Kapitel 33

 

Am warmen und sonnigen Nachmittag des siebzehnten Aprils ertönte ein Trompetenruf vom Ausguck der Nightflyer .

Matthew Corbett, bärtig und sonnengebräunt, richtete sich von seiner Arbeit auf, die unendliche Weite der Deckplanken zu schrubben. Eine Hand zum Schutz vor der Sonne an die Stirn haltend, spähte er nach vorn.

»Wir sind zuhause«, sagte Berry, die die Seile zu ordentlichen Rollen zusammengelegt hatte, und trat an seine Seite. Sie trug ein blaues Kleid mit Blumenmuster, das Saffron ihr gegeben hatte. Berry hatte entdeckt, dass sie ein Talent für die Seefahrt hatte; inzwischen war sie geübt in solchen Dingen wie einen Sextanten zu lesen, zwanzig verschiedene Knoten für unterschiedliche Zwecke zu stecken und sogar den Wind in den Segeln zu halten, denn Captain Falco hatte ihr ein paar Mal erlaubt, sich am Steuerrad zu versuchen. Der Kapitän hatte ihr gesagt, dass sie ein gutes Händchen für die Nightflyer besaß und dass er sich wünschte, manche der Männer an Bord könnten den Wind so gut lesen wie sie.

»Zuhause« , wiederholte sie und spürte Freude in ihrem Herz aufkommen, aber auch die Last von Traurigkeit, denn ihr Abenteuer – die dreckige und bedrückende Episode im Schiffsbauch, beängstigende Männer mit Fackeln und Messern, Krebse unter einem Holzfußboden, ein gewaltsames Erdbeben und mehr – war fast zu Ende. Und auch die Tage – die etwas mehr als drei Wochen –, die sie mit Matthew verbracht hatte. Denn an Bord dieses Schiffs schien er alle Zeit der Welt zu haben und mied sie nie … in der Stadt auf der Insel vor ihnen dagegen … würde alles wieder beim Alten sein.

Matthew sah Oyster Island an der Backbordseite des Schiffs auftauchen. Und dahinter New York. Den Wald aus Segelschiffsmasten am Great Dock und dahinter all die Gebäude, die Geschäfte und Häuser, die Schänken und Lagerhallen. Die Leben der Menschen, die er mochte. Sein eigenes Leben, neu aufgefrischt. Er war jetzt der Kapitän seines eigenen Schiffs und hatte sich nach Falcos Rat gerichtet. Während der Reise hatte er sich große Mühe gegeben, aus seiner Seele das über Bord zu werfen, das ihm Schmerzen, Kummer und Reue verursachte und das er nicht mehr ändern konnte, egal, wie sehr er es versuchte. Für ihn war es wie eine Enthüllung gewesen, als er Berry in der Stille unter Mond und Sternen seine geheimsten Qualen anvertraut hatte. Wie sehr er ihr vertraute, und auch, wie sehr er sie mochte. Trotzdem … der Hai war noch im Wasser, irgendwo dort draußen.

Der Hai würde sich nicht ausruhen. Er ruhte sich nie aus. Er würde überlegen und planen und warten … und dann, früher oder später, würde er keine Warteschleifen mehr ziehen, sondern angreifen. Würde er sich auf Berry stürzen? Würde er sich auf alle stürzen, die Matthew wichtig waren?

Er wusste es nicht. Aber er wusste, dass Professor Fell nie vergaß. Und daher hatte er nicht mit dem Professor abgeschlossen und, da war er ganz sicher, der Professor nicht mit ihm.

Eine kleine Flottille Ruderboote bewegte sich auf das Schiff zu. Der Hafenmeister oder einer seiner Vertreter würden in einem von ihnen sitzen, um herauszufinden, von wo das Schiff kam und welche Fracht es mit sich brachte. Es würde daher nicht mehr lange dauern, bis sich die Neuigkeit verbreitete, dass Matthew Corbett und Berry Grigsby nach fast zweimonatiger Abwesenheit heimgekehrt waren. Lillehorne und Lord Cornbury würden die ganze Geschichte erfahren wollen und Hudson Greathouse ebenso.

