde«, sagte Matthew nach einigem Abwägen. »Zum Landesverräter«, setzte er mit einem schnellen Blick auf den Riesen hinzu. »So, wie ich das verstehe, verkauft der Professor den Feinden Englands Waffen – mit der Erwartung, dass England dann dieselben Waffen ebenfalls kaufen muss, um das Arsenal auf dem neuesten Stand zu behalten. Geplant oder nicht, aber der sogenannte Verräter … oder die Verräter … arbeiten im Grunde für das Wohl Englands. Indem ich sie entlarve, verrate ich mein Land. Stimmt das nicht?« Matthew sah Sirki kalt an und wartete auf seine Reaktion.

Sirki antwortete lange nicht. Dann sagte er schulterzuckend: »Geld ist Geld. Manchmal kauft es Patrioten, manchmal Verräter. Macht Euch nichts vor, Matthew, in den Korridoren der Parlamentsgebäude sind beide Kategorien unterwegs. Sie suhlen sich in Luxus und trinken ihren Wein, während ihnen unter ihren englischen Perücken die Gier den Kopf zerfrisst. Aber wir wollen nicht Gier sagen. Lasst es uns … Aufstiegsmöglichkeiten nennen. Das ist das Fett, das sämtliche großen Zahnräder schmiert, die die Welt vorantreiben, Matthew. Ich sage Euch, dass Ihr hier vor der größten Aufstiegsmöglichkeit Eures Lebens steht – wenn Ihr mit beiden Händen zugreift.«

»Meine Hände sollen nicht von englischem Blut besudelt werden«, konterte Matthew.

»Aber die Hände von irgendjemandem werden es ja doch«, entgegnete Sirki auf seine seidenweiche Art. »Soviel ich weiß, bietet der Professor Euch große … Belohnungen an. Und er möchte sehen, wie Ihr unter Druck reagiert.«

»Unter Druck lasse ich mich treiben«, sagte Matthew.

»Das hofft er. Er möchte, dass Ihr auf eine gute Entscheidung zutreibt; eine, die sowohl ihm als auch Euch nützt. Ihr habt keine Ahnung, was er alles für Euch tun kann, wenn er Euch für würdig befindet.«

»Seiner Achtung würdig, aber meiner eigenen unwürdig?«

Sirki lächelte dünn, fast traurig. »Ach, Matthew. Euer Unwissen über die Welt könnte die Bibliothek des Professors zehnfach füllen.«

»Schreibt er die Bücher darin alle selbst? Und nennt sich Gott dabei?«

Für eine Weile starrte Sirki auf den Schachbrettfußboden, ohne etwas zu sagen. Als er schließlich sprach, lag keine Seide mehr in seinem Ton, sondern etwas Hartes wie die Sägezähne seiner Messerklinge. »Soll ich dem Professor sagen, dass Ihr Euch des zu lösenden Problems annehmt, oder nicht?«

Jetzt war es Zeit für Matthews Schachzug. Er sah keine Möglichkeit, seinen Springer in Sicherheit zu bringen. Es war ein hartes Opfer, aber eines, das ihn das Spiel vielleicht gewinnen lassen würde, wenn er die Partie fortführen wollte.

»Ich nehme an«, sagte Matthew.

»Sehr wohl. Er wird sich freuen.« Sirki legte die Hand auf den Türknauf, der in seinen Fingern verschwand. Matthew fuhr der Gedanke durch den Kopf, dass der Riese die Tür mit dieser einen Hand aus den Angeln reißen konnte, wenn er wollte. Aber Sirki öffnete sie sanft. »Ich gehe davon aus, dass Ihr diesen Tag durch und durch genießen werdet«, sagte er.

Was wohl bedeuten sollte: Macht Euch an die Arbeit , dachte Matthew.

»Was übrigens die Bibliothek des Professors angeht«, sagte Sirki und hielt auf der Türschwelle inne. »Sie befindet sich im nächsten Stock. Ein Besuch dort wird Euch interessieren. Es gibt viele Bücher, die Euch vielleicht faszinieren werden – und außerdem habe ich gerade Edgar Smythe die Treppe hochgehen sehen.«

»Ich weiß Euren Ratschlag zu schätzen«, sagte Matthew.

Sirki schloss die Tür, und damit war ihr Gespräch fürs Erste beendet.

Matthew sagte sich, dass es keine Zeit zu verlieren gab. Er hatte keine Ahnung, wie er sich dem finster dreinschauenden Waffenexperten Edgar Smythe nähern sollte, aber beschloss, es einfach darauf ankommen zu lassen. Er verließ sein Zimmer, schloss ab und ging die Haupttreppe ins nächste Stockwerk hoch.

