Da sitzen sie. Aus allen Winkeln des Klosters sind sie in die Abtei gekommen. Aus der Holzwerkstatt, aus dem Waschhaus, aus der Bibliothek, aus dem Garten; nach und nach füllt sich das Chorgestühl. Manche Nonne hat noch rasch vor dem Kirchgang die blaue Arbeitskleidung gegen den Habit aus festerem Tuch getauscht. Schwer schimmern die schwarzen Schleier auf den Köpfen. Ein Streifen weißer Stoff umrahmt das Gesicht. Wer nicht mehr gut zu Fuß ist, kommt einige Minuten eher und setzt sich auf seinen Platz. Die Frauen sind zunächst durch ihr Warten miteinander verbunden. Während eine in sich versunken ist, schaut eine andere neugierig oder müde oder vergnügt. Aus dem losen Aufeinander-Warten wird ein durch gemeinsames Schweigen verbundenes Ganzes. Nur wer darauf achtet, kann sehen, wie die Äbtissin in der letzten Reihe leise auf das Holz klopft. Der Gottesdienst beginnt, der gregorianische Gesang setzt ein. Es folgt ein Wechsel aus Gebet, Fürbitte und Lesung. Wir sind in der Mittagshore. Punkt zwölf läuten die Glocken. Die Schwestern gehen in sich. Wird man jemals in Erfahrung bringen, worüber sie in dieser knappen Minute nachdenken? Was geht der 87-jährigen Schwester Candida durch den Kopf, wenn sie die Lupe ablegt und ihre Augen schließt? Worüber lächelt die 93-jährige Schwester Agatha im In-sich-versunken-Sein? Schwester Fidelis sieht erschöpft aus. Sie hat den ganzen Tag auf dem stickigen Teeboden Kräuter von einer auf die andere Seite gewendet, (gelegentlich überfällt sie im kühlen Kirchenraum ein Nickerchen). Und die anderen? Das Wesen eines Menschen offenbart sich nicht im schweigenden Gebet. Nur wer die Frauen kennt, weiß, in welche Richtung sie nach dem Gottesdienst die Kirche verlassen werden, was sie arbeiten, wie ihr Temperament ist. Aber noch sitzen sie da. Beten und bitten. So geht das seit Generationen. Jeden Mittag, jeden Nachmittag, jeden Abend, zur Nacht und am frühen Morgen versammeln sie sich in ihrer kleinen Kirche mitten in der Altstadt von Fulda. Niemand weiß, wie viele Generationen sie dort noch sitzen werden. Sie sind nie ganz vollzählig versammelt. Eine ist krank. Eine hat einen Termin. Eine hat noch Dienst im Klosterladen. Aber alle anderen sind da. Da sitzen sie.
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Wie jeder Garten erzählt auch der Klostergarten der Benediktinerinnen in Fulda die Geschichte seiner Gärtnerinnen.
Obwohl die meisten Nonnen, die in diesem Garten arbeiteten, nicht mehr leben, hat ihr gärtnerisches Erbe überdauert. Die Klostergärtnerinnen haben vieles notiert und die jährlich neu gezeichneten Gartenpläne, Fotos und Briefe aufgehoben. Je nach Jahrgang bestehen die Aufzeichnungen aus kryptischen Eintragungen auf den Rändern von alten Feldpostformularen, die aus dem Bestand der im Kloster einquartierten Wehrmachtssoldaten stammen. Manchmal handelt es sich um Notizen auf der Rückseite von Briefen oder auf leeren Stellen von Werbezetteln, in alten Kladden, die rechtsherum Rechnungsbuch waren und linksherum Tagebuch. Die Schrift der Aufzeichnungen wird im Laufe der Jahrzehnte größer, das Papier dicker. Irgendwann sind die Hefte nicht mehr bis auf den letzten Millimeter gefüllt, die Texte enthalten Absätze. Der Grund ist die wirtschaftliche Situation des Klosters, die sich zunehmend verbesserte. Die Schrift wird im Laufe der Zeit auch deshalb größer, weil die Nonnen älter und ihre Augen immer schwächer wurden. Doch allem Alter und allen Gebrechen zum Trotz, hörten sie weder auf zu gärtnern noch zu schreiben. Das ist die besondere benediktinische Tradition der Abtei zur Heiligen Maria.
Auch der Ort, an dem das unter botanischen, ökologischen und unternehmerischen Gesichtspunkten wichtige Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte seinen Lauf nahm, ist genau überliefert: Es begann alles am Schreibtisch von Schwester Laurentia.
Alle Jahrhunderte hindurch bis heute hat sich eine schöne Sitte in Klöstern erhalten. Am Ende eines Jahres sendet man befreundeten Klöstern, zumeist aus dem gleichen Orden, einen Rundbrief, in dem mitgeteilt wird, was im vergangenen Jahr geschah. Wer eingetreten oder verstorben ist, ob man Bauarbeiten am Haus hatte, und auch Anekdoten und Geschichten werden und wurden je nach Erzähltalent des Briefschreibers mehr oder weniger ausführlich aufgeschrieben.
