»Ich hatte einen Unfall auf der Straße«, sagte Matthew zu dem Arzt, der seine angeschwollene und inzwischen lila verfärbte Nase untersuchte. Das Lila breitete sich über beide Gesichtshälften aus. Außerdem hatte er zwei grausige Beulen an der Stirn. »Ich bin ungeschickt«, erklärte Matthew. »Bin über meine eigenen Füße gestolpert.«
»Das passiert uns allen mal, Mr. Spade.« Der Arzt war ein dickbäuchiger Mann mit langen, wallenden weißen Haaren. Er trug einen der tropischen Insel entsprechenden cremefarbenen Anzug. Er hatte sich Matthew als Dr. Benson Britt vorgestellt und ihm gesagt, dass er und seine Frau seit dem Sommer 1695 auf Pendulum lebten. Britts Hand glitt über den Peitschenstriemen auf Matthews Nacken. »Auch ein Unfall?« Die dunkelbraunen Augen im von der Sonne faltig gewordenen Gesicht des Arztes beinhalteten eine stumme Frage.
»Ja«, antwortete Matthew fest. »Ich hatte gehofft, dass Ihr etwas Salbe auftragen könntet?«
»Natürlich. Ich habe Zitronenliniment da. Was Eure Nase angeht … tut das hier weh?« Britt klopfte leicht mit einem Holzlöffel dagegen. Matthew schossen die Tränen in die Augen, aber es tat nicht so stark weh, dass er aufschreien musste. »Gebrochen ist sie nicht«, stellte Britt fest. »Nur stark geprellt. Was Eure Stirnverletzungen angeht … die sind sicherlich alles andere als angenehm, aber nichts Ernstes. Oder habt Ihr ein Klingeln in den Ohren und konstante Kopfschmerzen?«
Matthew konnte ihn durch das Klingeln in seinen Ohren kaum hören, aber immerhin hatten die Kopfschmerzen nachgelassen. »Nein«, sagte er.
»Wunderbar. Ich werde eine Bienenwachscreme auf Eure Nase auftragen, um den stechenden Schmerz herauszuziehen, und dann werden wir einen Umschlag aus Seetang und Meersalz auflegen – meine eigene Rezeptur –, damit sie nicht noch mehr anschwillt und die Atemwege offenbleiben.«
»Hm«, machte Matthew unbeeindruckt. Es war unmöglich, die Atemwege offenzuhalten; seine Nase war vollkommen zugeschwollen. Aber vielleicht brauchte sie irgendeine Form ärztlicher Behandlung, und dies war die beste – und möglicherweise einzige –, die Pendulum zu bieten hatte.
»Legt Euch auf den Tisch«, wies Britt ihn an. Aus einer kleinen gelben Dose nahm er eine Handvoll Fett. »Lasst mich mein Bestes tun.«
»Natürlich, Sir.« Matthew gehorchte, und während er auf dem Behandlungstisch lag, fielen ihm die vielverzweigten kleinen Risse in der weißen Decke über seinem Kopf auf.
Sein Marsch durch den Wald zur Straße war ohne Zwischenfälle verlaufen; nur seine Knie hatten immer wieder nachgeben wollen, da er noch geschwächt war. Aber nach weniger als einer Meile hatte ihn ein vorbeifahrender Pferdewagen mitgenommen, der Melonen auf den Bauernmarkt in Templeton brachte, und so hatte er sich wenigstens ein bisschen ausruhen und Kraft sammeln können. Der Bauer war ein ältlicher Mann gewesen, der nichts weiter über Professor Fell wusste, außer dass er Professor hieß. Er war dreißig Jahre alt gewesen, als das Erdbeben die Insel erschütterte und die florierende Ortschaft Somers Town ins Meer stürzte. Zu der Zeit hatte Somers Town um die dreitausend Einwohner gehabt, erinnerte der Bauer sich, und der Hauptwirtschaftszweig war der Export von Zedernholzkisten nach England gewesen.
»Der Sohn des Gouverneurs«, hatte der Alte gesagt, als Matthew nach der Abstammung des Professors gefragt hatte. »Er heißt … hmmm … der Name will mir nicht mehr einfallen. Entschuldigt bitte, Sir.«
»Aber ja doch«, hatte Matthew gesagt. Seine Kleidung war in der warmen Sonne getrocknet und er hatte sich weitere Fragen überlegt, die er in Templeton stellen konnte.
