Kapitel 26

 

Ein Klopfen an der Tür riss Matthew aus tiefem, unruhigem Schlaf. Zögernd horchte er. Ja, da war es wieder. Zweifelsohne stand jemand an der Tür. Wie spät war es? Ein Blick auf die Kerzenuhr: fast zwei Uhr morgens. Was, zum Teufel, ist nun los? , fragte Matthew sich. Er setzte sich auf die Bettkante.

»Wer ist da?«, fragte er, aber keine Antwort kam. Zum dritten Mal: Klack, klack, klack. Jemand wollte definitiv, dass er die Tür öffnete. Matthew wollte erneut rufen, aber er wusste, dass es nutzlos sein würde. Wenn die Person antworten wollte, hätte sie es bereits getan. Trotzdem … vielleicht war es jemand, der nicht wollte, dass man seine Stimme im Flur hörte. Oder … unheilvoller … es konnte auch einer der Thackers sein, oder beide, die ihre gestern begonnene Arbeit zu Ende bringen wollten. Der Gedanke machte ihn wütend. Er hatte, verdammt noch mal, die Schnauze voll von diesen orangen Filzköpfen. Wenn sie etwas von ihm wollten, dann sollten sie es haben … in der Form einer auf ihre Schädel geknallten Kerzenuhr. Er stieg aus dem Bett, nahm die Kerzenuhr und ging zur Tür, ohne das auf seine rechte Hand tropfende Wachs zu beachten, stieß den Riegel zurück und öffnete einen Spalt weit. Eine Gestalt in einem Umhang stand da, den Kopf verhüllt, vom eigenen goldenen Kerzenlicht erfasst. »Wer seid …?«, begann Matthew, konnte die Frage aber nicht beenden, weil die Gestalt im nächsten Moment ihre Kerze ausblies, die Tür aufstieß, Matthews Kerze auslöschte, bevor das Licht auf ihr Gesicht fallen konnte, und ihre Lippen auf seine drückte. Den Formen unter dem Umhang nach handelte es sich ohne jeden Zweifel um eine Sie . Matthew wich zurück und begann wieder etwas zu sagen, die gleiche unausgesprochene Frage zu stellen, und jetzt stürzte die Gestalt sich in der samtenen Dunkelheit förmlich auf ihn, ließ ihre eigene Kerze zu Boden fallen, drückte ihm seine Arme an den Körper und küsste ihn erneut. Sie war stark, wer sie auch sein mochte. Geschmeidig und flink , dachte er. Ihr Körper presste sich an seinen, ein wahres Kraftwerk sinnlicher Leidenschaft.

Es musste Fancy sein.

Er wollte ihren Namen sagen, aber ihr Mund war auf seinem und verschlang unnachgiebig jedes Wort, das er zu sagen versuchte. Sie stieß ihn rückwärts durch das Zimmer auf das Bett zu, ein Beweis, dass Indianer im Dunkeln wie Katzen sehen konnten. Er fiel unter ihr auf das Bett und sie bewies zugleich, dass ein Indianermädchen auch alles andere als mädchenhaft sein konnte.

Sie fing an, ihn auszuziehen, auch wenn sie ihm dabei sein Nachtzeug vom Körper reißen musste. Und es handelte sich nicht einmal um sein Nachtzeug, sondern war ihm von Sirki gegeben worden. Matthew dachte, dass der indische Riese sich mit den Fetzen zufriedengeben müssen würde, die das indianische Mädchen mit Fingern und Zähnen daraus machte, wenn er die Kleider wiederhaben wollte. Ihre Dringlichkeit war zum Lachen, aber gleichzeitig auch schmeichelnd.

»Warte!«, sagte er, wie vor den Kopf geschlagen von ihrem offensichtlichen Begehren. Ein zweites Warte bekam er nicht heraus, denn sie drückte ihm eine Hand auf den Mund und biss ihm knapp unter dem Nabel in den Bauch. Das Nachtzeug in Fetzen und halbnackt entdeckte Matthew, dass das Mädchen ihn wild entschlossen aufs Bett drücken und vernaschen wollte.