Die Abtei Fulda erhielt, wie jedes Jahr ungefähr zu Weihnachten, aus dem berühmten Benediktinerinnenkloster Stanbrook deren Jahresbrief, es ist das Jahr 1948. Die Stanbrooker Chronistinnen besaßen ein besonders unterhaltsames Talent, aus ihrem Klosterleben zu berichten. Aus Stanbrook stammt auch der berühmte Briefwechsel zwischen dem Dramatiker George Bernhard Shaw und Äbtissin Laurentia McLachlan. Die Abtei Fulda schätzte sich glücklich, dass die Stanbrooker Schwestern Kontakt zu ihnen hielten. In den Abendstunden übersetzte Schwester Laurentia die englische Jahrespost ins Deutsche. Sie hatte, genau wie ihre Mitschwestern, verschiedene Ämter inne. Sie arbeitete in der Infirmerie, so nennt man in Klöstern die Krankenstation, außerdem war sie Küchen- und Gastmeisterin. Immer war sie in leitenden Positionen, in den Kriegsjahren sogar die Stellvertreterin der Äbtissin. Sie führte ein erfülltes Ordensleben, in einer zivilen Arbeitsbiografie würde man es wohl Karriere nennen, jedenfalls: Schwester Laurentia war immer schwer beschäftigt. Die Übersetzungen bereiteten ihr großes Vergnügen. Sie sorgte dafür, dass jede Pointe auch auf Deutsch saß.
In der Stanbrook-Chronik von 1948, über der sie gerade saß, ging es um den armen Gärtner und ehemaligen Kriegsgefangenen Crescenzo Malatesta, der als Gartenhilfe eingeteilt worden war und nach zehn Jahren endlich nach Hause fahren durfte. Allerdings ließen ihn die englischen Schwestern erst im Winter abreisen, damit er den Gemüsegarten noch einmal bestellen konnte. Überhaupt ging es in der Chronik aus diesem Jahr sehr viel um den Garten. Eine Passage brachte die sechzigjährige Schwester Laurentia ziemlich ins Grübeln.
Die englische Chronistin schrieb: „Jede Generation ist die Verwalterin des Bodens, auf dem sie lebt; deshalb muss der Boden in denkbar bestem Zustand der Nachwelt übergeben werden. Gott, der Schöpfer der Pflanzen- und Tierwelt und der Menschen, in die alle er auch den Samen für künftiges Wachstum gelegt, hat die Erde befähigt, sich unaufhörlich zu erneuern und zu verbessern durch natürliche Mittel. Es war schon immer für einige von uns eine beliebte Lektüre, über Landwirtschaft und Bodenbeschaffenheit und seine Ausnützung zu lesen.“
Schwester Laurentia war derart aufgeregt, dass sie die Stellen grammatikalisch nicht ganz korrekt übersetzte, was bei ihr ansonsten absolut unüblich war. Sie hatte einen Satz durchgestrichen und war handschriftlich in den Text gegangen, außerdem war die Stelle am unteren Blattrand zerfetzt. Ganz offensichtlich hatte sie die Seite oft in der Hand. Bis auf dieses Blatt waren alle anderen erhaltenen Dokumente aus den Jahren 1933 bis 1951 akkurat und nahezu ohne Fehler abgetippt.
Man müsse, so stand es weiter im Stanbrooker Rundbrief, dem Boden Pflanzliches zurückgeben, denn chemische Düngungen und ausgedehnte Waldabholzungen würden den Boden auslaugen. Eine Einsicht, die heute weitgehend bekannt ist, doch in den 1940er Jahren waren solche Ansichten völlig neu. Der italienische Gärtner und die Stanbrooker Schwestern, so stand es in dem Brief, hatten schon einiges ausprobiert, um im Garten humusreiche Erde herzustellen. Sie berichteten von verschiedenen Methoden und davon, dass viele Kleingärtner und Bauern in England nicht genug Naturdung auftreiben konnten, weshalb sie zu Kunstdünger griffen, der zwar die richtigen Stoffe enthalte, aber künstlich sei und demzufolge „ohne Leben“. Dies lehnten die englischen Schwestern ab. Sie verfolgten die Ergebnisse der damaligen ökologischen Forschungen sehr genau. Die Texte des Biochemikers Dr. Ehrenfried Pfeiffer, der mit dem Anthroposophen Rudolf Steiner zusammenarbeitete und einen biodynamischen Hof in Holland betrieb, kannten sie ebenfalls. Die Stanbrookerinnen hatten Rudolf Steiners moderne Methoden zum Gartenbau aufmerksam studiert, sein Rezept zum schnellen Kompostieren aber hielt er bedauerlicherweise geheim.