Dr. Britt trug die Bienenwachscreme auf und band danach seinen Seetang-Salz-Umschlag mit einem dünnen Streifen Musselin auf Matthews Nase fest – womit Matthew sicherlich Aufmerksamkeit erregen würde, die er nicht haben wollte. Trotzdem wurde es gemacht und auch geschätzt, und Britt setzte Matthew darüber in Kenntnis, dass Gäste des Professors für ärztliche Behandlung nicht bezahlen mussten, da der Professor ihn und seine Gattin mit einem Haus und Jahresgehalt versorgte.
»Ich nehme an, dass Dr. Gentry sich unter den Gästen befindet?«, fragte Britt, als Matthew wieder gehen wollte. »Wenn ja, würdet Ihr ihm bitte sagen, dass er bei mir doch mal den Kopf reinstecken soll?«
»Es ist schwer zu sagen, wo Dr. Gentry gerade überall seinen Kopf reinsteckt«, vertraute Matthew ihm an. »Aber irgendwem werde ich es ausrichten.«
Zurück auf der Straße richtete Matthew seinen bandagierten Zinken gen Templeton Inn . Das grüne Tor stand offen und der Gasthof sah einladend aus. Weder ein gewisses rothaariges Mädchen noch ein großer Ga waren zu sehen, und das Inn schien unbewacht zu sein. Matthew durchquerte den gefliesten Innenhof und öffnete die Eingangstür, woraufhin am Türrahmen fröhlich ein Glöckchen zu bimmeln begann. Matthew betrat die Eingangshalle, einen aus dunklem Holz gebauten Raum mit einem blaugelben Teppich und einem runden, eisernen Kronleuchter an der Decke, der mit sechs Kerzen bestückt war. Links an einem Tresen vorbei, welcher der Gästeanmeldung diente, schwang sich eine Treppe nach oben. Matthew überlegte gerade, wie er weiter vorgehen sollte, als ein breitschultriger, korpulenter Mann in braunen Kniehosen und einem weißen Hemd mit hochgerollten Ärmeln die Treppe herunterkam.
»Morgen, Sir«, sagte der Mann mit starkem schottischem Akzent. Auf seinem ansonsten kahlen Kopf stand ein kleines Büschel roter Haare in die Höhe, und er hatte ein ordentlich getrimmtes rotes Kinnbärtchen. »Was kann ich für Euch tun?«
»Ich bin Nathan Spade«, sagte Matthew zögernd. Er merkte, dass seine Stimme alles andere als beeindruckend klang, da seine Nase so verstopft war. Er hätte nicht sagen können, ob es im Gasthaus nach Parfüm oder Nachttopf roch. »Ich bin in Professor Fells Schloss zu Gast.«
»Ja, Sir«, sagte der Schotte, als hörte er diese Worte jeden Tag.
»Ich möchte das rothaarige Mädchen sehen, das gestern hergebracht wurde«, sagte Matthew. »In welchem Zimmer ist sie, bitte?«
»Oh … Sir, da gibt es ein Problem, befürchte ich.« Der Schotte runzelte die Stirn. »Miss Grigsby ist nicht mehr …«
Das Glöckchen bimmelte. Der Schotte sah zur Tür und Matthew ebenfalls. Sirki trat ein, immer noch in denselben weißen Gewändern wie am Morgen. Der indische Riese begann zu lächeln, dass seine Schneidezähne funkelten.
»Nathan!«, rief er und stürzte auf Matthew zu wie eine Meereswelle. Er griff nach Matthews linkem Ellbogen. Sein Lächeln strahlte weiter. »Ich habe nach Euch gesucht! Und hier seid Ihr nun!«
»Genau da, wo Ihr dachtet?«
»Ganz genau«, sagte Sirki. »Wir haben Euch beim Frühstück vermisst. Als ich erfuhr, dass Ihr nirgendwo zu finden wart, dachte ich mir, dass Ihr hier sein müsst.«
Der Schotte meldete sich zu Wort: »Ich wollte Mr. Spade gerade sagen, dass Miss Grigsby und der Mohr nicht mehr …«
»Ich bedanke mich für Eure Mühe, Mr. McKellan«, unterbrach Sirki ihn. »Ich habe die Situation jetzt in der Hand. Ihr könnt wieder Eurer Arbeit nachgehen.«
»Jawohl, Sir.« McKellan verbeugte sich tatsächlich untertänig. »Ich habe oben wirklich zu tun«, erklärte er, drehte sich um und ging die Treppe wieder hoch.