Sie küsste seinen Mund, packte seine Zunge mit den Lippen und knabberte an seinem Hals. Was konnte er anderes tun, als unter diesem Angriff einfach dazuliegen? Er erwiderte ihre Küsse und es wäre unmöglich – verrückt – gewesen, wenn sein Körper nicht reagiert hätte. Was er tat.

Unter dem Umhang trug sie keinerlei Kleidung. Für Formalitäten oder Vorspiel hatte sie keine Zeit; mit der feuchten Geschmeidigkeit der Lust und dringlicher Begierde setzte sie sich auf ihn. Er protestierte nicht dagegen, aber als er die Hand ausstreckte, um unter dem Umhang ihr Gesicht und ihre Haare zu berühren, packte sie seine Arme umso härter und drückte sie auf das Bett.

Hätte irgendeiner ihrer Stammesangehörigen versucht, im Takt zu ihren Hüftschwüngen die Trommel zu schlagen, wären seine Hände in der ersten Minute am Bluten gewesen. »Mein Gott!«, sagte Matthew, oder glaubte, dass er es sagte. Sicher war er sich nicht, da seine Sinne anfingen, wilde Kreise im Raum zu drehen. Er dachte, dass er am nächsten Tag nicht fähig sein würde zu laufen; aber was für einen Marsch er in dieser Nacht hinlegen wollte.

Dann beugte sie sich herunter und biss ihn hart in die Lippen. Äußerst hart, in der Tat, und sehr schmerzhaft – und Matthew erkannte anhand ihrer zahnreichen Aufmerksamkeiten, dass sie nicht Fancy war. Ganz und gar nicht.

Sie war Aria Chillany.

Natürlich. Sie; die mit der kalten Seele und den brutalen Begierden. Und sie begehrte ihn jetzt, in dieser Sekunde, und er beabsichtigte, ihr Verlangen zu stillen. Sie wollte seinen Körper, und alles andere konnte zur Hölle fahren. Diesen Strapazen war er gewachsen. Auch wenn ihre Seele eiskalt sein mochte – etwas anderes an ihr war heiß. Äußerst heiß.

Er beschloss, ihr das, was sie austeilte, mit barer Münze heimzuzahlen. Und so kam er ihr bei jedem Hüftstoß auf halbem Wege entgegen. Es fehlte nicht mehr viel, und ihr Aufeinandertreffen hätte Knochen brechen lassen können. Seine Zähne schlugen zusammen und er meinte, ihm würden gleich die Augen aus dem Kopf vibrieren. Die Frau war vollkommen wild. Sie drückte sich auf ihn hinunter und kreiste mit den Hüften. Matthew, der seit dem Zwischenspiel mit der Nymphomanin Charity LeClaire nichts Derartiges mehr erlebt hatte, konnte nur noch daliegen und versuchen, Madam Chillany mit der kurz bevorstehenden Detonation nicht durch die Zimmerdecke zu katapultieren.

Aber nein, nein … er musste diesem Angriff so lange nur irgend möglich standhalten. Und so stellte er sich einen unter Wasser im kalten Meer schwimmenden Mann vor, während die im Zimmer pulsierende Hitze und Gewalt ihres frenetischen Stelldicheins versprach, den Taucher binnen kürzester Zeit aus der Tiefe zu reißen.

Wieder versuchte er nach ihr zu greifen, und wieder wurden seine Arme sofort aufs Bett gedrückt. Dann wurde ihr Rhythmus sanfter und sie lehnte sich vor und küsste ihn zärtlich auf den Mund. Die Berührung ihrer Lippen erweckte eine noch nicht verblasste und äußerst angenehme Erinnerung.

Es war nicht Aria Chillany. Ihm wurde klar, dass sie Minx Cutter sein musste.