Eine polierte Doppeltür aus hellem Eichenholz führte in einen Raum, bei dessen Anblick Matthew fast die Knie schwach wurden. Er war vom glatten Holzfußboden bis hoch unter die gewölbte Decke mit Regalen voller Bücher gefüllt. Wie in der Banketthalle lauerten auch hier Puttengel zwischen den schwebenden aufgemalten Wolken über Matthews Kopf. Ihm gefiel der Duft von Folianten voller wunderbarer gärender Ideen, Überlegungen und Kommentare. Hier stand genug Material, um seinen Intellekt auf Jahre hinaus zu nähren. Er spürte tatsächlich, wie sein Herz angesichts dieses Schatzes schneller schlug. Zur Hölle mit den dreihundert Pfund; diese Wissensfülle war das Gold, an dem ihm wirklich lag. Auf der anderen Seite der Bibliothek entdeckte er Lamellentüren, die wohl auf einen Balkon hinausführen mussten. Zu beiden Seiten davon rahmten schwere, weinrote Vorhänge, die mit gelben Kordeln zurückgebunden waren, Fenster mit Aussicht aufs Meer ein. Mehrere schwarze Ledersessel und ein Sofa standen im Zimmer, ein Tisch mit Weinflaschen und anderen Alkoholika zur weiteren Freude der Bibliophilen, sowie ein großer weißer Sekretär mit grüner Schreibunterlage. Am Tisch saß Edgar Smythe, der sich mit der Feder aus einem dünnen Büchlein etwas auf gelbes Pergamentpapier abschrieb und dessen graubärtiges, runzeliges Gesicht ganz auf seine Arbeit konzentriert war. Er trug wieder seinen schwarzen Anzug und das weiße Hemd – vielleicht besaß er ein halbes Dutzend dieser Anzüge, überlegte Matthew – und hatte sich eine Tonpfeife zwischen die Zähne geklemmt, aus der sich dünner Rauch der gleichen Farbe wie Meereswellen im Morgenlicht kringelte.

Matthew ging auf ihn zu, blieb stehen und räusperte sich. Smythe fuhr damit fort, sich aus dem Buch etwas auf Pergamentpapier abzuschreiben. Ab und zu tunkte er die Feder ins Tintenfass und schrieb dann fleißig weiter.

»Wollt Ihr irgendwas, Mr. Spade?«, fragte Smythe plötzlich an dem Pfeifenstiel in seinem Mund vorbei, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Seine Stimme klang so grob wie der gestrige Mord.

»Nichts Besonderes.« Matthew trat näher. »Ich wollte mir die Bibliothek anschauen.«

»Seht Euch um, so viel Ihr wollt«, wies Smythe ihn an. Was es auch war, das er da abschrieb – er bemühte sich nicht, so zu tun, als bereitete es ihm keine Mühe. »Aber … guckt mir nicht über die Schulter, ja?«

»Natürlich nicht, Sir.« Trotzdem machte Matthew keinerlei Anstalten, auf Abstand zu gehen. »Allerdings beschäftigt mich etwas, bei dem Ihr mir hoffentlich helfen könnt.«

»Ich kann Euch mit nichts helfen.«

»Das stimmt vielleicht nicht ganz.« Matthew ging noch einen Schritt weiter an ihn heran und stand nun fast an Smythes Ellbogen. Wenn schon, denn schon , dachte Matthew. »Ich hatte gehofft, dass Ihr mir mehr über Kymbelin sagen könnt.«

Die Feder hörte auf, über das Pergament zu kratzen. Matthew sah, dass das Papier fast völlig mit kleiner, aber ordentlicher Schrift bedeckt war, und dass noch einige weitere leere Seiten parat lagen. Smythe drehte den Kopf und die melancholischen grauen Augen starrten Matthew mit einer gewissen Eindringlichkeit an. »Wie meinen?«

»Kymbelin«, wiederholte Matthew. »Ich würde gern mehr darüber erfahren.«

Smythe saß stocksteif da; eine geschlagene Minute lang, wie es schien. Schließlich streckte er seine Schreibfeder in die Halterung und nahm sich die Pfeife aus den zusammengebissenen Zähnen. »Cymbeline ist ein Theaterstück«, sagte er leise. Er hielt das Büchlein hoch, auf dessen dunkelbraunem Ledereinband in goldenen Buchstaben stand: Die Tragödie von Cymbeline in fünf Akten von William Shakespeare. »Soll ich Euch aus dem vorlesen, was ich hier geschrieben habe?« Ohne abzuwarten, sprach er weiter. »Ängstigt Euch nicht vor der Sonnen Hitz und des Winters Wüten; nach getanem weltlichem Tun kehret heim mit Eurem Lohn; denn aus güldnen Knaben und Jungfern auch; wird des Schornsteinfegers Staub.«