Matthew entschied, dass es an der Zeit war, allen reinen Wein einzuschenken und die Geheimnisse zu lüften. Aber er war sich nicht so sicher, ob er Marmaduke erlauben wollte, darüber im Ohrenkneifer zu schreiben. Minx Cutter kam neben Matthew und Berry an die Reling. Sie war gesund und hatte sich an diesem Morgen an einer Waschschüssel gründlich geschrubbt. Aria Chillanys Messerstoß würde für immer als schmale Narbe auf Minx‘ Stirn geschrieben stehen, aber das Wundmal war kaum zu sehen. Auch sie hatte sich auf der Reise entwickelt und wurde von der Besatzung bewundert, seit sie ihnen ihre Fertigkeit im Messerwerfen demonstriert hatte. Besonders, seit Captain Falco sich freiwillig gemeldet hatte, seine Silhouette an Deck vor dem Schott von Minx‘ Messern abstecken zu lassen. Das hatte allen sehr gefallen – außer Saffron, die nicht vorhatte, ihr Kind allein aufzuziehen.

Die dreihundert Pfund in Goldmünzen waren dem Kapitän bezahlt und die Rechnung damit beglichen worden. Falco hatte sogar erklärt, dass Matthew, Minx, Berry und Zed als Besatzungsmitglieder ein Anteil davon zustand, sobald sie New York erreichten. Und jetzt waren sie fast da. Die Ruderboote hielten sich neben der Nightflyer , um die Schlepptaue festzumachen. Lange würde es nicht mehr dauern, bis man sie an einen Anleger im Hafen geschleppt hatte. Eine Strickleiter wurde hinabgelassen. Der neue Gehilfe des Hafenmeisters kam an Bord der Nightflyer ; ein Mann, der alle Schiffe und ihre Frachtladungen kannte und der stolz auf seine Wachsamkeit war, vor der sich kein Feind von New York verstecken konnte.

»Heiliger Herrgott! Ja, seh ich denn ein Phantom vor mir, seh ich das?«, fragte der alte wildhaarige Hooper Gillespie, der dank eines neuen Anzugs etwas präsentabler aussah. Er sah Berry an und seine Augen wurden noch größer. »Zwei Phantome sogar? Ja, träum ich denn am helllichten Tag?«

»Nein, Ihr träumt nicht«, antwortete Matthew. Der Gedanke durchfuhr ihn, dass das Phantom von Oyster Island nur einen Meter hinter ihm stand. Zed hatte sich zu Ehren der Rückkehr nach New York den Bart abrasiert, und da er wie für drei gearbeitet und auch wie für drei gegessen hatte, war er so stark und beeindruckend wie je. »Miss Grigsby und ich freuen uns, wieder zuhause zu sein«, sagte Matthew.

»Ja, wo wart Ihr denn? Es sind fast alle dabei verrückt geworden, sich das zu erklären!«

»Ja.« Matthew lächelte ihn an und kniff die Augen gegen die Sonne zusammen. Er kratzte sich den Bart, der bald den Strichen eines neuen Rasiermessers zum Opfer fallen würde. »Sagen wir einfach, dass wir da waren, wo für jemanden das Paradies ist.«

»Hä? Das kapiert doch kein Schweineschwanz! Ihr wollt den alten Hooper reinlegen, das ist, was ich denke! Jawohl, Sir! Reinlegen wollt Ihr ihn!«

»Ist das ein üblicher New Yorker?«, fragte Falco mit der Pfeife im Mund und lehnte sich zu Matthew hinüber.

»Nein«, vertraute Matthew ihm an. »Er hat mehr Verstand als die meisten.«

Die Nightflyer wurde in den Hafen gerudert. Matthew roch das erdige Aroma des Frühlings. Die Luft war warm und frisch, und die Hügel von New Jersey und im Norden der Stadt bunt vom Weiß, Violett, Rosa und Grün neuer Knospen und junger Blätter. Bis die Nightflyer an den Anleger gebracht und vertäut war, hatte Hooper Gillespie anscheinend schon allen in New York erzählt, dass Matthew und Berry eingetroffen waren, denn eine beachtliche Menschenmenge hatte sich versammelt und weitere Neugierige strömten auf den Hafen zu. Wie jedes Mal, wenn ein großes Schiff in den Hafen einlief, tauchten Gaukler, Musikanten und Krämer auf, die ihre Talente und Waren feilboten. Aber an diesem Tag war sonnenklar, dass die Namen Corbett und Grigsby die wahre Attraktion waren.