Die Stanbrookerinnen waren einer anderen Quelle auf der Spur: Sie erfuhren von Miss Maye E. Bruce, die aus der Steinerschen Bewegung kam und sich von den Anthroposophen lossagte, weil sie deren Philosophie ablehnte. So konnten beispielsweise nur Mitglieder der anthroposophischen Gesellschaft die Präparate zur Kompostaktivierung erwerben. Die Herstellung war zudem äußerst kompliziert und es war auch eine Menge Hokuspokus im Spiel. Oder wie soll man das nennen, wenn ein Mittelchen seinen Zauber erst durch eingegrabene Ochsengalle bei Mondlicht erlangt oder durch Kräuter, die in Hirschblasen oder Kuhhörner gefüllt und eingebuddelt, nach einem halben Jahr wieder ausgebuddelt, pulverisiert und miteinander vermischt werden? Aber nur durch Umrühren in eine Richtung! Es gab noch jede Menge anderer Kuriositäten, die man sich heute allenfalls mit Gelächter weitererzählt, aber ganz sicher nicht mehr als Geheimtipp. Miss Bruce war damals schon klug genug, Wissenschaft von Anthroposophie zu trennen und entwickelte ein eigenes Mittel und eine eigene Methode. Sie ließ für ihr Rezept der schnellen Umwandlung von Kompost in Humus den ganzen magischen Kram weg, und vermischte stattdessen die getrockneten, pulverisierten Kräuter. Sie rührte womöglich nach der feinen englischen, aber keinesfalls anthroposophischen Art. Das Rezept beinhaltete unter anderem getrocknete Brennnesseln und Schafgarbe vermischt mit Honig und Wasser, und nur wenige Wochen später, so stand es in der Stanbrook-Chronik verbürgt, bekäme man reichen, dunklen Humus. Obendrein benötige man nur eine winzige Menge.
Schwester Laurentia begriff auf der Stelle, dass, wenn das alles wie beschrieben funktionieren würde, sich das Grundproblem eines jeden Gartens lösen ließe: Man bekäme Erde. Krümelige, satte Erde. Wie wunderbar das wäre! Die Stanbrooker Schwestern schwärmten von Miss Bruce’s „Quick-Return-Method“, die Schwester Laurentia gewohnt gewitzt als „Geschwind-Kompost-Methode“ übersetzte.
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Warum war diese Passage über den Boden so wichtig für Schwester Laurentia? Es herrschte die Not der Nachkriegsjahre. Doch zuvor sollte erzählt werden, was während des Krieges geschah. An einem Dezembertag im Jahr 1940 erfuhren Schwester Laurentia und ihre Mitschwestern, dass die Franziskanermönche oben vom Fuldaer Frauenberg aus ihrem Kloster vertrieben wurden. Das war von der Nonnengasse, wo die Benediktinerinnen lebten, nur zwanzig Gehminuten entfernt. Die Bedrohung war wirklich akut. Äbtissin Maura Lilia war frisch im Amt. Sie hatte erst im Jahr zuvor die Verantwortung für das Kloster übernommen. Als promovierte Juristin kam sie aus Berlin und zog mit einem wunderschönen, glänzenden Blüthner-Flügel und einem Stapel Partituren für Wagneropern ein. Sie hätte in ihrer freien Zeit lieber so oft wie möglich ihr Instrument gespielt, das heute noch heute im Kloster steht. Maura Lilia blieb nichts anderes übrig, als eine Pianistinnenpause einzulegen. Als Oberin der Abtei mit 65 Mitschwestern versuchte sie, sich für den Fall der Klosterauflösung vorzubereiten. Noch bevor sie die Nachricht über die Franziskaner auf dem Frauenberg erreichte, hatte sie vorausschauend nach Notquartieren gesucht und sich einen Plan zurechtgelegt. Die als „Himmlers Klostersturm“ bekannten Beschlagnahmungen und Vertreibungen führten während des Krieges zur Auflösung vieler katholischer Gemeinschaften. Mutter Maura ahnte, was auf sie zukommen könnte.
Obwohl die Nonnen in den Kriegsjahren Nähaufträge für die Wehrmacht übernahmen, war abzusehen, dass ihnen daraus kein Vorteil entstehen würde. Tag und Nacht besserten sie Uniformen und Zelte aus. Oft auch im Luftschutzkeller, den sie sich eingerichtet hatten. Es gibt ein Foto, auf dem man die im Kreuzgang meterhoch aufgestapelten Soldatenuniformen sieht. Wie berechtigt die Befürchtungen waren, dass die Schwestern durch die Näharbeiten keineswegs unter besonderem Schutz standen, bewahrheitete sich an einem Januarabend 1942. Im Stadtschloss gab es einen Standesbeamten mit Namen Lorenz Fuß. Er bekam mit, dass die Nazis kurz davor standen, das Benediktinerinnenkloster zu beschlagnahmen. Schnell lief er die paar Gehminuten hinüber und warnte Äbtissin Maura. Noch in derselben Nacht fuhr die Äbtissin nach Kassel zur Generalkommandatur. Die Adresse hatte sie vom Benediktinerabt Basilius Ebel aus Trier erhalten. Die Kontaktaufnahme in Kassel schien zunächst ergebnislos gewesen zu sein, denn wenige Tage später fuhr sie erneut dorthin. Am Tag darauf bekam das Kloster Besuch von einer „höheren Stelle“ aus Kassel. Die Nonnen durften in ihrem Zuhause bleiben. Die Sache hatte nur einen Haken: Die Schwestern mussten zusammenrücken. Das war der Deal. Siebzig zusätzliche „Gäste“ aus der Wehrmacht zogen ein. Sie nannten sich „Standortgebührnisstelle“ und wohnten eineinhalb Jahre lang im Gästehaus und in einem Gebäude, das mitten im Klosterhof stand. Als im Sommer 1943 die Behörde in eine Kaserne umziehen sollte, sorgte die Äbtissin dafür, dass kein Leerstand entstand. Sie benachrichtigte die Bewohnerinnen des ausgebombten Bremer Altenheims St. Elisabeth, dass diese mit ihren Betreuerinnen bitte schnell kommen sollten. Zwischen dem Auszug der Wehrmacht und dem Einzug der erschöpften, alten Damen und ihren Pflegerinnen vergingen nur wenige Tage. Der Plan ging auf. Das Kloster war völlig überbelegt. Die Äbtissin spekulierte darauf, dass niemand den Mumm haben würde, kranke, verängstigte Alte auf die Straße zu setzen und stattdessen Soldaten unterzubringen. Die Bremer Flüchtlinge waren immerhin zwischen fünfundsiebzig und hundert Jahren alt. Wie hätte das ausgesehen? Der Fortbestand des Frauenklosters St. Maria war ausschließlich der Finesse der Äbtissin zu verdanken.