Sirki musterte Matthew kalt. »Was, in Shivas Namen, ist denn mit Euch passiert?«
»Ich hatte einen kleinen Unfall auf der Straße. Bin über meine Füße gestolpert.«
»Das ist gelogen«, sagte der Riese.
»Wo sind Berry und Zed?«, feuerte Matthew zurück.
»Oben, nehme ich an.«
»Das ist gelogen«, sagte Matthew.
Die beiden Lügner starrten sich an, und beide weigerten sich, ihre Lügen auch nur um einen Zentimeter zurückzunehmen.
Matthew sprach zuerst. »Ich nehme an, McKellan wollte mir sagen, dass Berry und Zed nicht mehr hier sind. Wo sind sie?«
»Ich habe draußen eine Kutsche, um Euch zurückzubringen.« Sirki verstärkte seinen Griff an Matthews Ellbogen. »Kommt, wollen wir los? Auf Euch wartet viel Arbeit.«
Matthew blieb keine Wahl, als sich wegführen zu lassen, auch wenn er seinen Ellbogen aus den Fingern des Riesen befreite, kaum dass sie den Innenhof durchquerten. Auf der Straße wartete eine schwarze Berline mit dem geplagten Kutscher vom Vortag auf ihre Passagiere. Sirki verharrte, bis Matthew eingestiegen war, folgte ihm dann, machte die Tür zu und setzte sich. Er klopfte mit der Faust ans Dach und die Kutsche fuhr an.
»Auf Eurem Pult werdet Ihr einen Schlüssel und einen Lageplan darüber finden, wer welches Zimmer am Flur hat«, sagte Sirki, als sie aus Templeton hinausfuhren. »Der Schlüssel wird Euch Zugang zu den Zimmern von Smythe, Sabroso und Wilson geben. Smythe erstattet dem Professor um vierzehn Uhr Bericht, Sabroso morgen um vierzehn Uhr. Wilson morgen um sechzehn Uhr. Ihr solltet planen, in die Zimmer zu gehen und …«
»Wonach suchen?«, unterbrach Matthew ihn. »Ich habe keine Ahnung, wonach ich suche. Und falls es um irgendwelche Informationen geht, die zwei der Männer untereinander ausgetauscht haben – warum sollte jemand so dumm sein, das aufzuschreiben? Warum würden sie es dem anderen nicht im Vorbeigehen ins Ohr flüstern und fertig?«
»Es geht auch darum, dass offizielle Kanäle stichhaltige Auskünfte darüber erhalten, wann die nächste Ladung Kymbelin verschifft wird«, antwortete Sirki, der die vorbeiziehende Landschaft betrachtete. »Es kann sein, dass sie um briefliche Bestätigung gebeten haben, statt es über Umwege zugeflüstert zu bekommen. Von daher solltet Ihr Euch überlegen, dass es sich um eine verschlüsselte Botschaft handeln kann.«
»Und wo soll die versteckt sein? Unter einem Kopfkissen? In einem zusammengerollten Strumpf?«
»Sicherlich beides gute Verstecke, die es zu überprüfen lohnt.«
»Dazu braucht der Professor mich nicht«, sagte Matthew. »Das hätte jeder seiner Schergen erledigen können – einfach die Zimmer auf den Kopf stellen und die Trümmer durchsuchen.«
»Etwas auf den Kopf zu stellen, ist nicht Teil des Plans. Und genau deshalb sind die Schergen des Professors, wie Ihr es ausdrückt, für diese Aufgabe ungeeignet.«
»Nein … es gibt einen anderen Grund, aus dem er mich hier haben wollte. Stimmt’s?«, hakte Matthew nach, aber Sirki blieb stumm. »Ausgerechnet mich . Warum? Weil er beeindruckt war, dass ich Tyranthus Slaughter überlistet und Lyra Leka umgebracht habe? Und er mich sehen wollte, mir gegenüberstehen wollte? Um mich besser einschätzen zu können?« Matthew nickte, als er den Gedanken weiter verfolgte. »Denn er will mich auf eine Probe stellen, um zu sehen, ob ich Brazio Valeriani für ihn finden kann?«
»Im Moment möchte er nur, dass Ihr den Namen oder die Namen eines Verräters – oder zwei – aufdeckt«, antwortete Sirki ruhig.