Smythe sah von seinem Pergamentpapier auf. »Möchtet Ihr noch mehr hören?«

»Einen Vortrag über den Tod? Nein, danke.«

»Nicht bloß irgendein Vortrag, Mr. Spade, sondern eine großartige Bejahung des Todes. Ich bin ein immenser Bewunderer von Shakespeares Theaterstücken, Sir. Ich bewundere seine Gedanken und seine Stimme, die ich mir leider nur vorstellen kann.« Er legte das Büchlein zurück auf den Schreibtisch und sog an seiner Pfeife. »Damit habe ich mich auf dieser verfluchten Insel bei Verstand gehalten, Sir. Ich habe fleißig Passagen aus Shakespeares Werken übertragen, von denen der Professor zum Glück die komplette Sammlung hat. Auf Euch zu warten, hat uns alle Nerven gekostet. Daher … habe ich mich auf diese Weise etwas abgelenkt, und meine Wertschätzung dieser großen Meisterwerke ist nochmals gestiegen. Habt Ihr etwas dagegen?«

»Nein.« Matthew versuchte verzweifelt, seine Verwirrung nicht zu zeigen. Natürlich war Cymbeline ein Theaterstück; eines, das von den Irrungen und Wirrungen eines britischen Königs namens Cymbeline oder auch Kymbelin handelte – und möglicherweise auf den Legenden des echten britischen Königs Cunobelinus basierte. Aber was es mit dem Problem des Professors oder der neuen Waffe zu tun hatte, konnte Matthew sich nicht erklären. Er fand, er sollte jetzt besser aufhören Köder auszulegen und mit dem Angeln beginnen. »Ich nehme an, dass es der Geheimname dieses neuen Geräts ist, das der Professor erfunden hat?«

»Was für ein Gerät? Wovon redet Ihr?«

»Von der neuen Waffe «, sagte Matthew. »Die er an Spanien verkaufen will und die auf See von der British Navy abgefangen wurde. Wegen Gentry«, beschloss er hinzuzufügen.

Die Pfeife stieß ihre Rauchspiralen aus. »Junger Mann«, knirschte die Kieselsteinstimme, »Ihr begebt Euch auf dünnes Eis. Ihr wisst, dass wir unsere Geschäfte auf seinen Befehl hin für uns behalten sollen. Ich will nichts darüber wissen, wie Ihr mit Euren Huren an Staatsgeheimnisse kommt, und Euer Wunsch, mehr über Kymbelin zu erfahren, ist unklug.«

Matthew zuckte die Achseln, ließ sich aber nicht abweisen. »Ich bin von Natur aus neugierig. Und die hübsche Szene gestern Abend hat mich nur noch neugieriger gemacht. Ich möchte bloß wissen, warum es Kymbelin genannt wird.«

»Ach ja? Und wer hat Euch gesagt, dass Kymbelin eine Waffe ist?«

»Sirki«, sagte Matthew. »Auf meine Fragen hin.«

»Hat er Euch auch gesagt, dass die erste Frachtladung an Spanien auf See abgefangen wurde?«

»Ja.« Matthew fand, dass Nathan Spade ein sehr gewandter Lügner war.

»Was für ein Spielchen treibt er?« Smythe runzelte die Stirn. In seiner Jugend hatte er vermutlich gut ausgesehen, aber jetzt war er nur noch hart und hässlich.

»Hat er mir etwas Falsches erzählt?«

»Nein«, sagte Smythe. »Aber er verstößt gegen die Gesetze des Professors. Ich frage mich, warum?«

»Vielleicht solltet Ihr ihn das fragen«, schlug Matthew vor, ganz der Gentleman.

Diese Bemerkung überdenkend, paffte Edgar Smythe seine Pfeife. Die blauen Qualmwolken hüllten ihn ein. Er schien zu schrumpfen und den Gedanken, den indischen Mörder zur Rede zu stellen, davonziehen zu lassen wie den Tabakrauch, der jetzt auf die Lamellentüren zutrieb. »Ihr irrt Euch«, sagte er schließlich mit toter Stimme.

»Inwiefern?«

»Was Eure Behauptung angeht, dass Kymbelin eine Erfindung von Professor Fell ist. Ist es nicht. Es war meine Idee. Meine Kreation. Mein beharrlicher Einsatz von Kopf und Ressourcen. Und ich beherrsche mein Gebiet äußerst gut, Mr. Spade. Das ist also Euer erster Irrtum, den ich mit Vergnügen korrigiere.« Er blies eine kleine Rauchfontäne in Matthews Richtung. »Euer zweiter ist, dass es sich bei Kymbelin um eine Art Werkzeug handelt«, fuhr er fort. »Habt Ihr Euch so etwas wie eine doppelläufige Kanone vorgestellt, die sich irgendein exzentrischer Erfinder erträumt hat?«

»Das nicht.« Wobei Matthew genau dieser Gedanke gekommen war. Er hatte seine Erfahrungen mit doppelläufigen Waffen und exzentrischen Erfindern gemacht.