Im September 1944 erlebte Fulda den größten Bombenangriff. Mitten in den Klosterhof fiel eine Bombe, die fast sämtliche Fenster der Kirche, im Kreuzgang und im Haus zerstörte und die Dächer zum Teil abdeckte. Im darauffolgenden Winter muss es schrecklich gezogen haben. Schlimmer als die Kälte war das Versorgungsproblem. Außer ihrem Garten besaßen die Benediktinerinnen fast nichts. Ihnen wurde klar, dass sie anfangen mussten, diesen Garten zur Existenzgrundlage zu machen. Leben „von der täglichen Handarbeit“, wie es die Mönchsregel vorschreibt oder wie man es heute ausdrückt, „von der eigenen Hände Arbeit leben“, ist für Benediktinerinnen nichts Ungewöhnliches, sondern Alltag. Die Schwestern hatten aber keinerlei Gartenerfahrung.
Es führte kein Weg daran vorbei: Die vor dem Krieg vorhandenen Werkstätten wie Stickstube, Holzwerkstatt und Buchbinderei brachten längst nicht mehr genug ein. Denn die Bevölkerung war ebenfalls arm, weshalb es den Benediktinerinnen an Aufträgen mangelte. Wollte man die vielen Klosterbewohnerinnen ernähren, reichte der 2.000 Quadratmeter große Klostergarten innerhalb der Klostermauer, der im Wesentlichen aus Obstbäumen bestand, nicht aus. Nicht, weil Obstessen eintönig gewesen wäre, sondern, weil man damit nicht ganzjährig zu essen hat. Die Schwestern der Abtei besaßen verschiedene Ländereien, die verstreut im Fuldaer Land entweder brachlagen oder verpachtet waren. Diese Felder müssten bestellt werden. Was sehr praktisch klingt, ist nur dann praktisch, wenn man weiß, wie das geht. Lediglich einige Schwestern waren an Landarbeit gewöhnt, besonders viel bäuerliches Wissen war nicht vorhanden. Die Frauen ließen sich trotzdem nicht entmutigen, schafften sich zwei Pferde an und mieteten eine Scheune mit Stall. Für die schweren Ackerarbeiten stellten sie zwei Männer ein. Die zur Landarbeit eingeteilten Schwestern, die vorher als Stickerinnen und Buchbinderinnen im Kloster gearbeitet hatten, mussten dazu ihre Klausur verlassen. Der heilige Benedikt, nach dessen im 6. Jahrhundert verfassten Regel die Nonnen leben, schrieb dazu: „Die Brüder, welche in weiter Entfernung bei der Arbeit sind, sollen das Gotteslob dort verrichten, wo sie beschäftigt sind und in Ehrfurcht vor Gott die Knie beugen.“ Genau so machten es die Schwestern dann auch. Sie beugten sich der Arbeit und beteten auf freiem Feld. Es war aber nicht die Feldarbeit allein, die das Leben im Krieg erschwerte.
Schwester Agatha erzählt von einem Winter, den sie nie vergessen hat. Frühmorgens in ihrer Zelle, noch vor den Laudes, will sie sich waschen, aber das Wasser, das immer am Abend zuvor in die Schüssel eingefüllt wird, ist über Nacht gefroren. Sie muss mit der Hand die Eisschicht einschlagen, um an das Wasser zu gelangen. Man lebt in Gemeinschaftszellen, die Betten werden durch aufgespannte Laken voneinander getrennt, es ist das Jahr 1944. Schwester Agatha erinnert sich noch genau an die Zeit, als die Nonnen ihr Kloster mit den alten Hanseatinnen teilen mussten. Mit ihr zusammen schlugen über hundert Hände in den Waschschüsseln die Eisschicht ein. Wenn Schwester Agatha erzählt, kann man ihr dabei zusehen, wie ihr Blick nach innen spazieren geht.
Was fällt Schwester Agatha noch ein?
Sie antwortet nicht.
Woher kam das Wasser?
Aus dem Brunnen.
Wo war der Brunnen?
Im Brunnenraum.
Im Klosterhof?
Nicken. Dann Schweigen, langes Schweigen.
Ihr Blick kommt langsam zurück.