Das Fallreep wurde niedergelassen. Matthew beschloss, es ganz langsam hinunterzugehen, da er nur noch eine einzige Garnitur lang getragener Kleidung hatte.

»Oh, mein Herr Jesus!«, schrie jemand aus der Menge – eine altbekannte Stimme, die sich normalerweise mit irritierenden Fragen über die Aktivitäten eines Problemlösers an Matthew richtete. »Berry! Mein Mädchen! Berry! Lasst mich durch , bitte!«

Und damit drängte sich die mondgesichtige, rundlich untersetzte und bebrillte Figur von Marmaduke Grigsby durch die Menge oder wurde durchgelassen. Der Anblick seiner vorsichtig das Fallreep hinuntersteigenden Enkelin ließ ihn in Tränen ausbrechen, sodass er an diesem vielleicht glücklichsten Tag seines Lebens wie der traurigste Mann der Welt aussah.

Als Marmaduke sie mit einer knochenzerdrückenden Umarmung an sich riss, kam Berry durch die Ungestüm seiner Freude ins Stolpern und hätte sie beide fast ins Wasser gestürzt, wenn Matthew sie nicht rechtzeitig aufgefangen hätte.

»Ach, du lieber Gott!«, sagte Marmaduke, dessen Augen sich immer noch füllten. Er musste seine Brille abnehmen, um etwas sehen zu können. »Wo warst du denn? Du und Matthew, einfach weg … tagelang keine Nachricht, all die Wochen nicht … ich zerfließe, schau mich nur an!« Wieder drückte er Berry an sich und Matthew sah, wie Berrys Augen unter dem Druck riesengroß wurden. Dann richtete Marmaduke seinen Blick auf Matthew. Das runde Gesicht mit der rotgeäderten Knollennase und der Stirn, die Walnüsse zertrümmern konnte, verfärbte sich flammendrot. »Du!« Seine blauen Augen platzten ihm fast aus den Höhlen und die buschigen weißen Augenbrauen zuckten. »In was hast du dieses arme Kind hineingezogen?«

»Ich habe sie eigentlich nicht …«

»Ich sollte dich dafür bezahlen lassen! Ich sollte dich aus deinem Haus werfen und dich vor Gericht schleifen, dafür, dass …«

Ein Finger drückte sich fest auf Marmys Lippen. »Sag doch nicht solchen Unsinn «, empörte sich Berry. »Er hat mich in überhaupt nichts hineingezogen. Ich bin von selbst mit dort hingekommen, wo man uns hingebracht hat. Keiner von uns wollte da hin. Ich erzähle es dir später alles, aber im Moment will ich einfach nur nach Hause.«

»Oh, mir zittern die Knochen.« Marmy fasste sich an die Stirn. Er sah aus, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden. »Was hat mich das aufgefressen. Heiliger Gott, was habe ich gebetet, dass du wiederkommst.« Er schoss einen kurzen Blick in Matthews Richtung. »Dass ihr beide wiederkommt, meine ich. Großtöchterchen … kannst du mich beim Gehen stützen?«

»Das kann ich«, sagte sie und nahm seinen Arm.

»Bitte setz dich nicht sofort ans Papier«, sagte Matthew, bevor der erschöpfte Marmaduke weggeführt worden konnte, »und bepfeffere dein Mädchen nicht mit Tinte und Fragen. Berry? Kannst du bitte noch ein paar Tage warten, bis du irgendwem irgendetwas sagst?«

»Was ich will, ist ein paar Tage lang schlafen«, entgegnete sie, und obwohl Marmaduke bei dem Gedanken daran, seine Zeitung nicht mit einem saftigen Bericht über etwas füllen zu können, von dem er noch nichts gekostet hatte, finster dreinschaute, ließ er sich durch die Schaulustigen davonführen.

