Nachdem die Essensglocke den Flur hoch und runter geläutet worden war, gab Matthew seiner Kerzenuhr noch fünfzehn Minuten Brennzeit, bevor er die leicht geschrumpfte Jacke seines graugestreiften Anzugs anzog und sich auf das Mahl vorbereitete.
Wenn er Glück hatte, waren die Thackers betrunken geblieben oder – ein abstoßender Gedanke – hatten sich den ganzen Tag an Fancy bedient und somit keine Ahnung, dass Nathan Spade wieder auferstanden war.
Jetzt hieß es, sich in seiner ganzen Lebenskraft zu zeigen. Er wusch und rasierte sich, kämmte seine Haare. Er war präsentabel – bis auf eins: Als er in den Spiegel spähte, fand er, dass er mit dem Verband auf der Nase tatsächlich albern aussah. Daher schälte er sich den Umschlag vom Gesicht und entblößte das geschwollene, blauschwarze, hier und da grünlich schillernde Kunstwerk, das Jack und Mack fabriziert hatten. Riechen konnte er mit diesem Klumpen immer noch nicht, aber daran ließ nichts ändern. Die dunkle Schwellung hatte sich bis unter seine Augen ausgebreitet und die beiden Beulen auf seiner Stirn waren dunkellila angelaufen. Er war ein wahrer Pfau – und bereit, herumzustolzieren.
Er verließ sein Zimmer und ging nach unten in die Banketthalle, in der Jonathan Gentry am Abend zuvor den Kopf verloren hatte.
Bis auf den kopflosen Arzt waren alle versammelt. Sie saßen wieder an denselben Plätzen und löffelten irgendetwas aus Schüsseln, das nach einem dickflüssigen, roten Eintopf mit Meeresfrüchten aussah. Toy fütterte Augustus Pons und kicherte gutgelaunt. Smythe trank Wein aus dem Glas, Sabroso trank Wein aus der Flasche, und der fast unsichtbare Wilson hing mit dem Kopf über seiner Schüssel, als wollte er den Inhalt mit der Nase inhalieren. Minx Cutter saß stocksteif auf ihrem Stuhl. Aria Chillany sah blass und elend aus, als würde ihr der Sonnenschein der Insel die Kraft stehlen. Fancys Gesicht war ausdruckslos. Sie saß Schulter an Schulter zwischen die Brüder gepresst, die in orangefarbene, zu ihren Haaren passende Anzüge gekleidet waren und sich riesige Brotstücke in den Mund stopften. Mother Deare speiste vornehm, die großen abgearbeiteten Hände in roten Spitzenhandschuhen versteckt.
Matthew schritt die Treppe hinunter, als gehörte ihm jede einzelne Stufe.
Fancy sah als Erste zu ihm hoch. Ihre Miene veränderte sich nicht, nur weiteten sich vielleicht ihre Augen gerade so viel, dass es ihm auffiel. Dann bemerkten ihn die Zwillinge. Die Münder voller Brot fingen Jack und Mack Thacker an zu würgen. Die grün glänzenden Augen in ihren Fuchsgesichtern wurden tellergroß. Jack sprang vom Tisch auf und riss dabei seinen Stuhl um, während Mack sich nur halb erhob und dann nach einer Weinflasche griff – entweder um nach Halt zu suchen oder sie als Waffe zu benutzen.
»Was, zum Teufel, ist mit Euch beiden los?«, grollte Mother Deare. Bodenständige Rauheit schimmerte durch ihre vornehme Spitze.
»Entschuldigt, dass ich so spät dran bin.« Matthew ging um den Tisch herum an seinen Platz neben Aria gegenüber von Minx. Erleichtert stellte er fest, dass vom gestrigen Mord nichts mehr zu sehen war. Er setzte sich und lächelte in die Runde. »Guten Abend, allesamt.«
Die Thackers waren so grau wie nasses Papier geworden. Sie starrten sich gegenseitig erstaunt an – und dann Matthew mit so etwas wie Angst in den Augen.
»Beruhigt Euch, Gentlemen«, sagte Matthew. »Ich beiße nicht.«
»Euer Gesicht «, sagte Minx. »Was ist denn passiert?«
»Ein kleiner Unfall. Ich bin gestürzt.« Er streckte die Hand nach dem dampfenden Eintopf auf dem Tisch aus und schöpfte sich davon etwas in seine Schüssel. »Das sieht lecker aus.« Es würde allerdings nach so gut wie nichts schmecken, da er weder Pfefferkorn noch Fischflosse riechen konnte – und von beidem war etwas zu sehen, als er sich mit dem Löffel ans Werk machte.
»Auf der Treppe?«, wollte Mother Deare wissen. »Wart Ihr beim Arzt?«
»Nein, ich habe mich in meinem Zimmer hingelegt.« Er lächelte zu den beiden finster dreinschauenden Brüdern hinüber. »Bitte, wegen mir müsst Ihr nicht stehen.«
Mack erholte sich zuerst. Er brachte den Versuch eines Grinsens zustande, in dem keinerlei Humor lag und das seine Augen nicht erreichte. »Heb deinen Stuhl auf, Jack. Tollpatsch.« Mit leicht gebleckten Zähnen sank Mack auf seinen Platz zurück. Er nahm einen Schluck aus der Weinflasche, der sie fast leerte.