Ja. Er war sich sicher; wenn auch nicht so vollkommen, dass er sein Leben darauf verwettet hätte. Jetzt bewegten sie sich gefühlvoller, aber immer noch kräftig. Ihr Mund war auf seinem und ihre Zunge auf Erkundungszug. Minx , hätte er fast gesagt, aber sein Mund gehörte ihm nicht mehr. Sie küsste ihn und biss ihn spielerisch, während ihre Hüften kreisten und sie ihn fest in sich behielt. Ja. Definitiv Minx Cutter , dachte er. Vielleicht.

Das Problem war, dass er weder ihre Haare noch ihr Gesicht berühren und sie auch nicht riechen konnte. Seine zerschlagene, geschwollene Nase ließ keinen Geruch herein. Er konnte nicht sagen, ob die Frau auf ihm nach Erde, Feuer oder Meer roch. Er versuchte ihren Geruch einzuatmen und roch nichts. Als die Frau sich härter und härter auf ihn drückte, begann sie leise in einem Ton zu seufzen, der in seiner Leidenschaft jeder der drei Verdächtigen gehören konnte. Matthew konnte beim besten Willen nicht sagen, wer von ihnen es war. Und dann kam er ihr einmal zu viel entgegen, schmolz und vereinte ihr Feuer, und konnte sich nicht länger zurückhalten. Wie von einer weißen, heißen Flamme erleuchtet füllte sein Kopf sich mit bunten Rädern, und er ergoss sich in sie, während sie sich enger und tiefer an ihn drückte. Ihr leidenschaftliches, befriedigtes Stöhnen ließ ihn nur noch heißer brennen. Als Matthew ganz entleert war, kreiste die mysteriöse Liebhaberin ein letztes langsames Mal mit den Hüften, und das war Schmerz durchzogen von Vergnügen, wie es sich für Liebe gebührte. Dann stieg sie von ihm herunter, nahm sein bestes Stück und küsste die empfindliche Spitze und verließ das Bett ohne ein Wort. Er hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss, und das war das Ende des Liebesspiels.

»Verdammt«, brachte er in der Dunkelheit heraus.

Die Dunkelheit antwortete auf ihre eigene Art. Denn auf einmal erzitterte Pendulum Island leicht wie ein sich im Schlaf bewegendes Tier und die Schlosswände stimmten eine Bettlersymphonie aus Knirschen, Krachen und Knallen an.

Matthew stand auf. Mit weichen Beinen ging er zur Tür, öffnete sie und spähte in den Korridor hinaus. Wie er vermutet hatte, war niemand zu sehen. Fancy … Aria Chillany … Minx Cutter. Wer war es gewesen? Irgendwie bezweifelte er, dass er es jemals erfahren würde. Daher schloss er die Tür, schob den Riegel vor, schätzte, wie viel Zeit vergangen war, und steckte die Kerzenuhr wieder an. Müde ging er ins Bett, bereit für das, was ihm der nächste Morgen in dieser seltsamen neuen Welt bringen mochte, zu der er nun gehörte.

 

So pünktlich gegen sechs Uhr, wie es Matthew möglich war, stand er fertig angezogen am Fuße der Treppe und wartete. Über dem Meer ging die Sonne auf. Es wehte kein Wind, und der Tag versprach, sehr warm zu werden. Nach ein paar Minuten kam ein schwarzer Dienstbote mittleren Alters in der hochaufgetürmten gepuderten Perücke und meerblauen Uniform, die offenbar Professor Fells Vorliebe für Drama und Farben entsprach. Der Diener hatte eine schwarze Ledertasche in der schwarz behandschuhten Hand.

»Guten Morgen, Sir«, sagte er mit unbewegter Miene zu Matthew. »Wenn Ihr mitkommen wollt?«

Matthew folgte dem Mann zu einer anderen Tür hinter der Treppe. Sie gingen durch einen manikürten Garten, wo Vögel ihre Morgenlieder sangen. Lilafarbene und gelbe Blumen säumten den Weg, der zu einer Steintreppe führte, die sich die Klippenwand zum Meer hinunterzog.

»Seht Euch vor, wo Ihr hintretet«, sagte der Diener, als sie die Stufen hinabzusteigen begannen.