Sie sitzt im Sprechzimmer des Klosters. In einem Kloster schwatzt man nicht einfach auf dem Flur oder bei einer Tasse Tee im Wohnzimmer. Alles hat seinen Platz. Das Schweigen und das Sprechen. Das Sprechen findet in einem der drei Sprechzimmer statt. Früher waren die Zimmer vergittert. Auf der einen Seite saß die Nonne und auf der anderen Seite der Besuch. Die Gitter wurden irgendwann abgeschafft. Nun sitzt man nahe beieinander und schaut sich an. Mit Schwester Agatha schaut man sich besonders lange an. Es ist ein warmes Schweigen.
„Ja, so war das damals“, sagt sie. Und einige Augenblicke später, „… mit dem fließenden Wasser“. Dann schaut man Schwester Agatha fragend an, und es passiert, was bei Schwester Agatha immer passiert – sie schaut ganz ernst, bevor sie die Pointe platzen lässt: „Wenn wir den Eimer ausschütteten, hatten wir auch fließendes Wasser!“ Ihr Kichern gluckst unter dem Habit hervor. Glockenläuten. Die Stühle im Sprechzimmer werden rasch zurechtgerückt. Die groß gewachsene Frau steht auf und geht zur Tür. Das Teewägelchen mit ihren Fotoalben und handschriftlichen Notizen, die dicken Bücher mit den Ernteerträgen aus dem Hausgarten, säuberlich aufgelistet seit den 1940er Jahren, die Notizen aus noch älterer Zeit, die Gartenpläne von vor und nach dem Krieg, lässt sie da. Hinter der Holztür, deren Eisenklinke sie hinunterdrückt, liegt der Kreuzgang. Sie dreht sich noch einmal um. Eine Umarmung, ein Lächeln, dann fällt die Tür ins Schloss.
Als der Krieg vorbei war, lebten die alten Damen aus Bremen nicht mehr im Kloster. An ihre Stelle hatten die Schwestern Flüchtlinge aus Schlesien aufgenommen. Sie werden noch ein Jahrzehnt nach Kriegsende im Kloster bleiben. Die Not war so groß, dass sogar Schwester Agathas Mutter zu ihrer Tochter ins Kloster floh. Das Versorgungsproblem blieb nach wie vor die dringendste Frage. Vor langer Zeit einmal besaßen die Schwestern siebzehn Morgen Land, die sie der Stadt Fulda zur Erweiterung eines Sportplatzes verkauften. Zwei Morgen davon ließen sie in ihrem eigenen Besitz. Man weiß ja nie, wofür es gut ist. Nun war die Stunde gekommen, in der das 5.000 Quadratmeter große Grundstück mit dem etwas opulenten Namen „St. Maria im Felde“, das von den Schwestern aber einfach „Pröbel“ genannt wurde, weil die korrekte Adresse „Am Pröbel“ hieß, bewirtschaftet werden sollte. Die Erde im Pröbel war ausgelaugt, die Schwestern versuchten trotzdem, Gemüse anzubauen. Außerdem probierten sie es noch mit Heilkräutern, um sie geerntet und getrocknet als Tee zu trinken und an die Apotheken zu verkaufen. Mit jedem Jahr erweiterten die Schwestern ihre Kenntnisse und Fähigkeiten. Es war eine mühsame Arbeit, denn wenn man das Landwirtschaften nicht gelernt und keine Hilfsmittel zur Hand hat, keine Wachstumsbeschleuniger, keine Maschinen zum Pflügen oder Jäten besitzt, keinen Wasserschlauch, kein fließendes Wasser und keinen ordentlichen Mutterboden – nicht, weil es das nicht gab, sondern weil kein Geld vorhanden war –, wenn man sich frühmorgens auf den Weg macht, mit dem Werkzeug in der Hand, denn einen Wagen gab es auch nicht, dann ist Garten-, Feld- und Wiesenarbeit anstrengend. Sie ist umso kräftezehrender, je hungriger und ausgelaugt er die Feldarbeiterin ist. Da ging es den Nonnen wie den „Leuten“. Dennoch hatte Schwester Agatha, die seit der ersten Stunde im Pröbel mitarbeitete, in ihre Gartenerinnerungskladde einen Leitspruch geschrieben, in dem von Mühsal nicht die Rede ist: „Die Frucht der Erde ist ein Geschenk Gottes an die Menschen.“
Laurentia Dombrowski. Klingt ihr Name selbst nicht schon wie eine seltene Sorte? Sie lebte bereits im Kloster, als Schwester Agatha eintrat. Schwester Laurentia und Schwester Agatha sind zwei Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie sind wie zwei Pflanzen, die sich umeinander wickelnd und windend, emporwachsen. Die eine treibt viele kleine Blüten, will mal hierhin und dahin sprießen, und die andere wächst gerade, robust und verlässlich. Bevor Schwester Laurentia ins Kloster eintrat, hieß sie mit Taufnamen Elisabeth. Anders als heute legte jede Frau bei ihrem Eintritt ins Kloster ihre Kleider und ihren Namen ab. Mit der Einkleidung bekam sie einen neuen Namen, den ihr die Äbtissin zuteilte. Neuer Name, neue Identität. Wenn man noch sehr jung ist, besteht die Möglichkeit, durch die Einflüsse, die jede Gemeinschaft hat, geformt zu werden. Doch wie legt man mit 36 Jahren, so alt war Schwester Laurentia bei ihrem Eintritt, Gewohnheiten, Eigenheiten, ja auch Schrullen ab? Die Wahrheit ist wohl, dass man bleibt, wer man ist. Deshalb kommen andere Eigenschaften zum Tragen: die Nachsicht der Mitschwestern.