»Tollpatsch«, wiederholte Jack. Er klang wie betäubt, als hätte ihm jemand mit dem Kopf vor die Stirn gestoßen. »Verdammter Tollpatsch.« Er stellte seinen Stuhl wieder auf und bedachte Mother Deare mit einem dünnen, unaufrichtigen Lächeln. »Entschuldigt den Aufruhr. Ich weiß nicht, was über mich kam.«
Matthew breitete seine Serviette über dem Schoß aus. »Gute Manieren sind Gold wert«, sagte er und sah zu Mother Deare hinüber. »Findet Ihr nicht auch?«
»Auf jeden Fall. Gute Manieren verschaffen einem Zutritt zu vielen Türen … und einen Ausweg aus so mancherlei Klemme«, antwortete sie und nickte ihm zu, als wüsste sie genau, was er meinte.
»Ihr habt den ganzen Tag in Eurem Zimmer verbracht?«, fragte Aria. Ihre Augen sahen trübe aus. Auch wenn Gentry nicht ihr Freund und Held gewesen war, musste sein Tod sie doch so verstört haben, dass ihr Schönheitsschlaf gelitten hatte.
»Nicht den ganzen Tag«, meldete Wilson sich in seinem irritierenden Flüsterton zu Wort. »Ein paar Minuten lang ist er unterwegs gewesen. Nicht wahr, Mr. Smythe?«
»In der Tat, Mr. Wilson«, antwortete das Kieselrasseln.
»Hat sich für allerlei interessiert«, sagte Wilson.
»Für Bücher«, sagte Smythe. »Ein sehr gebildeter Bursche.«
»Ist das ein Rätselspruch?«, nuschelte Sabroso. Auf der Jacke seines cremefarbenen Anzugs waren Weinflecken. Matthew fand, dass Smythe und Wilson – die sich vielleicht bei ihrer Suche nach dem dreckigsten Loch Londons verbrüdert hatten, in das man sich hocken und ein paar Pfund für Peinigungen bezahlen konnte – der Ausdrucksweise der Thackers nacheiferten. »Ein Rätselspruch nicht, glaube ich. Bloß Umschweife.«
»Ihr seht aus, als hättet Ihr Ärger gekriegt, Jungchen«, sagte Mack und begann mit seinen fettigen Fingern in Fancys Haaren zu spielen.
Fast als wären sie mit denselben Nervenenden verbunden streckte Jack die Hand aus, um es ihm auf der anderen Seite nachzutun. Fancy starrte Matthew noch ein paar Sekunden lang an und fuhr dann schweigend fort – so würdevoll wie möglich –, ihren Eintopf zu essen.
»Ärger«, zischelte Jack kichernd.
»Und Ihr seht auch voll Scheiße aus«, erklärte Mack.
»Wie ’ne Wurst mit Beinen«, sagte Jack.
»Gentlemen?« Augustus Pons hatte sein Gesicht von Toys Löffel weggedreht. Der junge Mann versuchte weiter, Pons den Löffel in den Mund zu schieben, aber seine Bemühungen wurden mit der Hand weggewedelt. »Immerhin« , sagte Pons gewichtig, »ist Mr. Spades momentane Farbpalette relativ unaufdringlich. Er trägt kein Orange .«
Dies rief bei Cesar Sabroso ein betrunkenes Lachen hervor. Ein Lächeln huschte schnell über Minx Cutters Gesicht. Aber im Thacker-Land sorgte der Spruch nicht für Freude.
»Mach dein Loch wieder zu, du fettarschiger Rammler!«, knurrte Jack und lehnte sich mit mörderisch glänzenden Augen zu Pons über den Tisch. Diesen Gesichtsausdruck kannte Matthew nur zu gut.
»Benehmt Euch!« Mother Deares Stimme klang tatsächlich mütterlich – wenn man eine Mutter hatte, die einem mit zwei Worten einen Sargnagel durch die Stirn treiben konnte. »Dies ist eine zivilisierte Zusammenkunft, Sirs! Und Madams «, fügte sie hinzu, um niemanden auszuschließen. »Wir sind hier eine Familie und sollten uns entsprechend benehmen. Verstanden?« Sie stierte die Thackers mit einem Blick an, der durch Stahl hätte schneiden können. Auf ihr Schweigen hin wiederholte sie: »Verstanden?«
Jack war zwar der Ältere, wenn man nach Minuten und grauen Haaren ging, aber der jüngere Mack schien intelligenter und diplomatischer zu sein. Denn er war es, der nickte und sagte: »Wir haben verstanden, Mother Deare.«
»Ist mein Arsch denn so fett?«, fragte Pons Toy mit erschütterter Miene.
Der junge Mann zog die Augenbrauen zusammen und hielt ihm den Löffel hin. »Nein, überhaupt nicht! Er ist perfekt !«, sagte er. Woraufhin Pons zufrieden lächelte und sich füttern ließ.
Die Tischrunde beruhigte sich. Tatsächlich überkam die Versammelten ein Anstrich von Zivilisiertheit. Bis auf Pons und Toy, die sich etwas zuflüsterten, sowie vereinzelte betrunkene Lacher oder Ausrufe von Cesar Sabroso schwiegen die meisten.
»Aber jetzt geht es Euch besser?« Aria Chillany war wieder zum Leben erwacht. Sie legte Matthew ihre Hand auf den Arm und sah ihn beschwörend an. Ihre Saphiraugen weiteten sich und ihre Finger gruben sich in seine Haut.
»Ja, es geht wieder.«
»Wie schlimm Ihr gestürzt sein müsst!« Sie ließ es wie eine Heldenreise klingen.