»Kymbelin ist das Fundament, auf dem Kriegswerkzeug der Zukunft gebaut werden wird«, sagte der Waffenexperte. »Es verleiht dem, der es besitzt, im Krieg einen definitiven Vorteil und ist deshalb für viele Nationen von immensem Wert.«

»Das verstehe ich schon, aber sobald viele Länder es haben … bedeutet das nicht, dass Kymbelin dann nutzlos wird?«

»Das ist nun mal so«, gab Smythe mit einem Rauchwölkchen aus zusammengekniffenen Nasenlöchern zu. »Es wird immer wieder Neues nach Kymbelin geben und dann wieder etwas danach bis ans Ende der Zeit.«

Matthew bedachte ihn mit einem dünnen Lächeln. »Mir scheint, Sir, dass Euer Geschäftszweig das Ende der Zeit letztendlich beschleunigen wird.«

»Das wird erst eintreten, wenn ich schon lange nicht mehr lebe.« Smythe tippte mit dem Finger gegen den Pfeifenkopf, denn der Tabak brannte nicht mehr. »Deswegen interessiert es mich nicht. Aber lasst Euch sagen, dass es der Geschäftszweig des Professors ist. Und nicht meiner. Ich bin die ausführende Hand, aber er ist das Gehirn dahinter.«

Eine feine Art, sich der Schuld zu entledigen , dachte Matthew. Er fragte sich, ob Edgar Smythe nicht vielleicht begonnen hatte zu glauben, dass Verrat gegen England das Geld in seiner Hand nicht wert war. »Dieses Kymbelin«, beharrte Matthew so starrköpfig wie üblich, »was es auch sein mag … warum wird es so genannt?«

Smythe begann in den Seiten des Bühnenwerks zu blättern. »Professor Fell hat es so getauft. Nach einem Satz aus dem Stück. Moment, ich hab’s gleich. Ach ja … hier. Es ist eine Bühnenanweisung: Auf einem Adler sitzend sinkt Jupiter von Donner und Blitz umgeben herab; er wirft einen Donnerschlag. « Smythe schaute von der Seite mit einem Gesichtsausdruck auf, bei dem es sich wohl um Belustigung handeln musste, auch wenn sich das bei seinem säuerlichen Gesicht schwer sagen ließ. »Dem Professor gefällt großes Drama.«

»Ja«, stimmte Matthew zu. »Zweifelsohne.«

Smythe stand auf. Er sammelte seine Pergamente zusammen, nahm das Büchlein und stellte es zurück an seinen Platz im Bücherregal. »Also dann, ich wünsche Euch noch einen angenehmen Morgen. Und ich hoffe, Ihr habt einen schönen Tag. Ich muss dem Professor heute Nachmittag berichten. Wann ist Euer Termin?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Ihr seid ein seltsamer Mann«, sagte Smythe mit schiefgelegtem Kopf, als würde er Nathan Spade in einem anderen Licht sehen. »Seid Ihr sicher, dass Ihr hier hingehört?«

»Muss ich ja. Schließlich bin ich hier, oder nicht?«

»Allerdings.« Smythe ging auf die Doppeltür zu.

»Lasst mich Euch nur noch etwas fragen«, beharrte Matthew. Smythe blieb stehen. »Wer ist Brazio Valeriani?«

»Jemand, den der Professor sucht. Mehr weiß ich nicht.«

»Hat er mit Kymbelin zu tun?«

Smythe legte die Stirn in Falten; ein wahrlich schrecklicher Anblick. »Ich habe ein paar Dinge gehört«, sagte er leise. »Und nein, Valeriani hat mit Kymbelin nichts zu tun. Das ist etwas völlig anderes. Aber ich habe …« Er zögerte, den Blick auf den Boden geheftet. »Beunruhigende Dinge gehört«, sprach er weiter, als koste es ihn große Anstrengung. Er hob den Kopf. Seine grauen Augen lagen in dunklen Höhlen. »Es ist nichts, das Euch interessieren sollte, junger Mann. Wenn es stimmt, was ich gehört habe … wenn auch nur ein Teil davon wahr ist … werdet Ihr Euch wünschen, den Namen nie gehört zu haben.«

»Warum ist der Professor hinter ihm her?«

»Nein.« Smythe schüttelte den Kopf. »Mehr erfahrt Ihr von mir nicht, und auch von sonst niemandem hier. Mehr sage ich nicht. Einen angenehmen Tag noch.«

»Euch auch«, antwortete Matthew, denn Edgar Smythe, der Waffenexperte, war bereits aus der Tür gegangen und fort. Matthew blieb allein in der Bibliothek zurück. Hunderte von Büchern – große und kleine, dicke und dünne – standen vor ihm in den Regalen. Normalerweise wäre dies ein wahrgewordener Traum für ihn, aber irgendetwas Böses lauerte in diesem Raum und verlieh ihm etwas Bedrückendes, eine dunkel schwelende Atmosphäre. Die Bücher lockten ihn trotzdem, und schon bald ging er an den Regalen entlang und betrachtete die in die ledernen Buchrücken gestanzten Titel. Er streckte die Hand nach Nikolaus Kopernicus’ De Revolutionibus Orbium Coelestium aus, aber dann griffen seine Finger nach dem roten Buchrücken von Homers Odyssee . Daneben lockten drei umfangreiche Wälzer über Seereisen der Engländer und Navigationsstudien, und daneben …

Seltsam , dachte Matthew.