Matthew blieb eine Weile still und blickte auf den üppigen grünen Wald, der an seinem Fenster vorüberzog. »Ich nehme an, Ihr werdet mir nicht verraten, wo Berry und Zed sind?«, fragte er schließlich. »Werdet Ihr mir zumindest sagen, warum man sie aus dem Gasthof weggebracht hat?«
»Ich werde Euch sagen, dass sie sich gestern Nacht entschlossen haben, den Gasthof zu verlassen. Unerlaubt, muss ich hinzufügen. Zed ist wieder eingefangen und wird an einem sichereren Ort festgehalten. Die junge Frau … wird leider noch vermisst.«
»Wird noch vermisst ?« Bei diesem Wort sprang Matthew das Herz in die Kehle.
»Die Insel ist nicht groß. Es wird nach ihr gesucht, und man wird sie finden.«
»Herrgott noch mal!«, sagte Matthew laut. Und dann leiser und mehr zu sich selbst: »Warum ist sie nicht einfach geblieben, wo sie war? Wo sie in Sicherheit war?«
»Ich bin sicher, dass Ihr Gelegenheit haben werdet, Ihr diese Fragen persönlich auf der Rückreise nach New York zu stellen.«
Matthew musste an McKellans untertänige Verbeugung denken und den kuschenden Gesichtsausdruck des Gastwirts. »Diese Insel ist ein Gefängnis, oder? Niemand kommt oder geht ohne die Erlaubnis des Professors?«
»Es klingt ein bisschen hart, Pendulum Island als Gefängnis zu bezeichnen, wo die Einwohner doch ein sehr glückliches und ertragreiches Leben führen. Der zweite Teil Eurer Behauptung stimmt allerdings.« Sirki bedachte Matthew mit einem unheilvollen Blick. »Dem Professor gefällt Harmonie , junger Mann. Er möchte hier ungestört bleiben. Und da ihm die gesamte Insel als Privatbesitz gehört, kann er die ein- und auslaufenden Schiffe auf ein Maß begrenzen, das er für richtig hält.«
»Wie ist sein Vorname?«, beschloss Matthew zu fragen.
»Man kann das Schloss schon sehen«, sagte Sirki. »In ein paar Minuten sind wir da. Ich gehe davon aus, dass Ihr Euch um Eure Arbeit kümmert und nicht wieder durch die Straßen wandert? Übrigens ist der Stallmeister angewiesen worden, Euch jegliche Bitte um ein Pferd abzuschlagen.«
»Das Schloss ist also auch ein Gefängnis?« Noch während Matthew diese Frage stellte, wusste er, dass er keine Antwort erhalten würde und dass seine Annahme richtig war. Die Kutsche hielt vor dem Eingang, Matthew und Sirki stiegen aus, und Sirki begleitete Matthew bis an den Fuß der Treppe.
»Ihr seht lächerlich aus mit dem Ding auf der Nase«, lautete Sirkis Abschiedsbemerkung. Matthew ging direkt zu seinem Zimmer und schloss mit dem Schlüssel auf, der ihn in ein anderes Zimmer fünfzehn Meter unter Wasser begleitet hatte. Auf dem Pult lagen tatsächlich ein Schlüssel und ein Blatt Papier, auf dem der Flur und die Namen der Gäste in den verschiedenen Zimmern aufgezeichnet waren. Die Zeichnung war präzise und die Schrift akkurat mit kleinen, genauen Buchstaben. Matthew fragte sich, ob der Professor den Plan angefertigt hatte. Smythe war im allerletzten Zimmer des Korridors untergebracht. Neben dem Schlüssel stand ein Teller mit Muffins: Maismehl, Zimt und Orange – zumindest war das Matthews Annahme, ohne zuzubeißen, denn seine Nase war so gut wie tot. Er goss sich aus der Karaffe ein Glas Wasser ein und aß das, was wohl ein Orangenmuffin war, der ihm wegen seines mangelnden Geruchssinns wie klebrige Wolle schmeckte. Der Maismehlmuffin hatte ebenso wenig Geschmack und der Zimtmuffin besaß so wenig Aroma, dass es sich genauso gut um eine Attrappe hätte handeln können. Aber immerhin hatte Matthew nun etwas im Magen. Er trank ein zweites Glas Wasser und streckte sich dann ein paar Minuten lang auf dem Bett aus, um sich auszuruhen und seine Gedanken zu ordnen.