Weitere Menschen kamen, um Matthew zu begrüßen. Da waren Felix Sudbury und Robert Deverick, John Five und seine Frau Constance, die Witwe Sherwyn mit dem alles sehenden Auge und manchmal übersprudelnden Mund, Phillip Covey, Ashton McCaggers, die Munthunk-Brüder, Dr. Polliver, Hiram und Patience Stokely, Israel Brandier, Tobias Winekoop, Sally Almond, Peter Conradt und …

… der Besitzer eines schwarzen Gehstocks mit einem silbernen Löwenkopf als Griff, welcher jetzt unter Matthews Nase gehalten wurde, um seine Aufmerksamkeit auf den kleinen Stutzer von einem Mann zu lenken, der von den Kniehosen bis zum Dreispitz in helles Gelb gekleidet war. Eine von einer Friedenstaube gerupfte weiße Feder zierte seinen Hut.

»Mr. Corbett «, sagte Gardner Lillehorne in einem Ton, der den Namen wie den dreckigsten Fluch klingen ließ, der je einem Mann über die Lippen gekommen war. »Beim Teufel auch, wo wart Ihr?«

Matthew musterte das lange, bleiche Gesicht mit den kleinen schwarzen Augen, die entweder ständig verärgert oder immer arrogant dreinzuschauen schienen. Der akkurat getrimmte schwarze Ziegenbart und Schnauzer hätten von einem ermatteten Künstler aufgemalt worden sein. »Ja«, antwortete er. »Da war ich.«

»Wo wart Ihr?«

»Das ist, wo ich war.«

»Wovon, zum Teufel, redet Ihr?«

»Genau davon«, sagte Matthew mit einem leichten Lächeln.

»Mein Gott«, sagte Lillehorne zu Dippen Nack, seinem Schergen, der mit finsterem Blick neben seinem Herrn stand. »Der Mann hat nicht mehr alle Tassen im Schrank.«

»Ich war beim Teufel«, erklärte Matthew. »Und ich werde Euch gern von ihm erzählen. Euch und Lord Cornbury, wann immer Ihr es einrichten könnt – nur nicht heute Nachmittag. Ach ja .« Er erinnerte sich an das, was er sich geschworen hatte, als er den ungeheuerlichen Umfang seiner gefährlichen Situation auf Pendulum Island erkannt hatte. Er machte einen Schritt auf Dippen Nack zu und küsste ihn auf die Stirn, bewies sich damit, dass er jedes Versprechen hielt.

Stumm vor Entsetzen taumelte Nack zurück und fiel fast über einen Spalt in den Bohlen des Anlegers.

Und dann kam ein Mann durch die Menge geschritten, der, so wie es aussah, keinen Stock mehr brauchte. Er ging aufrecht und gleichmäßigen Schrittes; er sah stark und wölfisch aus, bereit für jeden vor ihm liegenden Kampf. Vielleicht lag es auch an der sehr hübsch anzusehenden – drallen, könnte man sagen – blonden Witwe Donovan, die seine Hand hielt und fast mit ihm verschmolz.

»Der Wanderer ist heimgekehrt«, sagte Hudson Greathouse. »Ich glaube, du wirst ein paar Geschichten zu erzählen haben.«

»Habe ich. Und wie ich schon dem Hauptwachtmeister gesagt habe, bin ich jederzeit bereit, ihm, Lord Cornbury und dir alles zu erzählen. Und dir zuerst.«

»Bei einer Flasche Wein im Trot , nehme ich an?«

»Bei mindestens zwei.«

»Du zahlst?«

»Im Moment habe ich gerade kein Geld, aber morgen werde ich etwas bekommen, weil ich ein Teil der Besatzung dieses schönen …«

Er konnte nicht ausreden, weil Hudson ihn in die Arme geschlossen und in die Luft gehoben hatte. Und wenn Hudson seine ganze Kraft in eine Umarmung steckte, wurde der Rücken auf eine Probe gestellt. Zum Glück bestand Matthews Rücken diese Probe, und er kehrte ungebrochen auf den Boden zurück.