»Zum Glück konnte ich ernste Verletzungen vermeiden«, sagte Matthew mit einem knappen Lächeln.
»Ein großes Glück.« Minx betrachtete ihn über den Rand ihres Weinglases. »Nathan, Ihr scheint ein vom Glück verwöhntes Leben zu führen, nicht wahr?«
Matthew hörte, wie Adam Wilson sich weiter unten am Tisch bei der Erwähnung des Vornamens räusperte, kümmerte sich aber nicht darum. »Vom Glück verwöhnt? Na, ich weiß nicht. Aber allzu viel Pech habe ich nicht, denke ich.«
»Pech und Schwefel«, sagte Mack in seinen Eintopf hinein.
»Die Hölle wollte ihn nicht haben«, meinte Jack.
»Hat ihn wieder ausgespuckt«, sagte Mack.
»Ausgeschissen «, korrigierte Jack ihn.
»Ihr beide«, sagte Madam Chillany, »gebt nichts als hundsverfluchten Unsinn von Euch.« Sie ließ ihre Hand auf Matthews Arm liegen und begann jetzt ein wenig zu reiben. Matthew fiel auf, dass sowohl Minx als auch Fancy davon Notiz nahmen, bevor sie so taten, als würden sie es nicht sehen.
Das Abendessen ging mit gedünsteten Muscheln und gegrilltem Schwertfisch weiter, gefolgt von einem Dessert aus Reispudding und Zuckerkeksen, die wie Meerestiere geformt waren, sowie süßem Sherry und goldenem Portwein. Während dieser Prozession des Ess- und Trinkbaren rückte Aria Chillany näher und näher an Matthew heran, bis sie ihr Bein an seinem rieb. Sie trank literweise Wein und begann über den Hundsfott Jonathan Gentry zu plappern. Matthew schien, dass Gentry trotz all seiner Fehler zumindest von einer Person am Tisch vermisst würde, und es war bedrückend, die plötzliche Traurigkeit in den saphirblauen Augen mit anzusehen. Aber lange verharrte die Traurigkeit dort nicht, denn Aria lebte in der Gegenwart und Gentry hatte seine – so kurz und glanzlos sie auch gewesen sein mochte – mit einem langen Seufzen zwischen den Weinflaschen ausgehaucht. Dann fanden ihre Finger wieder auf Matthews Arm zurück, ihr Fuß unter dem Tisch neckte sein Bein. Ihr Gelächter über Pons‘ galante Versuche, zu scherzen, klang gezwungen und schrill wie das einer Frau, die grauenhafte Angst davor hat, allein einzuschlafen, weil sie vielleicht mit einem Schrei hinter den Zähnen aufwachen wird.
Matthew fiel es schwer, ihr ins Gesicht zu sehen. Nicht nur ihr; es fiel ihm allen gegenüber schwer. Aber die gesamte Mahlzeit hindurch fühlte er die Blicke von Minx Cutter und Fancy auf sich ruhen. Das eine Augenpaar zerschnitt ihn vielleicht in kleine Stückchen, die leichter zu verdauen waren, während das andere sich fragte, wie die Freiheit in der Neuen Welt schmecken würde, die er ihr eventuell eröffnen würde. Schließlich aß Matthew einen letzten Seepferdchenkeks, den er für die Mitwisser lautstark zerkaute, und entschuldigte sich dann mit einem Gute-Nacht-Wunsch an Mother Deare vom Tisch, denn sie schien hier das Sagen zu haben. Es war nicht einfach, sich aus Arias Klauen zu befreien, und sie musterte ihn niedergeschlagen über den Rand ihres Weinglases hinweg. Er drehte ihr den Rücken zu und verließ die Versammelten.
Auf der Treppe wurde er in Sekundenschnelle von Minx eingeholt, die ihn am Arm packte und sich an seine Seite drückte. »Was ist Euch wirklich zugestoßen?«, fragte sie leise.
»Die Treppe«, antwortete er. »Ich bin unglücklich gefallen.«
»Schwachsinn«, sagte sie.
»Wenn Ihr Euch weiter so an mich lehnt, falle ich vielleicht auch noch diese Stufen hinunter.« Er ging weiter und sie blieb an seiner Seite.
»Ich brauche Euch«, sagte sie.
Er machte große Augen. »Wie bitte?«
»Ihr müsst morgen früh mit mir kommen. Ich will Euch etwas zeigen. Da, wo die Wale spielen. Es ist wichtig. Werdet Ihr morgen früh an den Stall kommen? Sagen wir … um acht?«
»Verkackt noch mal unmöglich !«, brüllte Jack Thacker, und ein Weinglas zerklirrte auf dem Fußboden.
Ohne einen Blick zurückzuwerfen, ging Matthew mit Minx neben sich weiter. Sie durchquerten den Korridor mit den Fischskeletten in Richtung Haupttreppe. »Ich weiß nicht, ob ich ein Pferd bekommen kann«, sagte er.
»Warum nicht?«
»Ich bin ein böser Bube gewesen.«
Sie runzelte die Stirn. »Wovon sprecht Ihr?«
»Nur davon, dass ich hier bei jemandem Anstoß erregt habe und deswegen vielleicht kein Pferd bekommen kann.«
»Noch mehr Schwachsinn. Wenn Ihr ein Pferd braucht, werde ich Euch eins besorgen.«
»Also gut.« Am Fuße der Treppe blieb er stehen und musterte sie mit nichtssagender Miene. »Ja, ich werde um acht am Stall sein. Worum geht es?«
»Um …« Sie sah nach links und rechts, um sicherzugehen, dass niemand in der Nähe war. Dann lehnte sie sich plötzlich zu ihm hinüber und küsste ihn auf den Mund. Es war ein langer, sehnsüchtiger Kuss, und obwohl Matthew davon überrascht war, wich er nicht zurück.