Matthew fand, dass es nicht die schlechteste Art war, einen Tag als zum Tode Verurteilter zu beginnen und binnen Minuten ins Land der Lebenden zurückzukehren – wenn man schon von ein paar orangehaarigen Affen zum Tode verurteilt sein musste. Er wollte sich ihnen nicht zeigen, bis er zu enthüllen bereit war, dass sein nasses Grab sich geöffnet hatte. Was ihn jetzt am meisten beschäftigte, war Berry. Dieses Mädchen machte ihn noch wahnsinnig. Sie lief irgendwo auf der Insel allein herum? Er mochte nicht daran denken, was ihr zugestoßen sein konnte. Und hinzu kamen noch seine eigenen erdrückenden Probleme und der Versuch, es dem Professor recht zu machen.
»Unmöglich«, sagte er zu dem schwarzen Baldachin über ihm. Kein Gott antwortete, nicht einmal Professor Fell.
Er schlief ein und hatte einen wirren Traum, durch Wasser in eine Stadt hinabzustrudeln, die zwar in ihrer blauen Aura versunken war, deren schemenhafte Geisterbürger aber durch die wässrigen Gassen und Straßen gingen und in ihren Geisterkutschen auf einen vom Meer verschluckten Hafen zufuhren. Als Matthew aufwachte, war es fast vierzehn Uhr und Zeit, dass er sich an die Arbeit machte. Er wusch sich an der Schüssel das Gesicht und dachte, dass eine Karaffe Wasser ihn zum Herrscher machte, während Unmengen davon einem das Leben mühelos wie die Feuerbomben von New York auslöschen konnten.
Zehn Minuten wartete er noch. Dann nahm er den Schlüssel und schlich sich in den Flur, passte auf, dass die beiden rothaarigen Muskelsäcke nirgendwo zu sehen waren, und ging zu Smythes Tür am Ende des Korridors. Um ganz sicherzugehen, klopfte er leise und respektvoll an. Als niemand antwortete, steckte er den Schlüssel ins Schloss und verschaffte sich Zutritt.
Interessiert – und in gewisser Weise befriedigt – sah er, dass Smythes Zimmer weder so groß wie seins war, noch einen Balkon mit Aussicht auf das Meer hatte. Smythes Balkon ging zu den Gärten hinaus. Vielleicht hatte Smythe wegen seiner von Seekrankheit geplagten Reise darum gebeten. So oder so war das Zimmer weniger elegant als Matthews. Der Problemlöser machte sich an die Arbeit, ohne jegliche Hinweise ein Problem zu lösen. Auf dem Schreibtisch sah er viele Blätter Pergamentpapier liegen, die nicht nur mit Auszügen aus Cymbeline , sondern auch Zitaten aus anderen Stücken des Dichters beschrieben waren. Smythe war in den letzten Wochen ein eifriger Schreiberling gewesen. Matthew durchsuchte die Schubladen des Tisches und fand nichts Interessantes. Ebenso wenig in den Schubladen der Kommode. Eine kleine Kollektion von Tonpfeifen schien ihm vielversprechend, aber soweit er sehen konnte, steckten in den Pfeifenköpfen und Stielen keine zusammengerollten Botschaften. Vorsichtig durchsuchte er Smythes Kleidung. Der Mann wusch sich weniger oft, als Matthew es sich wünschen würde: Die Sachen waren steif von Schweiß und die Hemdskragen hatten einen Schmutzrand. Aber auch hier waren nichts als die Gepflogenheiten eines ungewaschenen Mannes zu finden.