»Also dann um sieben«, sagte Hudson, der plötzlich etwas im Auge hatte, das er mit dem Finger wegzuwischen versuchte. »Und komm keine Minute zu spät, sonst gehe ich dich suchen.« Er betrachtete Matthews Gesicht. »Du siehst älter aus.«

»Ja, ich weiß.«

»Das liegt an dem Bart.«

»Ich liebe den Bart!«, sagte die schöne Witwe. Ihre Hände fuhren Hudson über die Brust und Schultern. »Irgendetwas daran … lässt mir ganz warm ums Herz werden.«

»Tatsächlich?« Hudsons Augenbrauen schossen in die Höhe. »Heute Abend werde ich mein Rasiermesser verlegen«, beschloss er.

Andere kamen und schüttelten Matthew die Hand oder schlugen ihm so hart auf den Rücken, dass er meinte, doch noch zum Krüppel zu werden. Hudson verabschiedete sich mit seiner Schönen und Lillehorne mit seinem Hässlichen. Matthew erhaschte einen Blick auf Minx Cutter, die sich, ohne ein einziges Wort mit einem Menschen zu wechseln, durch die Menge schob und den Abstand zwischen ihnen vergrößerte – und vielleicht auch den Abstand zwischen ihr und der Erinnerung an Nathan Spade. Matthew würde sie später schon wiederfinden. Jetzt aber sah er sich nach jemand anderes um, einer Person, die leicht zu entdecken war, wenn sie denn das Schiff schon verlassen hatte.

Aber wie es schien, war Zed das Fallreep überhaupt nicht heruntergekommen.

Matthew ging zurück an Bord, wo Falco den Männern noch Befehle gab, das Deck aufzuräumen, bevor ihnen vom Schiff zu gehen erlaubt war.

»Wo ist Zed?«, fragte Matthew.

»Vorn«, gab Falco zurück, und tatsächlich stand Zed am Bug und schaute auf die Stadt, die ihn als Sklaven gekannt hatte – und nie gewusst hatte, dass er das Phantom von Oyster Island gewesen war.

»Will er denn nicht gehen?«

»Oh doch, er wird gehen. Oder vielmehr fahren. Sobald ich eine volle Besatzung finden und mein Schiff verproviantieren kann, laufen wir aus. In einer Woche, denke ich. Bis dahin ist Zed ein Gast auf meinem Schiff. Er zieht es vor, an Bord zu bleiben, bis wir auslaufen.«

»Bis Ihr auslauft? Aber wohin denn?«

Falco steckte sich seine Pfeife neu an und blies den Rauch in die Welt. »Ich bringe Zed nach Hause, zurück nach Afrika. Ins Land seines Stammes, wozu er mich sehr überzeugend überredet hat. Und mich auch dafür bezahlt hat.«

»Bezahlt? Womit denn?«

Falco griff in seine Tasche und öffnete die Hand. »Hiermit. Es sind sehr schöne Diamanten.«

Jetzt wusste Matthew, was Zed im Kerker vom Boden aufgelesen hatte, als das Schloss einstürzte. Auf Falcos Handfläche sahen Sirkis Schneidezähne größer als im Mund des Riesen aus, und die funkelnden Diamanten auch.

»Da soll mich doch dieser und jener!«, sagte Matthew.

»Vor allem jener «, kommentierte Falco. Er steckte sich die indischen Zähne zurück in die Tasche und biss mit seinen eigenen auf das Mundstück der Pfeife. »Er wird an nicht viel anderes außer Euch denken. Vergesst das nicht.«

»Ich vergesse es nicht.«

»Ich will mich hier nach einem Haus umsehen, wo ich Saffron und Isaac lassen kann. Ich hoffe, dass Ihr ab und zu nach ihnen sehen werdet.«

Matthew nickte. Erst nach einigen Tagen auf See hatte er erfahren, dass das Kind Isaac hieß. »Ich glaube nicht, dass ich es Euch schon gesagt habe, aber ich kannte früher einen wunderbaren Mann, der Isaac hieß«, sagte er.