Geboren wurde Elisabeth Dombrowski 1888 im böhmischen Reichenberg. Die Tochter eines promovierten Altphilologen absolvierte 1907 ihr Sprachexamen in Germanistik und Anglistik und wollte in England als Lehrerin arbeiten. 1907! Es wird nicht jeder parat haben: 1907 gab es in Deutschland für Frauen weder das Wahlrecht, noch galt für sie die Vereins- und Versammlungsfreiheit. Elisabeth indes nahm sich ihre Freiheit und ging nach England, nicht ahnend, dass das ganze Abenteuer bereits ein Jahr später enden würde. Keine Sekunde lang zögerte sie, als die Nachricht sie erreichte, dass ihre Mutter verstorben war. Sofort packte sie ihre Sachen und fuhr nach Deutschland zurück. Erst 61 Jahre später bekam sie Gelegenheit, ihr geliebtes England wieder zu sehen, da war sie schon längst Gärtnerin im Gewand einer Nonne.
Eilig reiste sie nach Böhmen zu ihrem Vater, der als Witwer sechs Kinder zu versorgen hatte. Schwester Laurentia war zwanzig Jahre alt, als sie den Haushalt mit den minderjährigen Geschwistern übernahm. Zu ihren frühesten Mädchenträumen gehörte der Wunsch nach eigenen Kindern. Zur Erstkommunion legte sie sich einen Zettel in der Bibel zurecht, auf dem sie die Namen ihrer zwölf Kinder, so viele hatte sie vor zu gebären, festhielt.
Als die Geschwister aus dem Gröbsten heraus waren, es war das Jahr 1924, packte sie einen Teil ihrer Sachen, von denen sie glaubte, dass sie ihr im Kloster nützlich sein könnten, und klopfte an die Pforte der Abtei in Fulda. Ihre Mitschwestern nannten diesen Wesenszug „zielstrebige Energie“. Offensichtlich hatte sie keine Sekunde lang daran gezweifelt, dass man sie aufnehmen würde. Während andere Menschen zum Grübeln neigen, jeden Gedanken wie Daunen in einem Kopfkissen mal in diesen Zipfel und mal in jenen Zipfel schütteln, kam Elisabeth Dombrowski und war auf der Stelle bereit, ihrem Leben eine Richtung zu geben, die nicht nach London führte. Und weil man in einem Kloster kein eigenes, sondern ein gemeinsames Leben führt, darf man jegliche Schüchternheit beiseitelegen und feierlich ausrufen: Schwester Laurentia wollte ihr Leben nach oben ausrichten und führte ihre Gemeinschaft in entgegengesetzter Richtung nach „ganz unten“ tief in die Erde hinein. Da unten warteten wahre Entdeckungen auf sie.
„Vom Gärtnern verstehe ich nichts“, wird Frau Laurentia mit neunzig Jahren in einem Brief schreiben. Wie schamlos übertrieben sie untertrieben hat! Und wie sie was vom Gärtnern verstand. Sie leitete die oberste Humus-Aufsichtsbehörde der Abtei. Ihre letzten 25 Lebensjahre, genau ab dem Moment, als sie die Chronik mit dem ausführlichen Kapitel über den Garten übersetzt, wird die hinreißende, kleine, runde Frau mit den dicken Brillengläsern auf der Kommandobrücke die Belange des Klostergartens lenken. Wie lebendig sie in den Anekdoten von Schwester Agatha und den anderen Mitschwestern erzählt wird! Schwester Laurentia, die Lorbeerumkränzte, Laurentia, die Kupplerin, Laurentia, die Vegetarierin, Rohköstlerin, Laurentia, die Briefeschreiberin, Visionärin, Pionierin, Freundin von Menschen aus fünf Kontinenten, Ratgeberin für erlauchte und illustre Persönlichkeiten, Prominenzen und Eminenzen, Theoriezentrale zur Ernährung der Weltbevölkerung, Laurentia, die Strahlenexpertin, Genossin der Regenwürmer, Pendelschwingerin und Wünschelrutenführerin, Alles-wieder-Verwerferin und Neuanfängerin, Schwester Laurentia, Benediktinerin aus Fulda. Sie kam, grub und siegte. Na gut, bleiben wir bei der Wahrheit, sie ließ graben, denn fürs Praktische hatte sie überhaupt kein Talent. Ja, vielleicht ist Schwester Laurentia weltweit die einzige Vollblutgärtnerin, die nie einen Krümel Erde unter dem Fingernagel hatte, wohl aber viel Tinte am Finger.
Schwester Agatha kann umwerfend lächeln, wenn man sie bittet, sich zu erinnern. Da ist ein klein wenig Scham im Blick, weil ihr der Blick zurück nicht immer lückenlos gelingt. Aber manchmal tut sie auch nur so, als könne sie sich nicht erinnern. Das kommt bei alten Nonnen häufiger vor. Sie haben beim Eintritt ins Kloster den Entschluss gefasst, das Vorher verschlossen vor der Öffentlichkeit in einem Winkel zu verwahren, wo auch die übrigen Gedanken, Anekdoten, Erinnerungen ihren Platz haben. Schwester Agatha wird 94 Jahre alt. Man mag ihr einen generellen Hang zur Auskunftsverweigerung nicht übelnehmen. Wer im Leben so oft Hacke und Spaten von einem Beet ins andere getragen hat, dass die Hand selbst beim Erzählen noch in gekrümmter Haltung verweilt, der darf auch mal so tun, als habe er gerade alles vergessen.