»Daniel!«, rief jemand plötzlich. Ein zweiter Lakai, der zwischen den Bäumen gestanden hatte, näherte sich, als Daniel und Matthew stehenblieben. »Ich werde den jungen Mann hinunterführen«, sagte der zweite Diener.

»Mir wurde gesagt, dass ich es tun soll«, widersprach Daniel.

»Ich weiß , dass du es ungern machst«, war die Antwort. Der zufällig aufgetauchte Diener – oder hatte er auf sie gewartet, fragte Matthew sich – war in die übliche Uniform gekleidet und sah ein paar Jahre älter aus als der andere. Er hatte ein kantiges Kinn und eingesunkene Augen, in denen sowohl Traurigkeit als auch Entschlossenheit lagen. »Ich mach’s für dich.«

»Dir gefällt es ja auch nicht«, sagte Daniel.

»Na, wem schon?«, fragte der andere mit hochgezogenen Augenbrauen. Er griff nach der Tasche.

Daniel zog seine Lederhandschuhe aus und der andere Mann zog sie sich an. Dann übergab er die Tasche. Daniel stieß einen lauten Seufzer der Erleichterung aus. »Danke, George«, sagte er, nickte Matthew zu, drehte sich um und ging zum Schloss zurück.

»Hier entlang, Sir«, erklärte George, der begann, die lange und – Matthews Empfinden nach – äußerst gefährliche, gischtnasse Treppe hinunterzugehen. Unten am Fuß der Klippe ragte eine Holzplattform über das Meer hinaus, niedrig genug, dass sich die größeren Wogen daran brachen. Eine breite Planke stach von der Plattform aus ungefähr weitere dreieinhalb Meter weit ins stürmische Wasser hinaus, und am Ende der Planke war eine äußerst beunruhigende Metallspitze angebracht, an der etwas klebte, das nichts anderes als getrocknetes Blut sein konnte. Matthew fiel auf, dass in den Wellentälern die obere Kante eines über fünfunddreißig Meter langen, kreisförmigen Drahtzauns zu sehen war. Er zäunte etwas ein, dachte er. Aber was ? Unter seinem Hemd brach ihm der Schweiß aus.

»Wenn Ihr da stehenbleiben wollt, Sir«, warnte George ihn. Er stellte die Ledertasche ab und öffnete den Schnappverschluss. Matthew folgte seiner Anweisung nur zu gern, denn der Wind und die Gischt flogen ihm bereits mitten ins Gesicht.

Vorsichtig steckte George die Hand in die Tasche und zog Jonathan Gentrys Kopf an den zerzausten Haaren heraus. Matthew stockte der Atem. Er wich einen Meter weit zurück. Das Gesicht war grau, an den eingefallenen Wangen leicht grünlich. Mit ausgestrecktem Arm trug George den Kopf zu der Metallspitze und tat dort, was Matthew befürchtet hatte: Er steckte ihn auf den Metallstift. Dann ging er über die Planke zurück zur Plattform und sah zum Meer hinaus. Er zog die Handschuhe aus und warf sie mit einem kurzen angeekelten Erschaudern in die Tasche, die er sofort schloss.

Sie warteten.

»Was ist da eingezäunt?«, wagte Matthew zu fragen. Seine Stimme klang fast eine Oktave höher als sonst.

»Der wertvollste Besitz des Professors«, sagte George. »Er wird sich gleich zeigen. Bitte bewegt Euch nicht, wenn er kommt.«

»Keine Sorge«, antwortete Matthew und beobachtete die blauen Wellen und den weiß strudelnden Schaum im eingezäunten Gebiet. Der Zaun musste mit langen Ketten unter Wasser befestigt sein.

Sie warteten.