»Aha«, sagte Matthew, als der Kuss zu Ende war und Minx ihn mit ihren feuchten goldenen Augen ansah. »Liege ich richtig in der Annahme, dass es um … uns geht?«
»Acht Uhr«, sagte sie und begann die Treppe hochzusteigen, ohne auf ihn zu warten. Nach ein paar Stufen blieb sie stehen und drehte sich noch mal zu ihm um. »Sofern …«, fügte sie hinzu.
»Sofern?«
»Sofern ich Euch nicht schon früher sehe.« Minx hielt seinen Blick noch ein paar Sekunden lang fest und ging dann weiter die Treppe hoch, bis sie im ersten Stock aus seinem Blickfeld verschwand.
Matthew Lippen brannten. Das ist ja völlig verrückt! , dachte er. Wer hätte das erwartet? Die Messerprinzessin fühlte sich zu ihm hingezogen? Unter diesen Leuten war er der größte Langweiler. Aber … er war jung und hatte Manieren. Er war vollkommen fassungslos. Daher erstaunte es ihn umso mehr, als er die Treppe hochgehen wollte und eine weiche weibliche Stimme hinter ihm erklang. »Nathan?«
Er drehte sich um und sah, dass Fancy zu ihm heraufkam. Sie blieb neben ihm stehen.
»Ich habe nur eine Minute Zeit«, sagte sie, aber im für sie so typischen ruhigen Ton. »Sie werden mir hinterherkommen. Ich wollte, dass Ihr wisst … als ich Euch heute ins Meer stürzen sah … wusste ich, dass ich Euch helfen musste. Warum, weiß ich nicht. Ich … musste es einfach tun. Ich weiß nicht, wer Ihr seid oder warum Ihr hier seid, aber … ich möchte Euch danken, dass Ihr dachtet, Ihr könntet mir helfen.«
»Ich kann Euch helfen«, sagte er. »Wenn Ihr es zulasst.«
Die dunklen Augen hielten seine fest. Das schöne Gesicht – dieses schöne Geschöpf aus einer anderen Welt – gehörte in diesem Moment ihm. Er spürte es. Während sie ihm mit allen Fasern ihre Aufmerksamkeit schenkte, gehörte sie ihm. Innerhalb der nächsten Sekunden schon würde sich das ändern; wenn das Geräusch von Stiefelsohlen durch den Flur auf sie zukam, würde es sich ändern, aber im Moment …
»Vielleicht könnt Ihr es«, sagte sie. Und dann hörten sie die Stiefel.
Matthew war nicht danach, an diesem Abend mit den beiden Dreckskerlen zu kämpfen. Er wandte sich von Fancy im selben Augenblick ab, in dem sie ihr Gesicht senkte und zu ihren Gebietern zurückging. Zwei Stufen auf einmal nehmend lief Matthew nach oben. Ihm tat das Herz weh und seine Nase schmerzte. Er angelte nach seinem Schlüssel, aber als er aufschließen wollte, gab die Tür bereits ohne den Schlüssel nach. An diesem Abend hatte er einen Besucher.
Als er eintrat, strahlte ihm das rötliche Licht der drei Kerzen auf seiner Kommode entgegen.
Von dem weißen Stuhl mit der hohen, schwarz verzierten Lehne tönte ihm Professor Fells Stimme entgegen. »Macht die Tür zu und schließt ab, Matthew.«
Matthew blieb ein paar Sekunden zu lange regungslos stehen.
»Nun macht schon«, drängte der Professor ihn. »Es ist das Vernünftigste.«
Da musste Matthew ihm recht geben. Er schloss die Tür und verriegelte sie. Mit dem Rücken stocksteif dagegen gepresst, blieb er stehen. Die Gestalt mit der hautfarbenen Maske und den hautfarbenen Handschuhen saß mit bequem ausgestreckten Beinen auf dem Stuhl, die Füße über Kreuz. An diesem Abend war der Professor in einen konservativen dunkelblauen Anzug gekleidet. Sein weißes Hemd war vorn reich mit Rüschen besetzt und ein schwarzes Hutband zierte seinen dunkelblauen Dreispitz.
Keiner von beiden sagte etwas. Professor Fell schien die Zimmerdecke zu betrachten. Er sieht sich die vielen kleinen Risse an , dachte Matthew. Dann drehte Professor Fell sein umrissloses Gesicht dem New Yorker Problemlöser zu.
»Ihr seid heute in Schwierigkeiten geraten.« Es war eine Feststellung; so trocken wie die Gräten der Fischskelettsammlung.
»Ein bisschen«, gab Matthew zu.