Schwester Agatha ist Gärtnerin der ersten Stunde. Den Krieg hat sie im Kloster erlebt. Erst in ihrem 93. Lebensjahr ist sie in Altersteilzeit gegangen. Ihren Nebenjob in der Hausmeisterei des Klosters hat sie mittlerweile abgegeben. Kaputte Wasserleitungen, verstopfte Regenrinnen, defekte Elektrizität in einem großen Haus mit noch größerem Grundstück zu organisieren, hat ihr bloß bis ins 92. Lebensjahr Freude gemacht. Sie mochte dann nicht mehr den dicken Schlüsselbund tragen und auf den Werkzeugschuppen hatte sie auch keine Lust mehr. Aber Gärtnerin, das bleibt man ein Leben lang. Das legt man nicht einfach ab. Das ist wie Nonne sein. Das interessiert einen fortwährend. Und wenn man sich auch nicht mehr täglich bückt und in der Erde herumgräbt, macht man doch, so oft es geht, einen Rundgang durch den Garten und hebt mal hier und mal dort mit dem Gehstock einen Strauch beiseite, um zu schauen, wie es drum herum aussieht.
Schwester Agatha war über sechzig Jahre lang Chefgärtnerin des Klosters in Fulda. Sie hat Obst, Gemüse, Kräuter und Blumen gepflanzt. Sie hat gegossen, sie hat gedüngt, sie hat unzählige Male abends in den Sternenhimmel und morgens in die Wolken geguckt und den Tagesplan für die Beete entworfen. Dabei hat sie auch die Gestirne einberechnet, und wenn der Mond im richtigen Winkel zur Sonne zwinkerte, war es stets Schwester Agatha gewesen, die der Feldgarde Anweisungen zum Säen, Hacken oder Ernten gab, während Schwester Laurentia Gartentheoretikerin blieb.
Seit dem Jahre 1936 hat Schwester Agatha so manche Währung, manche Äbtissin und manche neumodische Züchtung miterlebt. Sie hat beobachtet, wie sich ihr Kloster wandelte, wie die eine Regel außer Kraft gesetzt und an einer anderen umso mehr festgehalten wurde. Als sie eintrat, war sie zwanzig Jahre alt. Man betete die Stundengebete noch in lateinischer Sprache. Die Nonnenschaft wurde in Chorfrauen und Laienschwestern unterteilt. Jene Mädchen, die eine höhere Schulbildung mitbrachten und über Lateinkenntnisse verfügten, durften im lateinischen Chor beten. Nur bei der Arbeit wurden alle Unterschiede aufgehoben. Die Schwestern wurden für Tätigkeiten in Werkstätten, Waschhaus, Küche, Ställen, Gärten und Landwirtschaft eingesetzt. Die Ernährung von mehreren Dutzend Nonnen erlaubte keine Unterscheidung zwischen gebildet und weniger gebildet. Da es sich bei den Benediktinerinnen um einen Orden handelt, zu dessen Grundpflichten das Beten und das Arbeiten gehört, ging das mit dem Arbeiten schon in Ordnung, auch wenn sich manche Schwester sicher eine einfachere Tätigkeit gewünscht hätte. Schwester Agatha ist im Nachhinein sehr froh, dass man sie in den Garten schickte. Sie hätte natürlich auch etwas anderes gearbeitet, denn als Benediktinerin nimmt man, was einem von der Äbtissin zugewiesen wird. Irgendwann wurde auch die Unterscheidung zwischen Chorfrauen und Laienschwestern abgeschafft. Die Stundengebete reduzierten sich auf fünf feste Gebetszeiten, und noch später wurden sie mit allen Schwestern gemeinsam auf Deutsch gebetet. Alles ändert sich, alles ist im Fluss. Gurken wachsen und werden gegessen, manche Neuerung wird eingeführt und gegen manche Krankheit ist immer noch kein Kraut gewachsen. So meint Schwester Agatha, dass erst wieder Birnbäume gepflanzt werden sollen, wenn es ordentliche Züchtungen gibt, die resistent gegen Gitterrost sind. Nicht alles, was neu ist, wächst gut. Und längst nicht alles, was schnell wächst, ist gut. Doch bevor Zeit und Geld vorhanden waren, sich Gedanken um Birnen zu machen, geschah noch allerhand. Und keine der Schwestern hielt es für möglich, dass sich die Plackerei mit den Pferden und die Arbeit im Pröbel lohnen würde. Es ging ihnen erst einmal ums Überleben. Einfach nur essen.