Er untersuchte die Schuhe und Strümpfe; weitere abstoßende Kleidungsstücke. Er sah unter dem Bett nach, unter der Matratze, und zog einen Stuhl heran, um auf den Baldachin des Himmelbetts schauen zu können. Er spähte hinter die Kommode und unter den Ständer mit der Waschschüssel. Er untersuchte alle Stellen im Zimmer, die sich als Versteck eigneten, und nahm sich dann die Pergamente vor.
Die liegen für jeden sichtbar herum , dachte er. Falls sich darin tatsächlich eine verschlüsselte Botschaft verbarg, warum sollte Smythe sich die Mühe machen, die Seiten zu verstecken?
Er nahm ein paar Blätter in die Hand und überflog sie. Ihm fiel nichts Bemerkenswertes auf. Hier hatte einfach jemand zu viel Zeit totzuschlagen und lediglich geschrieben, um etwas zu tun zu haben. Er fand die Bühnenanweisung aus Cymbeline wieder, die Smythe ihm vorgelesen hatte: Auf einem Adler sitzend sinkt Jupiter von Donner und Blitz umgeben herab, er wirft den Donnerschlag.
Hatte der Professor die neue Waffe nach dieser Textstelle benannt? Was hatte Smythe gesagt? Ach ja … Kymbelin ist das Fundament, auf dem Kriegswerkzeug der Zukunft gebaut werden wird.
Das Fundament , überlegte Matthew. Etwas Einfaches, Grundlegendes. Etwas … Alltägliches, das jetzt außergewöhnlich war?
Donner und Blitze , grübelte er. Ein von Jupiter, dem König der Götter, geworfener Donnerschlag. Der Professor würde sich bestimmt mit Jupiter gleichsetzen. Und was geschieht, wenn ein Blitzschlag die Erde trifft? , fragte Matthew sich.
Es brannte natürlich. Nein … Moment … vor dem Feuerfangen … kommt erst noch … die Explosion.
Matthew trat auf den Balkon hinaus. Von hier oben konnte er in weiter Ferne einen dünnen Rauchfleck sehen, der aus dem Fort am anderen Ende von Pendulum aufsteigen musste. Vom verbotenen Fort, das zu betreten den Tod bedeutete. Dort, so nahm Matthew an, wurde Kymbelin hergestellt.
Denn er hatte erkannt, um was es sich bei Kymbelin handeln musste. Er hatte sogar schon eine Kostprobe davon bekommen – eine äußerst heiße, brennende Kostprobe.
Schießpulver war das Fundament der Kriegswerkzeuge der Zukunft. Professor Fell hatte ein neues und stärkeres – definitiv hochexplosives – Schießpulver erfunden. Eines, das bereits in kleinen Mengen Gebäude in Stücke reißen und Dächer zum Jupiter emporschießen konnte. Oh ja, sie hatten Kymbelin in New York schon sehr effektiv eingesetzt. Matthew starrte den Rauch an und nickte. Natürlich mussten die Chemikalien erhitzt und Feuer vom fertigen Produkt ferngehalten werden. Aber was unterschied dieses Schießpulver von anderen? Welcher Zusatzstoff machte es explosiver oder besser als das auf übliche Weise hergestellte?
Matthew wusste es.
Er erinnerte sich an Solomon Tully, wie er am Great Dock den Verlust seiner Frachtladungen beklagt hatte.
… hinter diesen ständigen Zuckerdiebstählen steckt etwas Böses.
»Allerdings«, sagte Matthew Corbett mit stahlgrauem Blick und grimmiger Stimme.
Zucker war die neue Zutat in Professor Fells Todesrezept – irgendein chemischer Bestandteil von Zucker, der erhitzt und bei der Herstellung hinzugefügt wurde. Professor Fell stellte Kymbelin mit Zucker her, und es bildete nicht nur das Fundament einer neuen Waffe, wie der Professor hoffte, sondern auch eine Einkommensquelle – womöglich die größte, die er je gehabt hatte.