»Lasst uns hoffen, dass mein Isaac ein wunderbarer Mann werden wird. Also … ich vertraue darauf, dass Ihr Euer Versprechen gutmachen werdet, mir nach meiner Rückkehr Arbeit für mein Frachtschiff zu beschaffen?«

»Ich werde es halten.«

»Irgendwie wusste ich, dass Ihr das sagen würdet.« Falco streckte die Hand aus und Matthew schüttelte sie. »Und ich weiß auch, Matthew, dass das Schicksal Euch und mich zusammengeschweißt hat. Fragt mich nicht, woher ich das weiß. Sagen wir … ich weiß, woher der Wind weht.« Und damit stieß er ein kleines weißes Wölkchen vom besten Virginiatabak aus, das vom sanften Aprilwind erfasst und aufs Meer hinausgetragen wurde.

Matthew ging an den Bug, wo Zed so reglos stand, wie er früher manchmal vom Dach des Rathauses aus das Leben von New York unter sich beobachtet hatte. Als Zed merkte, dass Matthew gekommen war, drehte er sich sofort zu seinem Besucher um. Ob friedlichen Gemüts oder im Kampf, Matthew fand, dass der Ga einen erschreckenden Anblick bot. Aber jetzt gab es nichts zu befürchten. Für eine Weile zumindest war der Krieg vorbei. Und … vielleicht … würde bald Zeds langes Leben im Frieden beginnen.

»Du hast mir mehr als einmal das Leben gerettet«, sagte Matthew. »Verstehen kannst du mich wahrscheinlich nicht, aber ich danke dir, dass du … äh … da warst. Ich bin mir sicher, dass Berry dich nicht ziehen lassen wird, ohne mit dir zu reden, und McCaggers auch nicht. Ich wünsche dir Glück, Zed.« Matthew dachte, wie seltsam es war, dass er den echten Namen dieses Mannes nie erfahren würde. Und wie äußerst traurig das in gewisser Weise war. Er streckte ihm die Hand hin.

Zed machte einen Schritt auf ihn zu. Er versuchte zu sprechen. Er gab sich große Mühe. Er kniff die Augen zusammen, um seine verstümmelte Zunge ein Wort formen zu lassen. Sein Gesicht verzerrte sich. Aber trotz all seiner Kraft und Stärke war er außerstande, auch nur eine Silbe zu bilden. Seine Augen öffneten sich. Er nahm Matthew Hand und drückte, bis Matthew fast die Knochen brachen. Dann legte er einen Finger an sein linkes Auge und deutete auf Matthew.

Ich werde Euch im Auge behalten , sagte er.

Und irgendwie hatte Matthew daran keine Zweifel. Selbst über die Entfernung zwischen hier und Afrika hinweg. Wenn jemand seinen Blick über einen Ozean auf eine Welt und die richten konnte, die er hinter sich gelassen hatte, dann war es Zed.

»Lebwohl«, sagte Matthew. Als er die Nightflyer verließ, stand Zed immer noch am Bug, vielleicht sprungbereit zur gewagten Reise in seine Zukunft, und beobachtete stumm die Welt, die er zurückließ.

Matthew war auf dem Weg zu seinem Haus in der Queen Street, froh, die Menschenmenge und guten Wünsche hinter sich gelassen zu haben, als jemand hinter ihm rief: »Matthew! Mein Gott, hier bist du!«

Er blieb stehen, um sich umzudrehen. Die Stimme hatte Matthew natürlich sofort erkannt: Es war die des großen, schlaksigen Effrem Owles mit den großen runden Augen hinter der Brille, dessen braune Haare trotz seiner nur zwanzig Jahre bereits graumeliert waren. Wie es sich für den Sohn eines Schneiders gehörte, trug Effrem einen modischen beigefarbenen Anzug. Aber es gab einen wunden Punkt: Matthew bekam ein schlechtes Gewissen, als Effrem auf ihn zulief. Obwohl Effrem lächelte, als gehörte ihm die Welt – oder alle Nadeln und Fäden –, wusste Matthew, dass sein Freund noch großen Kummer haben musste. Schließlich war das Geschäft der Familie einer von Professor Fells Kymbelin-Bomben zum Opfer gefallen. Und Matthew fühlte sich für diese Katastrophe verantwortlich, weil er sich den Wünschen des Professors widersetzt hatte.