»Hm. Vom Balkon der Bibliothek fehlt eins der Seepferdchen. Und die Vorhänge auch. Auf der Balkonbrüstung steht – stand – eine Weinflasche. Was könnt Ihr mir dazu sagen?«
»Nichts.« Matthew zuckte die Achseln. Sein Herz trommelte wild. »Nicht viel.«
»Ihr beschützt Eure Feinde. Warum?«
»Ich kümmere mich um meine eigenen Angelegenheiten.«
»Das ist bewundernswert. Dumm vielleicht … aber bewundernswert. Bitte setzt Euch, ich bekomme einen steifen Hals.«
Wie am Abend zuvor setzte Matthew sich auf den Stuhl am Schreibtisch. Er drehte sich so, dass er den Kaiser der Verbrecher genau im Blickfeld hatte. Ihm kam eine Frage, mit der er vorstoßen musste wie mit einem Flammenschwert. »Darf ich fragen … warum Ihr nie Euer Gesicht zeigt?«
Lachte der Mund hinter der Kutte, wenn auch nur ein bisschen? »Ich bin so schön, dass die Welt sich zu drehen aufhören würde, damit die Engel mich länger anbeten können«, sagte der Professor. »Oder ich bin so hässlich, dass jedem Monster, das seinen neidischen Blick auf mich richtet, das Herz stehenbleibt. Oder ich bin … höchstwahrscheinlich … einfach ein Mann, der gern gesichtslos bleibt.«
»Oh«, sagte Matthew.
»Sonst noch was, das Ihr wissen wollt?«
»Vieles. Aber ich bezweifle, dass Ihr es mir sagen würdet.«
»Ihr sprecht mit Überzeugung, obwohl ich bezweifle, dass Ihr wirklich versteht.«
»Ich lasse mich gern erleuchten«, sagte Matthew. Die Kerzen verbreiteten gleichermaßen Licht und Schatten im Zimmer.
Der Kopf nickte fast unmerklich. Die behandschuhten Fingerspitzen legten sich aneinander. »Zuerst einmal, was habt Ihr herausgefunden?«
»Nicht viel.« Aber dann dachte er sich, dass Professor Fell seine Meinung schätzte, und so berichtigte er sich. »Nur ein paar Dinge über Adam Wilson und Edgar Smythe.«
»Sprecht weiter«, drängte der Professor.
»Es ist natürlich nur meine Meinung.«
»Ja. Für Eure Meinung werdet Ihr bezahlt. Sprecht weiter.«
»Wilson hat einen Hang zur Grausamkeit und Smythe wäscht sich nicht ausreichend.« Matthew stockte und drückte selbst seine Fingerspitzen gegeneinander, während er sich überlegte, was er als Nächstes preisgab. Er beschloss, den Professor in seinen Verdacht einzuweihen und Fell einen Hinweis auf das zu geben, was er zu finden hoffte. »Ich glaube, die beiden haben außerhalb ihrer Geschäfte eine Art von … Verbindung miteinander. Ich glaube, dass sie bei irgendwelchen Unternehmungen in London ihre Seelenverwandtschaft entdeckt haben.«
»Und worauf stützt Ihr diese Vermutung?«
»Auf meinem Gefühl. Auf meinem Gefühl, dass sie miteinander vertraut sind und etwas haben, das sie verbindet. Was das sein könnte, weiß ich nicht, aber man merkt es an der Art, wie Wilson Smythe beim Vornamen nennt. Und auch an der Tatsache, dass sie aufeinander aufzupassen scheinen. Vielleicht, um ihre Interessen zu beschützen. Oder, weil sie ein Geheimnis teilen.« Jetzt war Matthews Fantasie in vollem Schwung und er entschied, sie mit sich durchgehen zu lassen. »Ich glaube, sie haben gegen Eure Regel verstoßen, dass Mitglieder Eures …« Was war die Bezeichnung gewesen? Ach ja. »… Parlaments privat nicht miteinander verkehren dürfen.«
Professor Fell schwieg und saß reglos da. Eine Weile sah er genau wie das aus, was er vorgab zu sein: ein Roboter, der aufgezogen werden musste. Dann setzte er sich aufrechter hin; eine Bewegung, die Matthew an eine schlüpfrig dahingleitende Schlange erinnerte.
»Ich bestehe aus Sicherheitsgründen darauf«, sagte der Professor. »Wenn eines meiner Parlaments mitglieder, wie Ihr es so ausdrucksvoll nennt, wegen einer übereifrigen Marionette der Gesetzgeber … wollen wir sagen … seine Geschäfte einstellen muss, möchte ich nicht, dass es sich auf meine anderen Unternehmen auswirkt. Meine Mitarbeiter kennen ihre Stellung und wissen, was sie zu tun haben. Mehr Einblick müssen sie nicht haben. Ich kümmere mich um den Einflussbereich des …« Er zögerte auf der Suche nach dem richtigen Wort.
Matthew sagte es: »Kraken?«
»Wie Ihr meint.« Der vom Dreispitz gekrönte Kopf mit der unheimlichen hautfarbenen Kutte verneigte sich.
»Ich habe keinerlei Beweise, dass Smythe und Wilson sich entgegen Eurer Regeln treffen«, sagte Matthew. »Nur ein …«
»Gefühl?« , fragte Fell.