Und hier stand Matthew nun auf der Suche nach einem oder zwei Verrätern, die fanden, dass Englands Sicherheit wichtiger war als Fells Macht oder Geld. Für Matthew war es, als würde die Welt auf dem Kopf stehen. Er beschloss, dass es Zeit war, aus dem Zimmer zu verschwinden. Er legte alles wieder genauso auf den Schreibtisch zurück, wie er es gefunden hatte, denn er glaubte, dass Smythe ein scharfes Auge für solch kleine Unregelmäßigkeiten besaß. Dann stellte er den Stuhl, den er benutzt hatte, auf seine exakte Position zurück. Alles andere sah aus wie zuvor. Aber ein Beweis für einen Verräter hatte sich hier an diesem Tag nicht finden lassen und würde sich vermutlich auch an keinem anderen Tag entdecken lassen. Matthew verließ das Zimmer, machte die Tür hinter sich zu und schloss ab.
»Ihr da!«, sagte jemand im Flur. »Was macht Ihr da?«
Die Stimme ließ Matthew zusammenzucken. Er steckte den Schlüssel in die Tasche und drehte sich. Adam Wilson, der unsichtbare Mann, kam auf ihn zugeschritten.
»Spade? Ich habe Euch gefragt, was Ihr da macht.« Die Stimme war so dünn und schal wie der Mann, aber auf ihre Art beharrlich. Die wässrigen blauen Augen starrten Matthew durch die quadratischen Brillengläser an. »Habt Ihr versucht, Euch Zugang zu Edgars Zimmer zu verschaffen?«
Matthew erkannte, dass der Finanzexperte ihn nicht aus Smythes Zimmer hatte kommen sehen, sondern ihn nur an der Tür stehend bemerkt hatte. Vielleicht hatte es gewirkt, als ob Matthew sich am Türknauf zu schaffen machte. »Ja, ich habe an Smythes Tür geklopft«, sagte er.
»Mir schien es, als würdet Ihr hineinzugelangen versuchen, Sir.« Wilson hatte kleine Zähne, die beim Sprechen zwischen den blutleeren Lippen aufblitzten und zusammenschlugen, als würde er bösartig kleine Bissen aus der Luft schnappen.
»Ich … habe am Türknauf gedreht.« Matthew zuckte die Schultern, als wollte er sagen, dass er das immer tat. »Smythe und ich haben uns heute Morgen in der Bibliothek unterhalten. Ich wollte noch mit ihm reden.«
»Tatsächlich?« Der Tonfall konnte belustigte Gleichgültigkeit oder genauso gut anhaltendes Misstrauen bedeuten.
»Ja«, gab Matthew zurück. »Tatsächlich.«
»Edgar sitzt gerade beim Professor«, kam die Antwort. Die Augen wurden schmal. »Was ist Euch zugestoßen, Sir? Ihr seht etwas ramponiert aus.«
»Ihr hättet erstmal das Pferd sehen sollen, nachdem ich es durchgewalkt habe.«
»Ihr seid abgeworfen worden?«
»Leider ja. Heute Morgen.«
»Hm.« Wilson trat zwei Schritte zurück, um Matthew von Kopf bis Fuß zu betrachten. »Gebrochen ist aber nichts, nehme ich an?«
»Mein Stolz«, sagte Matthew mit einem knappen Lächeln, das seine Nase schmerzen ließ.
»Euer Sinn für Humor scheint nicht gelitten zu haben«, sagte Wilson humorlos. »Ich hätte gedacht, dass Ihr Euch nach einem solchen Unfall lieber im Bett ausruht, statt Gesellschaft zu suchen.«
»In meinem Geschäft geht das eine mit dem anderen Hand in Hand.«
»Ah.« Ein leichtes Lächeln belästigte den kleinen, hässlichen Mund. »Na, wenn Ihr das sagt …« Wilson nickte leicht und ließ die Schultern hängen – seine Version einer höflichen Verbeugung – und wollte sich abwenden und gehen.
Aber dem Problemlöser war endlich etwas aufgefallen, und er wollte sich darüber Klarheit verschaffen. »Verzeihung, Mr. Wilson, aber … warum sprecht Ihr von Mr. Smythe mit seinem Vornamen?«
»Weil er so heißt«, kam die Antwort mit steinernem Gesicht.