»Ich hab gehört, dass du zurück bist, und Berry auch! Ich dachte, ich würde dich noch im Hafen erwischen, aber …«

»Aber jetzt bist du ganz hierhergekommen«, sagte Matthew und schlug seinem Freund auf die Schulter. »Gut siehst du aus, Effrem. Wie geht’s deinem Vater?«

»Sehr gut, Matthew. Aber wo warst du denn so lange? Ich hatte gehört, dass du in der Brandnacht im Hospital warst und dann einfach verschwunden bist?«

»Ist eine lange Geschichte. Eine, die ich mir für ein andermal aufbewahren werde, ja?«

»Natürlich. Ich will dich nicht drängen.« Seite an Seite gingen sie die Queen Street in Richtung Norden entlang. Nach einer Weile sagte Effrem: »Dann nehme ich an, du hast es noch nicht gehört?«

»Was nicht gehört?«

»Die große Neuigkeit, Matthew! Ach, wie hättest du es auch hören sollen? Komm mit, ja?«

»Komm mit wohin?«

»Zum Geschäft! Ich will es dir zeigen!«

Effrem holte mit großen Schritten aus und Matthew folgte ihm. Sie gingen auf die Kreuzung von Crown und Smith Street zu. Eine verhängnisvolle Straßenecke , dachte Matthew. Dort hatte die Schneiderei der Owles‘ gestanden, bis sie in Schutt und Asche gelegt worden war. Die Schuldgefühle wurden stärker. Matthew verlangsamte seine Schritte. Er wusste nicht, ob er noch weitergehen konnte.

»Komm schon, Matthew!«, drängte Effrem ihn. Er war stehengeblieben, um auf seinen Freund zu warten und einen Heuwagen vorbeifahren zu lassen. »Ich weiß, du musst müde sein, aber ich wollte dir zeigen, was …«

»Effrem«, sagte Matthew. »Ich erinnere mich. Ich weiß, was mit der Schneiderei von deinem Vater passiert ist. Es tut mir schrecklich leid. Ich hoffe, du hältst mir das nicht vor. Also … du brauchst mir die Ruinen wirklich nicht zu zeigen. Ich werde tun, was ich kann, damit …«

»Die Ruinen ?« Effrems Augen waren groß geworden. »Nein, Matthew! Nicht die Ruinen! Komm schon, es ist nicht mehr weit! Bitte!« Er packte Matthew am Ärmel, um ihn weiterzuziehen.

Die Straßenecke rückte in Sichtweite, und Matthew blieb stehen, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen.

Es waren keine Ruinen.

Es war eine neue Schneiderei, aus soliden roten Ziegeln gebaut und mit einem Kupferdach. Matthew zwang sich weiterzugehen, und als er sich dem schönen Gebäude näherte, sah er, dass unten auf dem Schaufenster Effrem Owles, Schneidermeister stand. Und darunter Benjamin Owles, beratender Schneider .

»Ich habe den Laden jetzt übernommen«, sagte Effrem stolz und streckte Brust heraus. Dann winkte er jemandem zu und rief: »Er ist hier! Ich hab ihn gefunden!«

Matthew sah eine schlanke junge Frau auf sie zukommen. Sie war einfach und elegant in ein blaues Kleid und einen Hut derselben Farbe gekleidet. Ihre Haare waren rabenschwarz und sie war bemerkenswert hübsch. Sie ging zielstrebigen Schrittes, um so schnell wie möglich an Effrem Owles‘ Seite zu gelangen. Dann schenkte sie Effrem ein Lächeln, gegen das die Aprilsonne verblasste, und das er erwiderte. Man musste kein Problemlöser sein, um anhand dieser deutlichen Anzeichen erkennen zu können, dass es Liebe immer wieder und zwischen den unwahrscheinlichsten Menschen gab.