»Ja, mehr nicht.«
»Aber Ihr habt heute in Smythes Zimmer nichts von Interesse gefunden?«
»Nichts.« Er runzelte die Stirn. »Wie gesagt, ich weiß nicht, wonach ich eigentlich suche.«
»Ich glaube, dass Ihr wohl eine Idee habt. Und … ich glaube, Ihr werdet es wissen, sobald Ihr es findet.«
»Falls ich es finde«, korrigierte Matthew ihn. »Was angesichts der Situation und zu kurzen Zeit gut unmöglich sein mag.«
»Die Situation ist, wie sie ist. Und dass es an Zeit mangelt, könnt Ihr Euch selbst zuschreiben, da Ihr zu dickköpfig wart, um meinem Befehl sofort zu folgen.«
Matthew hob das Kinn. Er starrte den gesichtslosen Stoff an. Das letzte Quäntchen seines Muts zusammenkratzend, sagte er: »Mir gefällt es nicht, wenn mir jemand befiehlt. Weder Ihr noch sonst jemand.«
»Oho! Mutige Worte, Sir. Dann werde ich das, was mich von meinen einfachen Wurzeln zu meiner jetzigen Position gebracht hat, vor Matthew Corbett natürlich bezwingen müssen.«
»Ein Mann unter einer Kutte«, sagte Matthew. »Mit verschleiertem Gesicht und vorsichtigen Schritten auf ungewissem Weg.«
»Auf ungewissem Weg? Warum sollte das so sein?«
»Ein oder zwei Verräter«, kam die Antwort. »Möglicherweise zwei Haare in der Suppe. Und Euer Weg, sie zu entlarven, ist derartig ungewiss, dass Ihr mich anheuern müsst? Den Mann, dem Ihr im Sommer eine Blutkarte geschickt habt? Was, wenn einer Eurer Schergen mich umgebracht hätte? Wo wärt Ihr dann jetzt?«
»Unten in meinem Zimmer.«
»Wo Ihr vielleicht hin- und herlaufen und zu entscheiden versuchen würdet, wem als Nächstes der Kopf abgeschnitten wird. Mir scheint, Ihr solltet äußerst froh sein, dass die Blutkarte mich noch nicht erwischt hat. Denn mit Eurem Vorsehungsreiter habt Ihr noch Hoffnung. Ohne mich … einen ungewissen Weg.«
Eine lange Weile sagte der Professor nichts. Und dann nur ein Wort, die gut argumentierte Gegenrede fast bewundernd: »Ah.«
»Was macht Ihr eigentlich den ganzen Tag?«, forderte Matthew sein Schicksal heraus. »Versteckt Ihr Euch in Eurem Zimmer? Arbeitet Ihr an irgendetwas? Ihr werdet doch nicht nur für diese kleinen Dramen leben und den Rest der Zeit verschlafen.«
»Ich schlafe kaum«, kam die ausdruckslose Antwort.
»Euch gehört all dies und Ihr könnt nicht schlafen?« Matthew war sich bewusst, dass seine scharfe Zunge ihn an den Rand des Abgrunds brachte, aber er konnte noch nicht aufhören. »Ihr seid ein Herumschleicher in Eurem eigenen Haus? Ihr müsst eine Maske tragen, um ein- und ausgehen zu können? Professor … ich befürchte, Ihr seid weder so reich noch so privilegiert, wie Ihr denkt. Denn obwohl ich in einem Kühlhaus wohne, das nur halb so groß wie dieses Zimmer ist, schlafe ich gut – in den meisten Nächten – und fühle mich nicht gezwungen, mich zu maskieren.«
Fell schnaubte leise. »Ihr habt ganz schön große Eier in der Hose«, sagte er.
»Ich glaube, die sind gewachsen, seit ich diesen Beruf habe.«
»Wenn sie so groß sind, dass sie Euch stören, kann ich sie von Sirki abschneiden lassen.«
»Macht doch, was Ihr wollt«, sagte Matthew und meinte es ernst. Sein Herz beruhigte sich wieder und die kleinen Schweißtropfen, die ihm auf die Stirn getreten waren, begannen zu trocknen. »Es ist doch Eure Welt, oder?«
Jetzt lehnte der Professor sich ein wenig vor. »Darf ich Euch etwas über meine Welt erzählen, junger Mann?«
Matthew antwortete nicht. Irgendetwas an der weichen, gebildeten Stimme jagte ihm einen eiskalten Schauder über den Rücken.
»Ich erzähle Euch jetzt etwas«, beschloss Fell. »Ich habe Euch gesagt, dass ich einen Sohn hatte, nicht wahr? Templeton. Einen wunderbaren Jungen. Äußerst intelligent. Interessierte sich für alles auf der Welt. Er war fast so neugierig wie sein Vater. Und Ihr erinnert mich an Temple. Wie gesagt … an das, was aus ihm hätte werden können, wenn er am Leben geblieben wäre. Er starb, als er zwölf war. Zwölf Jahre alt.« Die Worte waren mit einer traurigen Leidenschaft wiederholt worden, in der im Zaum gehaltene Wut mitschwang. »Auf dem Weg zur Schule ist er von einer Bande Schurken zu Tode geprügelt worden. Er war kein Schläger, versteht Ihr? Er war ein sanfter Mensch. Ein äußerst guter Junge.« Der Professor verstummte und saß eine Weile schweigend da, bis Matthew sich nervös räusperte und auf seinem Stuhl herumrutschte.