Er zog das Buch heraus. Es war eine in abgewetztes braunes Leder gebundene Ausgabe mit dem Titel Solomons kleiner Schlüssel . Matthew erinnerte sich, eine Ausgabe dieses Buches schon einmal gesehen zu haben – in den Überresten von Simon Chapels Bibliothek, kurz vor Matthews Jagd nach Tyranthus Slaughter. In gewisser Hinsicht hatte das Buch ihm viel Kummer verursacht, denn der Band in Chapels Bibliothek war ausgehöhlt gewesen und hatte buchstäblich einen Schlüssel beinhaltet, mit dem sich ein anderes Buch aufschließen ließ – Die Geschichte des Schlosses –, in dem ein Beutel mit Geld des Professors versteckt gewesen war. Der Beutel, der ihn beinahe in den Ruin gestürzt hatte, was seine Zukunft und Hudson Greathouses Gesundheit anging. Aber jetzt … hier in der Bibliothek des Professors eine zweite Ausgabe des Buches zu finden … seltsam.

Dieses jedoch schien nur ein Buch zu sein und kein Geheimfach. Matthew schlug es auf und begann die vergilbten Seiten umzublättern. Er erkannte sofort, dass der Gott, den Professor Fell zu verkörpern versuchte, vielleicht andere Wesenszüge hatte, als man gemeinhin mit Gott verband.

Solomons kleiner Schlüssel war ein Buch, das die Dämonen der Hölle beschrieb.

Die auf Lateinisch verfassten und mit Holzschnitten bebilderten Beschreibungen der finsteren Unterweltbewohner waren äußerst lebendig gelungen. Die Dämonen waren als tierähnliche Kreaturen mit klingenartigen Klauen dargestellt, als spinnenhafte Untertanen aus Albtraumreichen und schattenhafte Kombinationen von Mensch, Tier und Insekt. Sie hatten Adelstitel, wie es sich für die Blaublütigen der Hölle gehörte.

Matthew stieß auf eine Seite, auf der der storchenhafte Graf Malthus abgebildet war. Im Text wurde diese Monstrosität als Experte im Bau von mit Munition und Waffen gefüllten Türmen beschrieben, der für seine bedrohlich raue Stimme berüchtigt war.

Matthew blätterte weiter. Es gab Prinz Sitri und den Marquis Phenex, Herzog Vepar und König Belial. Dann waren da noch Graf Renove, Prinz Vassago, König Zagan und Herzog Sallos. Je mehr er blätterte, desto mehr Dämonen wurden in all ihren unmenschlichen und doch menschenähnlichen Schattierungen enthüllt: König Baal, Herzog Barbatos, Prinz Seere, Marquis Andras, Graf Murmur, Herzog Ashtaroth, Präsident Caim, Herzog Dantalion, Marquis Shax und so weiter, und so fort. Man brauchte eine ruhige Hand und Nerven aus Stahl, um diese Holzschnitte zu betrachten und die Beschreibungen dieser Schrecken der Unterwelt zu lesen. Jeder Dämon hatte seine eigene Spezialität: Es gab Lügenkönige, Leichenmacher, Wahnsinnverursacher, Sturmerschaffer, Stadtzerstörer und Vernichter der Menschenwürde, Machthabende über die Seelen der Toten, andere, die die bitteren Samen von Eifersucht und Streit säten, die Menschen in Wölfe und Krähen und Geschöpfe der Nacht verwandelten und die Macht hatten, alles auf der Erde zu Asche zu verbrennen.

Als Matthew sich durch die Seiten blätterte, entdeckte er mit neuerlichem Schrecken, dass das Buch nicht nur die Dämonen der Hölle beschrieb, sondern auch Flüche und Rituale enthielt, mit denen sie sich aus ihren Höhlen am Ende der Zeit rufen und dem Menschen untertan machen ließen.

Der Raum wirkte plötzlich viel zu klein und furchtbar dunkel. Matthew wollte das Buch wieder wegstellen, es aus seinen Händen loswerden, damit es ihm nicht die Haut verbrannte, aber …

… aber …

Es hatte ihn in seinen Bann geschlagen. Ihn, der die Hinterlist eines bösartigen Mannes durchschaut hatte, der eine unschuldige Frau in der Stadt Fount Royal als Hexe dargestellt hatte. Ihn, der weder an Hexen, noch Dämonen oder Gespenster der Nacht glaubte. Ihn, der Tatsachen als Tatsachen ansah und Aberglaube als ein Relikt des vorigen Jahrhunderts. Ihn, der sich für jene angeklagte Frau, Rachel Howarth, eingesetzt hatte und keinen Becher warme Pisse für Gerede über angebliche Dämonen übrighatte, die auf Wirbelstürmen ritten. Ihn, der an solch phantastische Dinge nicht glaubte. Aber … vielleicht glaubte der Besitzer des Buches daran?