»Natürlich, aber … es weist doch auf eine gewisse Vertrautheit hin. Auf eine Freundschaft, nehme ich an. Oder sagen wir, auf eine Kameradschaft . Mir fiel gestern Abend beim Bankett auf, dass alle bei der Anrede strengste Formalitäten bewahrt haben. Ich denke, das deutet darauf hin, dass wir alle Abstand voneinander halten müssen, was unsere Geschäfte angeht. Warum nennt Ihr ihn also Edgar und nicht Mr. Smythe ? Kommt es daher, dass … oh … dass Ihr Euch mit ihm hinter dem Rücken des Professors austauscht?«
»Ihr wisst, dass das verboten ist.«
»Ja, das weiß ich. Aber ich weiß auch, dass Ihr ihn ganz selbstverständlich beim Vornamen nennt. Seid Ihr in London schon lange befreundet?«
»Nein, aber wir haben uns hier angefreundet. Wie Ihr zweifelsohne wisst, ist das hier nicht unsere erste Versammlung.« Ein hinterhältiges Leuchten schlich sich in die Augen hinter den quadratischen Brillengläsern. »Und wenn wir schon von derartigen Dingen sprechen, Mr. Spade, sollte ich erwähnen, dass ich gehört habe, wie Miss Cutter Euch Nathan nannte. Heißt das also, dass Ihr in London Miss Cutters … hmmmm … Gespiele seid?«
»Ich habe sie noch nie zuvor gesehen.«
»Dann habt Ihr offensichtlich gehörig Eindruck gemacht. Oder sollte ich sagen, Euch eine neue Freundin angelacht.« Die Oberlippe verzog sich. »Manchmal, Mr. Spade, ist ein Name … nichts weiter als ein Name und ohne finstere Bedeutung.«
»Finstere Bedeutung? Warum sagt Ihr das?«
»Weder Edgar – Mr. Smythe, wenn Euch das besser gefällt – noch ich verstoßen gegen die Verhaltensregeln des Professors. Es stimmt schon, dass ich Nachrichten von Mr. Smythe bezüglich Kymbelin und der Gelder bekommen habe, die nötig sind, um es in der Londoner Speicherhalle zu lagern. Und ich habe ihm ebenfalls Botschaften geschickt, aber nur durch einen von Professor Fell ausgewählten Kurier. Ihr seht also, dass alles offen und ehrlich zugeht.«
Diese Behauptung hätte Matthew fast laut loslachen lassen, aber er verkniff sich seine Heiterkeit. »Mir wäre der Gedanke schrecklich, dass jemand hier unehrlich ist«, sagte er.
»Und Ihr würdet daraufhin etwas unternehmen? Ihr würdet dafür sorgen, dass Edgar und ich bestraft werden, wenn wir außerhalb unserer Geschäfte freundschaftlich miteinander verkehren würden?«
»Wie verkehrt Ihr denn miteinander?«, fragte Matthew. »Besucht Ihr die …« Er erinnerte sich an einen Bericht aus seiner geliebten London Gazette . »Rakeshell-Klubs?« Dort, so hatte die Zeitung berichtet, konnte ein Mann eine üppige achtgängige Mahlzeit und erlesene Weine genießen, bevor sein Hinterteil von einer Frau in Reitstiefeln und Sporen mit einer Viehpeitsche versohlt wurde. Matthew konnte sich Smythe und Wilson bei derartigen Festivitäten vorstellen, verbunden durch ihre gemeinsamen Interessen. Der eine würde brüllen, als hätte er die Lungen voller glühender Kohlen, während der andere, die ihm zugefügten Schmerzen vergötternd, affektiert grinste.
»Junger Mann«, sagte Wilson kalt. »Ihr solltet Euren unübersehbaren Hang zum Fabulieren besser beherrschen. Hebt Euch derartige Ideen für Eure Huren und Kunden auf.« Er wandte sich ab, das Gesicht auf eine Art verzogen, die entweder Verärgerung oder Abscheu ausdrücken sollte, und hielt dann inne. »Ihr seht lächerlich aus mit dem Ding da auf der Nase«, hämte er, drehte sich um und stakste den Korridor zu seiner Stube hinunter. Matthew wartete, bis Wilson seine Tür aufgeschlossen hatte und verschwunden war, bevor er in sein eigenes Zimmer zurückkehrte.