»Das Buntglasfenster an der Treppe ist sein Porträt«, sagte der Professor. »Mein Templeton … ist mir für immer genommen worden. Von den blutigen Fäusten von sechs Schlägern. Wie einen Hund haben sie ihn durch die Straßen gejagt und ihn nur zum Spaß zusammengeschlagen, soviel ich weiß. Sehr gut angezogen war er immer. Stets ganz sauber. Niemand von dem Londoner Pöbel hat versucht, ihm zur Hilfe zu kommen. Es war allen egal. Er war bloß etwas Interessantes auf der Straße, ein weiteres Beispiel von dem, was Menschen zum Vergnügen tun können – und werden. Und das Schlimme, Matthew … das furchtbar, schrecklich Schlimme … ist, dass Temple in der Nacht zuvor eine Vorahnung seines Tods gehabt hatte und mich am Morgen bat, ihn zur Schule zu bringen … Aber ich hatte zu tun … und mochte mir die Zeit nicht nehmen. Ich musste meinen Forschungen nachgehen. Meinen akademischen Studien. Deshalb sagte ich: Temple, du bist jetzt ein großer Junge. Es gibt nichts, vor dem du Angst haben musst. Deine Mutter und ich vertrauen Gott, und du solltest das auch. Also … geh schon, Temple, es ist ja nicht weit zur Schule. Wirklich nicht weit. Nun geh schon, sagte ich. Denn du bist jetzt ein großer Junge.«
»Das tut mir leid«, sagte Matthew in die darauffolgende bedrückende Stille hinein.
»Schweigt« , sagte der Professor leise, aber mit einem scharfen Zischen. Matthew wagte nicht, auch nur einen Ton von sich zu geben.
Schweigend saßen sie da, der Professor und der Problemlöser. Matthew konnte hören, wie die Wellen sich unten an den Felsen brachen und an Pendulum Island nagten.
»Ich … musste irgendetwas tun«, sagte die schrecklich leise Stimme. »Irgendetwas, damit es nicht mehr so wehtat. So konnte ich nicht weiterleben, oder? Und Teressa auch nicht. Sie war eine so sanfte und empfindsame Frau; wie Temple, im Grunde. Die meisten seiner Charakterzüge hatte er von ihr und sah ihr auch ähnlich. Wenn ich sie ansah, konnte ich ihn in ihrem Gesicht sehen. Aber sie weinte sie ganze Zeit und konnte nicht mehr schlafen … und ich wusste … ich muss irgendetwas unternehmen, um diese Schmerzen zu lindern.«
Die eine behandschuhte Hand hob sich, berührte fast die Stirn und flatterte dann langsam wieder herab wie ein vom Pfeil getroffener Vogel. »Ich hatte Geld. Nach dem Tod meines Vaters war ich reich. Er war hier der Gouverneur gewesen. Habe ich Euch das erzählt?« Er wartete, bis Matthew nickte. »Der Gouverneur von Pendulum Island und dem Seehafen Somers Town. Ja, ich erinnere mich, Euch das gesagt zu haben. Tja … ich hatte Geld. Und Geld ist ein Mittel zum Zweck, versteht Ihr? Es kann das tun, was man möchte. Was ich zu dem Zeitpunkt wollte … war die Namen der sechs Gestalten herausfinden, die meinen Sohn totgeschlagen hatten. Und danach … nachts durch die Straßen gehen, raus in die finsteren Höhlen, in denen sich dieses Getier zusammenrottet. Jedes bisschen Angst, das ich spürte, schluckte ich tief hinunter und betrat Baracken, die ich ein Jahr zuvor nicht mal wahrgenommen hätte. Ich hatte genügend Geld – und genügend Überzeugungskraft – um mir meine eigene Schlägerbande zu kaufen. Und sie gut dafür zu bezahlen, die sechs Jungs auf meiner Todesliste ins Jenseits zu prügeln. Die jüngste dieser Kreaturen war vierzehn. Der älteste siebzehn. Sie haben keinen Monat mehr gelebt. Aber … trotzdem … hat das nicht gereicht.«
Der Professor sprach weiter. »Nein.« Das Wort war wie das Läuten einer weit entfernten Totenglocke. »Es tat immer noch weh. Deshalb … habe ich meiner Schlägertruppe befohlen, die Eltern dieser toten Kreaturen umzubringen, ihre Brüder und Schwestern und wer sonst noch alles mit in ihren miesen kleinen Stuben hauste. Das hat mich ziemlich viel Geld gekostet, Matthew. Aber … es war es wert, weil ich es bereinigt haben wollte. Und es wurde getan. Und ganz plötzlich … hatte ich Macht und einen gewissen Ruf. Ganz plötzlich war ich auf der Straße dafür bekannt, keine Rücksicht auf mein Leben zu nehmen, und ganz plötzlich hatte ich interessierte Anhänger. Und so besaß ich … ein bescheidener Bücherwurm und zurückgezogener Akademiker plötzlich eine Truppe … Schergen, sagtet Ihr? Schergen, die für mich arbeiten wollten. Insbesondere ein paar davon kamen auf mich zu und brachten mir Dinge bei, gaben mir guten Rat. Den, dass man etwas verdienen konnte, indem man von den Krämern und Gauklern, die ihre Waren auf der Straße feilboten, Schutzgelder erzwang. Sich, mit anderen Worten, ein Reich schuf. Mein Reich, Matthew. Zuerst war es klein, dann wurde es größer. Und dann noch größer. Es verleibte sich Geschäfte ein, die es schon lange vor Temples Tod gegeben hatte.« Der verschleierte Kopf nickte. »Ich war anscheinend sehr gut darin, andere zu überzeugen. Pläne zu machen, den Machtbereich zu vergrößern. Mich dürstete nach immer mehr Wissen. Nur war dieses Wissen nicht mehr in Büchern zu finden. Es war der Wunsch zu wissen, wie ich Menschen kontrollieren – und damit meine Zukunft kontrollieren kann. Und alles, was Ihr seht – sowie das, was Ihr nicht seht – ist entstanden, weil mein Sohn auf einer Londoner Straße brutal ermordet wurde, als Ihr noch ein Kind wart. Und jetzt«, sagte der Professor mit seiner seidigen, leisen und angsteinflößenden Stimme, »seid Ihr hier bei mir.«
Matthew fürchtete sich davor, etwas zu sagen.