Und glaubte er vielleicht so fest daran, dass er seinem Kollegen Simon Chapel eine Ausgabe des Buchs gegeben hatte, der diese – sei es, weil die Abhandlung ihn abstieß oder aus einem Sinn für Ironie heraus – zu einem Geheimfach umgewandelt hatte?

Matthew musste aus diesem Zimmer hinaus; er brauchte Luft und Licht. Er nahm den Kleineren Schlüssel mit auf den Balkon. Sonnenschein und warme Luft schlugen ihm ins Gesicht. Er roch das Salz des Meeres und sah, wie das Morgenlicht unter ihm hell auf den Wellen schimmerte. Der Balkon war von einer weißen Steinbalustrade eingefasst. An beiden Ecken, ein Stück unterhalb der Brüstung, standen bemerkenswert gelungene weiße Steinskulpturen von Seepferdchen, groß wie Hengste, auf Simsen. Mit dem Buch in der Hand atmete Matthew tief die Seeluft ein, um seinen Kopf zu klären. Er war sich nicht sicher, über was genau er hier gestolpert war, aber er hatte das deutliche Gefühl, dass es etwas Wichtiges war.

Und dann sah er sie. Unten im Schneidersitz auf ihrem Felsen.

Fancy; so nannten sie sie. Ihr Körper war nackt und braun und glänzte, ihre langen Haare waren schwarz wie Rabenschwingen und ihr Gesicht dem fernen Horizont zugekehrt, wo die Wellen sich an einer unbekannten Küste brachen. Für die anderen war sie Fancy. Für ihn … vielleicht Hübsches Mädchen sitzt allein. Und für ihn war sie wieder jemand, für den er sich einsetzen musste. Damit er sie retten konnte. Sie befreien, falls es möglich war. Das war seine Art, und dass er sich in dieser widerwärtigen Versammlung raffgieriger Männer und Frauen Nathan Spade nannte, änderte nichts daran. Konnte nichts daran ändern. Würde daran nichts ändern.

»Morgen«, wurde eine Stimme hinter ihm laut.

Gefolgt von einer zweiten: »… Jungchen.«

Matthew drehte sich schnell zu den beiden Brüdern um, die aus dem Dunkeln heraus in den Sonnenschein auf dem Balkon traten, dessen feuchte, schwüle Wärme plötzlich wie vergiftet schien.

»Spadey höchstpersönlich«, sagte Mack mit einem kalten Grinsen im Gesicht, das so rotäugig und aufgedunsen wie das seines Bruders dreinschaute. Beide Männer hatten Flaschen von dem Tisch in der Bibliothek in der Hand, und Matthew fand, sie sahen aus, als wären sie schon seit dem Morgengrauen vor zwei Stunden am Trinken. Entweder das, oder sie hatten die ganze Nacht durchgetrunken und waren gekommen, um ihre Vorräte aufzustocken. Beide Männer trugen die roten Kniehosen ihrer Anzüge und beide hatten auf ihre zerknitterten grauen Hemden reichlich Feuerwasser verkleckert. Ihre hochgerollten Hemdsärmel entblößten die dicken, einsatzbereiten Unterarme von Kneipenschlägern.

»… ganz allein«, fügte Jack hinzu. Er stand im Türrahmen, während Macks Kinn fast das von Matthew berührte. Sein Atem hätte eins der Seepferdchen vom Sockel stoßen können und Matthew stählte sich, um vor den sauren Dünsten nicht zurückzuweichen.

»Wo ist ‘n Eure Messerwerferin jetzt?«, fragte Mack.

»Hier ist sie nicht«, sagte Jack.

»Schade«, fand Mack.

»Äußerst schade«, bedauerte Jack.

»Die Qualen! So jung und gutaussehend zu sein, und dazu noch so gute Manieren zu haben und so gescheit zu sein … und dann vergessen zu werden und hier oben ganz allein zu stehen.«

»So weit oben«, sagte Jack und trank aus seiner Flasche. Mit zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen kam er auf den Balkon. »Ganz allein.«

Matthews Herz schlug heftig. Schweiß trat ihm auf die Schläfen. Mit enormer Willensanstrengung versperrte er der Angst den Weg auf sein Gesicht, selbst als die Thackers sich beidseitig von ihm hinstellten und ihn mit ihren Schultern zwischen sich festklemmten. »Ich wollte gerade frühstücken gehen«, sagte er. »Wenn Ihr mich entschuldigen möchtet?«

»Mack«, sagte Jack und ölte seine Kehle erneut. »Ich glaub, Spadey mag uns nicht.«

»Der mag uns ganz und kack noch mal gar nicht«, erklärte Mack, der ebenfalls einen Schluck aus seiner Flasche nahm. »Wo er doch so ’n weltgewandter Gentleman ist. Hab das Gefühl, er hält sich für was Besseres.«

»Für besser als uns, meinst du«, fühlte Jack nach.