Und dann hob George das Kinn und sagte: »Jetzt kommt er. Frühstückszeit.«

Tatsächlich stieg irgendetwas aus der Tiefe auf. Matthew konnte einen braunen Umriss nach oben kommen sehen, etwas, das mit Seepocken verkrustet und mit Seetang behängt war. George wich keinen Millimeter von seinem Platz auf der Mitte der Plattform, und obwohl Matthews Verstand ihn anbettelte, vor diesem aufsteigenden Albtraum davonzulaufen, war er äußerst neugierig. Seine Neugierde siegte stets über sein Gefühl von drohender Gefahr – was eines Tages sein Verderben sein würde, sagte er sich.

Der Umriss schwebte direkt unter der brodelnden Wasseroberfläche. Matthew hatte das Gefühl, auf einen gigantischen beweglichen Pudding zu blicken. Dann brach ein Tentakel vom Umfang eines Baumstammes aus einer grünen Welle hervor und griff in die Höhe, auf der Suche nach dem Kopf von Jonathan Gentry.

Matthew brauchte keine Anweisung, stillzustehen, denn sein Blut schien ihm an diesem warmen, sonnigen Tag in den Adern gefroren und seine Muskeln zu schweren Lehmklumpen geworden zu sein.

Der Tentakel rieb die Haare des abgetrennten Kopfes. Ein zweiter Fangarm kam aus dem Wasser, mit Muscheln und bebenden rosa-grünlichen Saugnäpfen besetzt, die sich wie aus eigenem Antrieb zu bewegen schienen. Auch dieser Fangarm griff nach dem Kopf und begann das Gesicht in grauenhafter Erwartung zu streicheln.

»Er ist sehr intelligent«, sagte George mit verhaltener Stimme. »Er untersucht seine Mahlzeit.«

Ein dritter Tentakel tauchte auf, schnellte wie eine Peitsche auf die Plattform und verschwand wieder im Wasser. Die beiden anderen begannen sich daranzumachen, den Kopf von der Metallspitze zu heben. Matthew meinte, kurz vor der Einweisung ins Tollhaus zu stehen.

Die Fangarme schlangen sich mit dem Geräusch schleifenden Fleischs um Jonathan Gentrys lebloses Gesicht und zogen den Kopf von seinem Ständer auf der Planke in die Höhe. Schnell und gierig wurde der Kopf dann der sich knapp unter den Wellen bewegenden Masse zugeführt, und als er im Wasser verschwand, konnte Matthew sich nur zu gut das Zerknacken des Schädels und das Krachen der Gesichtsknochen im Schnabel von Professor Fells riesigem, albtraumhaften Kraken vorstellen.

Die Kreatur sank zurück in ihre Unterwasserhöhle. Ein braunes Schillern und Zucken von Tentakeln, und sie war verschwunden.

»Meist frisst er Pferdefleisch, Lamm oder Rind«, erklärte George hilfreicher, als es Matthew lieb war. »Eingeweide und Gehirn scheint er zu mögen.« Er sah Matthew an, der ans andere Ende der Plattform zurückgewichen war. »Ihr seid sehr blass, Sir«, stellte er fest.

Matthew nickte wie betäubt. Ihn durchfuhr der Gedanke, dass Doctor Gentry selbst in seinen schlimmsten Fieberträumen nie gedacht haben würde, dass ihm nicht nur der Kopf abgesägt, sondern sein Gehirn zur Delikatesse eines Seemonsters werden würde.

George hob die Ledertasche auf, als sei sie eine ansteckende Krankheit. »Ich muss Euch sagen, Sir, dass Eure Freundin sich zurzeit in Jerrell Falcos Haus versteckt«, sagte er.

Matthew blinzelte. »Was?«

»Eure Freundin«, wiederholte der Diener. »Ich glaube, sie heißt Berry?«

»Berry. Ja.« Matthew fragte sich, ob er noch schlief und dies alles aufgrund einer Fischvergiftung träumte. Ja, natürlich – das musste es sein.

»Bei Captain Falco im Haus. Seine Frau Saffron ist meine Tochter. Mir wurde mitgeteilt, dass ich es Euch sagen soll, und als ich dann hörte, dass Ihr heute Morgen hierhergeführt werden solltet, habe ich auf Euch gewartet.«

Matthew rieb sich die Beulen auf der Stirn. Er musste sich schlimmer verletzt haben, als er zuerst angenommen hatte.