Aber das Schweigen dehnte sich in die Länge, und schließlich räusperte Matthew sich, um die Worte herauszuscheuchen, die ihm wie Dornen in seinem Hals saßen. »Eure Frau. Was ist aus Teressa geworden?«, wagte er zu fragen.
»Ach, süße Teressa … mein sanfter Engel, dem ich mich vor dem Altar einer schönen Kirche für den Rest meines Lebens versprochen hatte. Sie konnte mir auf meinem Weg nicht folgen.« Fell schwieg für einen Augenblick, als versuchte er das Einzige unter Kontrolle zu bringen, das außerhalb seiner Macht lag: die Stürme in seiner Seele. »Nachdem die Familien tot waren, sagte ich ihr, dass wir einander nichts mehr zu sagen hatten. Meine Liebe zu ihr war tot. Ich sah zu viel von Templeton in ihr. Es durchbohrte mir das Herz, ihn aus ihrem Gesicht herausschauen zu sehen. Ich konnte dieses ständige Erschüttertwerden nicht ertragen. Deshalb … habe ich sie verstoßen. Und ich erinnere … ich erinnere mich noch sehr lebhaft daran. Als ich erklärte, dass wir einander nichts mehr zu sagen hatten, dass ich ihr Gesicht in diesem Leben nicht mehr sehen wollte … dass ich ein anderer Mann geworden war und andere Wege beschritt, auf denen sie nicht folgen konnte … da begann sie nicht zu weinen, Matthew, sie begann zu bluten . Zwei Blutfäden tropften ihr aus der Nase … langsam, ganz langsam … aus diesem verzweifelten Gesicht, das ich einst geliebt hatte. Und ich, der ich ein anderer geworden war, sah zu, wie dieses Blut herausquoll. Ich dachte an nichts anderes als daran … welcher Blutfaden wohl zuerst an ihrer Oberlippe ankommt.«
Diese letzten Worte blieben in Matthews Kopf hängen. Der Professor faltete die Hände auf dem Schoß. »Wie gesagt, Ihr erinnert mich an meinen Sohn. Ich meine … an das, was aus ihm hätte werden können. Ein aufgeweckter junger Mann, der meint, dass ihm die Welt gehört. Das muss wunderbar sein. Und jetzt hört: Morgen Nachmittag um zwei wird mir Cesar Sabroso Bericht erstatten«, erklärte Fell. »Um sechzehn Uhr kommt Adam Wilson zu mir. Ich vertraue darauf, dass Ihr weisen und guten Gebrauch von dem Schlüssel macht.«
»Ich werde in ihre Zimmer gehen«, sagte Matthew in angespanntem Ton.
»Also gut dann.« Der Professor stand geschmeidig auf. »Ach«, sagte er mit erhobenem Zeigefinger. »Ich möchte, dass Ihr mich als den begreift, der ich jetzt bin, Matthew. Natürlich machen mich alle Lebensformen neugierig, aber Meerestiere in all ihren Formen interessieren mich besonders. Die spezialisierte Lebensform fasziniert mich am meisten. Geschöpfe aus einer anderen Welt, könnte man sagen. Sozusagen … der wahr gewordene Albtraum? Wenn Ihr Genaueres zu wissen wünscht, könnt Ihr morgen früh um sechs einen der Dienstboten am Fuße der Haupttreppe antreffen. Bitte seid pünktlich. Und damit sage ich nun gute Nacht.«
Matthew erhob sich. Nicht gerade aus Respekt, aber immerhin hatte der Mann hier das Sagen. Er nickte, fand das Sprechen aber weiterhin schwierig.
Professor Fell entriegelte die Tür, öffnete sie einen Spalt weit und spähte in den Korridor hinaus. Er wartete einen Moment; vielleicht befand sich jemand in der Nähe.
Bevor der Professor hinausschlüpfte, sagte er zu Matthew, ohne ihn anzusehen: »Enttäuscht mich nicht.« Dann war er verschwunden.
Matthew schloss die Tür wieder ab. Er hatte nicht gemerkt, dass seine Hände zu zittern begonnen hatten. Er spritzte sich etwas Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht. Ein paar Minuten lang stand er draußen auf dem Balkon, starrte zu den Sternen im schwarzen Himmel hoch und hörte die Wellen donnern.
Er war selbst ein Geschöpf aus einer anderen Welt, dachte er. In diese hier gehörte er nicht. Sein Herz sehnte sich nach New York, zu seinem üblichen Leben und seinen Freunden. Aber bevor er, Berry und Zed auf jenes solide Pflaster zurückkehren konnten …
… würde er Professor Fell, dem Hochmeister des Verrats, Beweise für Verrat präsentieren müssen.
Es war fast zu viel für seinen Verstand zu verstehen und für seine Seele zu ertragen. Er atmete die salzige Luft tief ein, aber es half nichts. So müde, dass er der Verzweiflung nahe war, wandte er sich vom Meer ab, das ihm fast das Leben geraubt hatte, und ging auf der Suche nach dem himmlischen Trost des Schlafs ins Bett.