»Zum Gruße, Opal«, sagte Matthew.

»Seid gegrüßt, Matthew«, sagte sie, hatte aber nur Augen für ihren Effrem. »Wir haben gehört, dass ihr wieder da seid. Effrem ist gleich losgerannt.«

»Hab ihn im Hafen aber verpasst. Musste ihn einholen.«

»Und ich muss erst mal auf holen.« Matthew betrachtete die neue Schneiderei. »So solide gebaut, und so schnell! Das muss ganz schön viel gekostet haben!« Er musste die nächste Frage stellen. »Dein Vater hatte genügend Geld, um neu bauen zu können?«

»Nein, hatte er nicht«, antwortete Effrem. »Aber … das war vorher.«

»Vor was?«

Effrem sah Opal an. »Na, sag’s ihm schon.«

Sie scharrte mit dem Schuh auf der Straße und zuckte die Achseln. »Es war ja nichts weiter. Ich meine, mir hat’s nichts bedeutet. Deshalb dachte ich … na ja … vielleicht könnte es jemandem helfen.«

»Könntest du dich bitte klarer ausdrücken?«, forderte Matthew sie auf.

Sie hob den Kopf und sah ihn mit ihren hellblauen Augen an. »Der Ring, den Ihr mir gegeben habt. Mit dem roten Stein. Hat sich rausgestellt, dass es der schönste Rubin war, den der Schmuckkäufer je gesehen hatte.«

Matthew machte das Geräusch eines Mannes, dem ein Kind mit der Faust in den Magen schlägt. »Oh.«

Der Ring aus Tyranthus Slaughters Schatztruhe. Den Matthew Opal im Oktober für ihre Hilfe geschenkt hatte, Lyra Lekas Machenschaften aufzudecken. Matthew dachte, dass Slaughter sich im Grab umdrehen würde, wenn er wüsste, dass er für eine solch gute Tat verantwortlich war.

»Das ist ja fantastisch«, sagte Matthew.

»Sie ist fantastisch«, berichtigte Effrem ihn. Er legte Opal einen Arm um die Schultern und sie einen um seine Taille, und plötzlich wollte Matthew seinen Arm um einen Kasten Wein legen, um auf gute Taten, das Glück, gute Schicksalswendungen und die Tugend der Liebe zu trinken.

Effrem entschuldigte sich für einen Moment von Opal, um Matthew zurück zur Queen Street zu begleiten. »Hör mal«, sagte Effrem leise, obwohl nicht viele Menschen auf der Straße unterwegs waren. »Was Berry angeht.«

»Was ist mit ihr?«

»Ich will nichts mehr von ihr. Ja, ich glaube schon, dass sie hinter mir her war. Aber, Matthew – ich kann doch nicht zwei Damen den Hof machen!«

»Nein, das wäre unziemlich«, fand Matthew.

»Eben! Von daher … wenn sie also nach mir fragt oder irgendwas sagt … würdest du ihr sagen, dass ich mich mit Opal auf einem bedeutungsvollen Pfad befinde?«

»Auf einem bedeutungsvollen Pfad?« Matthew wartete nicht auf nähere Erklärungen; er brauchte keine. »Ich werde es ihr mit Sicherheit sagen, falls sie fragt.«

»Danke!« Jetzt war es Effrem, der Matthew auf die Schulter schlug. »Mein Gott, ist es nicht wunderbar?«

»Ist was nicht wunderbar?«

Effrem starrte Matthew an, als käme der aus einer anderen Welt. »Am Leben zu sein!«, sagte er mit breitem, beschwingtem Grinsen. »Sie wartet auf mich und wir gehen zu den Devericks zum Kaffee. Sehe ich dich später im Trot ?« Er hatte sich schon in die andere Richtung umgewandt.

»Bald«, versprach Matthew mit einem Lächeln, das weder so breit noch so beschwingt, aber genauso vielsagend war. Und dann gingen die zwei Freunde, die es so wunderbar fanden, am Leben zu sein, ihrer getrennten Wege.