»Ich habe eine Landkarte für Euch.« George holte ein gefaltetes Stück Papier mit abgerissenen Rändern aus seiner Jacke. Er hielt es Matthew hin, der es stumm anstarrte. »Bitte, Sir«, sagte der Diener. »Nehmt das und versteckt es. Wenn jemand das Papier finden und erfahren sollte, dass ich es Euch gebracht habe, möchte ich nicht wissen, was mit mir geschieht.« Er warf einen besorgten Blick auf das Krakengehege. »Auf der Karte seht Ihr, wie Ihr von hier zu Falcos Haus kommt. Bitte, Sir … steckt sie gut weg und zeigt sie niemandem.«

Matthew steckte sich das Stück Papier in die Jacke. »Danke«, brachte er heraus.

»Ich hoffe, es hilft Euch«, antwortete George mit einer kleinen würdevollen Verbeugung. Er nahm die jetzt kopflose Ledertasche. »Wenn Ihr mir die Treppe hoch folgen möchtet?«

 

In seinem Zimmer hinter abgeschlossener Tür sah Matthew sich die Landkarte an und lernte sie auswendig. Dann verbrannte er sie über einer Kerze und warf die Asche von seinem Balkon ins Meer. Falcos Haus war nicht weit von der verbotenen Straße entfernt, die zu dem Fort führte. Was, im Namen aller Dämonen von Solomons Schlüssel, machte Berry dort drüben ? Er musste einen Weg zu ihr finden, und das war ein Problem. Und Zed zu finden, würde auch ein Problem sein. Sein allergrößtes Problem war jetzt allerdings, dass ihm die Zeit davonlief.

Enttäuscht mich nicht , hatte Professor Fell gesagt.

Dieses ganze Unterfangen schien Matthew eine einzige Übung im Versagen zu sein. Er musste noch die Zimmer von Cesar Sabroso und Adam Wilson durchsuchen, aber die Konferenz der Verbrecher näherte sich dem Ende, und alles, was ihm seine Untersuchungen bisher eingebracht hatten, war ein Gefühl – eine instinktive Ahnung , würde der Professor vielleicht sagen –, dass Smythe und Wilson ohne Fells Wissen auf irgendeine Art miteinander zu tun hatten. Vermutlich, so nahm Matthew an, auf ausschweifend anstößige Art. Aber nichts wies darauf hin, dass einer von ihnen ein Verräter war.

Wie also weitermachen?

Minx Cutter würde ihn um acht am Stall erwarten, um ihm irgendetwas zu zeigen, wo die Wale spielten. Wenn sie ihm ein Pferd beschaffen konnte, gut. Wenn nicht, würde er die Strecke ganz gewiss nicht zu Fuß zurücklegen; zumindest nicht bei Tage. Aber vielleicht in der Nacht; eine gute Zeit, um nach Berry zu suchen. Falls er denn aus diesem Schloss hinausgelangen konnte, ohne gesehen zu werden.

 

Pünktlich um acht näherte Matthew sich dem Stall und sah, dass Minx dort aufbruchsbereit mit zwei gesattelten Pferden – wieder Esmerelda und Athena – an der Straße stand. Sie trug ihre braunen Kniehosen, Reitstiefel und eine schwarze Weste über einer hellblauen Bluse. Er wusste nicht so recht, was er zu ihr sagen sollte – Darf ich fragen, ob Ihr nach Mitternacht in meinem Zimmer wart? –, und so schwieg er. Wenn er erwartet hatte, dass sie plötzlich über die Nacht zu plaudern begann, dann wurde er schwer enttäuscht. Sie schwang sich auf Esmerelda und hielt Athena mit ausdruckslosem Blick an den Zügeln, als er sich näherte.