»Ja, sag ich doch.«

»Haste korrekt gesagt, Bruder.«

»Traurig, das sagen zu müssen.«

»Traurig«, sagte Jack.

»Schon fast schrecklich«, sagte Mack, der immer noch grinste. Seine grünen Augen glänzten stumpf.

»Ach herrje.« Jack hatte die Gestalt auf dem Felsen bemerkt. »Guck mal, was Spadey angegafft hat.«

Mack sah und nickte ernst. »Gucki, gucki – aber Finger weg vom Schnucki.«

»Ich glaub, er würd‘ sie gern anfassen«, sagte Jack.

»Ich glaub, er würd‘ gern was reinstecken«, sagte Mack.

»Stimmt, Bruder«, sagten sie wie aus einem Munde.

»Gentlemen.« Matthew räusperte sich. Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich aus dieser Situation zu befreien, solange er es noch konnte – denn er spürte, dass es gleich mit Gewalt zugehen würde. »Ich bewundere Euren Geschmack, was Frauen angeht. Darf ich fragen, wo Ihr ein solch hübsches Exemplar gefunden habt?«

»Exemplar« , schnaubte Jack so vehement, dass ihm Popel aus der Nase flogen. »Spricht von unserer Fancy wie von irgend’nem scheiß Wurm, oder?«

»Als wär sie ‘n Käfer, der von unter ’nem Stein rauskriecht«, fand Mack.

»Ich meinte es nicht unhöflich.« Matthew erkannte, dass es aussichtslos war; die tyrannischen Zwillinge wollten ihn unbedingt zusammenschlagen. Matthew wollte sie mit Fancy ablenken und dann so schnell wie möglich vom Balkon flüchten, so schmählich das auch sein mochte. »Ich wollte wissen, wo ich eine Frau dieser Rasse finden kann?«

»Die könnt Ihr kaufen , Jungchen. Auf dem Mösenmarkt.« Jack lehnte sich mit argwöhnischem Blick zu ihm hinüber. Sein Atem stank nach Whiskey und Schlangenköpfen. »Verdammt noch mal, ich denk, Ihr seid in dem Geschäft.«

»Aber Fancy haben wir nicht gekauft«, vertraute Mack ihm an und legte Matthew seinen Arm auf eine Art um die Schulter, dass Matthew Gänsehaut bekam. »Wir haben sie gesehen, als sie noch einem feinen Pinkel in Dublin gehört hat. Einem Spieler. Der hatte sie letztes Jahr am Faro-Tisch gewonnen …«

»Vorletztes Jahr«, korrigierte Jack.

»Egal.« Macks Griff um Matthews Schultern wurde stärker. »Die wollen wir haben, sagten wir uns. Hört Ihr zu? Ist ‘ne gute Geschichte. Wir wollten ihm klarmachen, dass er in der Schänke nicht ohne unsere Erlaubnis oder ohne uns was abzugeben spielen kann. Und er hat die anderen armen Schlucker ausgenommen. Aus dem haben wir Hackfleisch gemacht, was?«

»Hackfleisch, das Blut kotzt«, erläuterte Jack.

»Einer, der keine Knie mehr hat«, sagte Mack, »muss wie Hackfleisch kriechen.«

»Laufen geht jedenfalls nicht mehr«, fügte Jack hinzu und drückte Matthew seine Flasche an die Lippen. »Trinkt Ihr einen mit mir, Spadey?«

Matthew drehte sein Gesicht weg. Er bemerkte eine Bewegung und sah, dass Fancy das sich entwickelnde Drama beobachtete. Sie stand jetzt auf dem Felsen und sah zu ihnen hoch.

»Nein, danke«, sagte Matthew. Und dann sah er, wie das Indianermädchen ihnen den Rücken zudrehte und von ihrem Platz ins Meer sprang. Die Wogen schlossen sich weiß über ihrem braunen Körper, als sie tauchte.