»Guten Morgen«, sagte er. Zitterte seine Stimme leicht? Ja. Ihr Blick schüchterte ihn ein. Er wirkte irgendwie anschuldigend. »Wie habt Ihr mir das Pferd besorgt?«

»Ich habe gesagt, dass ich zwei Pferde brauche. Eins für mich und eins für meinen Begleiter. Um wen es sich dabei handelt, hat man mich nicht gefragt und ich habe nichts weiter gesagt. Seid Ihr soweit?«

Er antwortete, indem er die Zügel nahm und in Athenas Sattel stieg.

»Fühlt sich Eure Nase heute besser an?«, fragte sie, als sie losritten.

»Sie ist nicht mehr so stark geschwollen. Ich bekomme ein bisschen besser Luft.«

»Und habt Ihr gut geschlafen?«

Matthew war unsicher, was er alles in dieser Frage hörte. »Ja, ich konnte schlafen«, sagte er.

»Gut. Ich wollte, dass Ihr heute Morgen auf Zack seid.«

Auf Zack fühlte er sich nicht gerade, wollte ihrem Eindruck von ihm aber nicht widersprechen. Er folgte Minx vom Stall und dem Schloss weg zur Straße nach Templeton. Die Sonne schien wärmer und der Himmel wirkte blauer; bunte Vögel kreisten über Fells Paradies.

Als sie die Klippen erreichten, zu denen Minx ihn an seinem ersten Tag gebracht hatte, waren die Wale bereits zwischen den Wellen zu sehen. Sie stießen weiße Geysire in die Luft und schubsten sich mit spielerischer, aber sanfter Wildheit.

Minx stieg ab und ging an die Abbruchkante, wo sie stehenblieb und den Meeresgiganten zusah. Matthew stieg ebenfalls vom Pferd und ging zu ihr. Zusammen standen sie unter der heißen Sonne, während die Wale tauchten, die Oberfläche erneut durchbrachen und ihre Schwanzflossen wie die Flaggen riesiger grauer Schiffe schwenkten.

»Sind sie nicht wunderschön?«, fragte Minx emotionslos.

»Ja, sind sie«, antwortete Matthew wachsam.

Sie drehte sich zu ihm um. Die goldschattierten Augen ihres markanten, schönen Gesichts schienen zu brennen.

»Küsst mich«, sagte sie.

Er wartete nicht auf eine zweite Einladung. Also war sie es doch gewesen, die ihn letzte Nacht besucht hatte. Er trat einen Schritt auf sie zu und küsste sie, und sie erwiderte den Kuss und drängte an ihn. Und dann spürte er das Messer, das sich unter seinem Kinn an seinen Hals drückte. Als ihr Gesicht zurückwich, war das Feuer in ihren Augen zu einem Großbrand geworden.

»Ihr seid ein sehr guter Küsser«, sagte sie, »aber Nathan Spade seid Ihr nicht.«

Er mochte irgendetwas gestammelt haben. Auf jeden Fall schluckte er hart, trotz der Klinge, die bereit war, ihm den Adamsapfel aus dem Hals zu schneiden. Er konnte seinen Schweiß aus den Poren dringen fühlen.

»Nathan Spade seid Ihr nicht«, wiederholte sie. »Und warum genau seid Ihr hier und gebt Euch für ihn aus?«

Wagte er sich zu räuspern, so wie das Messer da saß? Nein, er wagte es nicht. »Ich glaube, Ihr irrt Euch«, sagte er mit übermenschlicher Anstrengung, die selbst Hudson Greathouse beeindruckt hätte. »Ich bin …«

»Matthew Corbett«, unterbrach Minx ihn. »Ich kannte Nathan Spade nämlich. Ich war in Nathan Spade verliebt . Und, wie gesagt … Ihr seid nicht Nathan Spade.«

Irgendwo in seinem tiefsten Herzen fand er den Mut, sich trotz des Messers zu beherrschen. Ich will, dass Ihr heute Morgen auf Zack seid , hatte sie zu ihm gesagt. Und jetzt war er tatsächlich auf Zack.

Mit einem leichten Lächeln sagte er: »Nicht mal ein kleines bisschen?«

»Nicht mal wie das kleinste bisschen seines kleinen Fingers«, gab sie zurück.

»Au«, sagte er. »Das tut weh.«

»Das Messer?«

»Nein. Eure Worte.« Er war sich bewusst, dass es zum Spielplatz der Wale senkrecht in die Tiefe ging. »Habt Ihr mich hergebracht, um mir zu zeigen, wie spurlos Ihr mich umbringen und meine Leiche verschwinden lassen könnt?«

»Ich habe Euch hergebracht um sicherzugehen, dass uns niemand folgt oder belauscht. Ihr seid Matthew Corbett, oder nicht?«

»Ihr … versetzt mich in eine missliche Lage.«

»Dann antworte ich eben für Euch.« Der Druck des Messers auf Matthews Hals ließ nicht im Geringsten nach. »Natürlich wusste ich sofort, dass Ihr nicht Nathan seid. In London waren er und ich ein Liebespaar – entgegen den Vorschriften des Professors, wie Ihr Euch vielleicht vorstellen könnt. Ich war mir nicht sicher, wer Ihr seid, bis ich Euch reagieren sah, als Adam Wilson an dem Abend beim Essen davon redete, Matthew Corbett zu töten. Ihr hättet fast Euren Wein verschüttet. Außer mir hat es wahrscheinlich niemand bemerkt. Da wusste ich, wer Ihr seid. Und ich wusste auch, warum Ihr hier seid.«

»Interessant«, sagte Matthew und hielt sich an hoffnungsloser Hoffnung fest.

»Professor Fell hat Euch auf diese Insel geholt, um herauszufinden, wer den Engländern verraten hat, dass eine Frachtladung Kymbelin auf dem Meer unterwegs war, um sich mit einem spanischen Kriegsschiff zu treffen.« Minx‘ Gesicht war dicht vor Matthews. Ihre Augen brannten immer noch und ihr Atem roch leicht nach Zitrone. Das Messer drückte sich weiterhin fest an seine Kehle. »Ihr seid ein Problemlöser, stimmt’s? Ihr arbeitet für Katherine Herrald? Und Aria Chillany hat Euch hergebracht.« Das Messer drückte stärker zu. »Antwortet.«

Matthew seufzte schwer. Das Spiel war vorbei. Aber komischerweise hatte er das Gefühl, dass ein anderes Spiel gerade erst begann. »Es stimmt«, sagte er. »Alles.«

»Der Professor hat Verdächtige? Wen?«

»Drei. Cesar Sabroso, Adam Wilson und Edgar Smythe.«

Minx lächelte grimmig. »Oh Gott«, sagte sie. Das Messer verschwand von Matthews Kehle. Sie ließ es lose an ihrer Seite baumeln. »Wonach sucht Ihr? Nach Beweisen dafür, dass einer von ihnen ein Verräter ist?«

Matthew beschloss, dass Lügen zwecklos waren. Er hatte Angst vor Minx Cutters Messerspitze. »Der Professor denkt, dass es sich um zwei Verräter handeln könnte. Und, ja – dass irgendwo Beweismaterial zu finden ist.« Aus dem Augenwinkel sah er einen Wal auftauchen, dessen weißer Atemnebel sich in der Luft zu einem Fragezeichen zu formen schien, bevor er sich schillernd auflöste.

»Zwei Verräter?« Ihre blonden Augenbrauen zogen sich in die Höhe. »Wie ungemein scharfsinnig von ihm.«

»Oh? Was meint Ihr damit?«

»Ich meine damit«, sagte sie, ihre Lippen fast auf seinen, »dass es zwei Verräter gab . Einen davon seht Ihr gerade vor Euch. Könnt Ihr schlussfolgern, wer der zweite gewesen sein mag?«

Er brauchte nicht zu schlussfolgern. Er sah die Antwort klar und deutlich in ihrem Gesicht und meinte, die unruhige Erde von Pendulum Island unter seinen Sohlen erzittern zu spüren.

»Nathan Spade«, antwortete er.

»Bravo«, sagte sie und klopfte ihm mit dem Messer gratulierend unters Kinn.