»Ihr habt mich nicht verstanden, Jungchen.« Jacks Stimme war sehr leise. »Ich sagte, Ihr wollt einen mit mir trinken.«

»Und dann mit mir.« Mack drückte seine Flasche ebenfalls an Matthews Mund. »Macht Euch die Kehle nass, solange Ihr noch könnt.«

»Nein«, wiederholte Matthew, denn es reichte ihm jetzt. »Danke auch.« Er begann sich zwischen den Zwillingen hinauszuwinden, die sie sich stärker gegen seine Seiten pressten. »Wenn Ihr mich entschuldigen wollt, ich muss …«

Plötzlich schlug Mack Solomons kleinen Schlüssel aus Matthews Hand und knallte ihm das Buch hart auf die Nase. Der stechende Schmerz verschlug Matthew den Atem und ließ seinen Blick in Tränen verschwimmen. Noch bevor Matthew sich erholen konnte, packte Jack ihn am Hals und rammte ihm den Kopf gegen die Stirn. Lichtblitze und brennende Sterne flammten durch Matthews Gehirn. Seine Arme und Beine wurden auf einmal taub, völlig gefühllos und damit nutzlos.

»Halt ihn hoch«, hörte er einen von ihnen wie ein Echo in einem langen, höhlenartigen Korridor sagen.

»Das kleine Arschloch wiegt überhaupt nichts.«

»Das bringt mich auf ’ne Idee. Lass ihn nicht fallen.«

»Soll ich ihm in die Eier treten?«

»Nein. Komm, wir schicken ihn schwimmen. Aber erst mal … schleif ihn hier rüber. Lass mich die Kordeln von den Vorhängen holen.«

»Was haste vor, Bruder?«

»Ich glaub, Spadey hat ordentlich gesoffen, ist auf den Balkon geklettert, ausgerutscht und … hups, über die Brüstung gefallen.«

»Ihn umbringen , meinste?«

»Ich meine, wir sehen zu, dass wir das kleine Arschloch los sind, das meine ich. Und ihn dem Meer übergeben. Da findet man ihn nie. Komm schon, schleif ihn hier rüber.«

Matthew erkannte durch die Nebelschwaden in seinem betäubt pulsierenden Gehirn, dass dies keine guten Zukunftsaussichten für ihn waren. Im Gegenteil, es waren äußerst schlechte. Er spürte, wie man ihn über den Boden zerrte. Seine Augen waren vom Sonnenschein und schwarzen Schatten geblendet, die durch sein gestörtes Sichtfeld rutschten. Er versuchte seine Beine unter seinen Körper zu bekommen und mit der Hand gegen diese raue Behandlung zu protestieren.

»Er kommt wieder zu sich.«

»Hau ihm noch eine rein.«

Wieder knallte ein Kopf gegen Matthews Stirn. Feuerbälle explodierten hinter seinen Augen. Er spürte, wie seine Beine einige Sekunden lang eigenmächtig tanzten. Gilliam Vincent würde ihn loben, fuhr ihm durch den Kopf. War er nicht in Sally Almonds Schänke auf einem Tanzabend? Hörte er nicht Geigenmusik – wenn auch furchtbar schräg – und Trommelschläge dicht an seinem Ohr?

Die Echostimmen kehrten zurück.

»… auf das Ding da mit ihm. Fessle ihm die Hände hinterm Rücken.«

»Fällt das nicht auf, wenn die Kordeln weg sind?«

»Mir doch egal, Bruder. Vielleicht glauben sie, er hat sich Zügel für sein Pferd gemacht und sich drin verwickelt.«

Pferd? , dachte Matthew in seiner tiefen dunklen Höhle. Was für ein Pferd?

Schmerzen durchbohrten seine Schultern. Man hatte seine Arme nach hinten gezerrt. Band man seine Hände zusammen?

»Und jetzt binde die andere Kordel um ihn und das Pferd rum. Los, flott jetzt!«

Pferd? , dachte Matthew wieder. Es schien äußerst wichtig zu sein, dass er dies begriff, aber sein Gehirn funktionierte nicht richtig. Er spürte, wie irgendeine Art von Seil um ihn herumgewickelt wurde. Ich hol die Kordeln von den Vorhängen , erinnerte er sich gehört zu haben.

»Die werden wissen, dass wir das waren.«

»Nein, Bruder, werden sie nicht. Stell deine Flasche auf die Brüstung. Hilf mir, das Arschloch rüber zu stoßen. Fertig?«

»Immer.«

»Und ab.«

Matthew fühlte, wie er fiel. Er versuchte seine lichtverschmierte Sicht zu klären. Ein Schrei saß hinter seinen Lippen, aber sein Mund wollte sich nicht öffnen.

Pferd , dachte er.

Wie in … Seepferdchen .

Er schlug seitlich im Wasser auf. Das kalte Meer schockte ihn zurück zu Bewusstsein. Es gelang ihm noch, eine Lunge voll Atem zu schnappen, bevor er versank.

Ich treibe , erinnerte Matthew sich Sirki gesagt zu haben.

Doch er erkannte sofort, dass kein Mensch treiben kann, der an ein mehrere hundert Pfund schweres Seepferdchen gefesselt ist. Und so ritt er sein Pferd, den verzweifelten Atemzug in den Lungen und die Hände hinter dem Rücken gefesselt, durch die Wellen in die Tiefe, tiefer und tiefer in die blaue, bodenlose Stille.