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Schwester Laurentia bat Mutter Maura um ein Gespräch. Als Nonne wendet man sich in allen Belangen an den Chef des Hauses. Das gilt umso mehr, wenn man Beziehungen nach draußen knüpfen will. In einem Gespräch erzählte Schwester Laurentia der Äbtissin, welch phänomenale Entdeckung sie während ihrer Übersetzungsarbeit gemacht hatte und fragte um Erlaubnis, die Abtei Stanbrook um eine kleine Menge des sagenhaften „Quick-Return-Powders“ bitten zu dürfen. Dies war besonders delikat, weil das Kloster über keine Zahlungsmöglichkeiten im Ausland verfügte. Schwester Laurentia musste das Kräuterpulver als milde Gabe erbitten. Das Pülverchen kam, doch leider war die Beschreibung für die Anwendung so knapp gehalten, dass Frau Laurentia erneut zur Äbtissin musste. Sie hatte bereits in Erfahrung gebracht, dass die Kräuterpulvererfinderin eine kleine Broschüre zum Bau von Komposthaufen veröffentlicht hatte. Diese Schrift wollte sie besorgen. Denn die Nonnen hatten nicht nur Wissenslücken in Gartenbau und Pflanzenpflege. Sie wussten auch nicht, wie ein Kompost gebaut wurde. Woraus besteht er? Was bewirkt Humus? Was ist so wichtig daran, dass man dem Garten Erde, gewonnen aus Pflanzenabfällen, zurückgibt?
Schwester Laurentia bekam erneut Erlaubnis, sich an das Kloster in Stanbrook wenden zu dürfen, doch dachte sie nicht im Traum daran, die Beschreibung abzuwarten. Das, wie Schwester Laurentia es nannte, „gütigst gesandte“ Pulver wollte sie auf der Stelle ausprobieren. Pardon, ausprobieren lassen. Sie organisierte sich die Reste des Weihetagschmucks aus der Kirche und dirigierte den ersten Turbo-Komposthaufen nach der Methode Bruce, oder so wie sie dachte, dass Miss Bruce es gemeint haben könnte, die Broschüre war ja noch nicht da. Bislang kannte sie nur die Beschreibungen der Stanbrooker Gärtnerinnen, die genau wie sie lediglich Anwenderinnen waren. An einem Freitag, dem 25. Mai 1951, wurde der erste Komposthaufen der Abtei Fulda gebaut und sorgfältig abgedeckt. Wenn man in jenen Tagen auch nicht besonders viel Zeit hatte, sich alles zu notieren, so kann man sich getrost darauf verlassen, dass besondere Augenblicke genauestens vermerkt wurden. Dieser Augenblick war für Schwester Laurentia einer Notiz absolut würdig! Täglich ging sie an ihrem eingewickelten Komposthaufen vorbei und beschloss nach fünf Wochen, ebenfalls an einem Freitag, den Komposthaufen, nach vorhergehender Untersuchung – mit dem Gehstock hineinpiksen, Hand hineinstecken, Krümeligkeit ertasten – öffnen zu lassen. Herrliche Erde kam zum Vorschein. Es hatte tatsächlich geklappt! „Alle, die etwas von Gartenerde verstehen, waren entzückt“, wird stolz für nachfolgende Generationen von Nonnen schriftlich festgehalten.
Mittlerweile war die Broschüre über Umwege aus England angekommen und von Schwester Laurentia übersetzt. Das war eine ihrer leichteren Übungen. In der Anleitung stand das Rezept zur Zubereitung des Aktivators. Das war weitaus schwieriger. Unter den vielen Nonnen, die während und nach dem Krieg eintraten, war glücklicherweise auch eine Apothekerin. Schwester Syntyche wurde als Offizialin beauftragt, sich mit der Herstellung des Kräuterpulvers zu befassen. Doch zuvor mussten die Kräuter gesammelt und getrocknet werden. In das Pulver gehören fünf Unkräuter: wilde Kamille, Löwenzahn, Baldrian, Schafgarbe und Brennnessel.
Angebaut haben die Schwestern diese Kräuter nicht – wer will schon freiwillig Löwenzahn im Garten haben? Wenn man ihn vor dem Aussamen nicht rechtzeitig entfernt, hat man bald darauf eine Monokultur, da der Löwenzahn kein besonders gesellschaftsfähiges Kraut ist; kein Teamplayer, würde man es modern ausdrücken. Die Gartenschwestern wussten nicht viel, aber das wussten selbst sie. Löwenzahn beherbergt man besser nicht im eigenen Garten.
Um ein Kraut zu sammeln, muss man es kennen. Also müssen Bilder her, vielleicht Zeichnungen, dann gilt es herauszufinden, in welchen Monaten das Pflänzchen wächst, denn je nach Lage und Wetter kommen die Kräuter mal früher und mal später. Dann werden die Kräuter geerntet, erst die Blüten, am besten bei Sonnenschein und nicht bei Regen, und später Blatt und Stängel, und zwar immer vormittags, weil die Pflanzenstoffe dann am dichtesten konzentriert sind und die Stängelchen noch prall, und um es besonders kompliziert zu machen, niemals bei direkter Mittagssonne. Schwester Laurentia gab Anweisung zu sammeln. Also, keine Zeit verlieren, Getreidesäen, los geht’s!
Die Schwestern zogen hinaus und sammelten an Wegrändern, in Wiesen, auf Lichtungen. Noch Jahrzehnte später werden sich Fuldaer Bürger an dieses Bild erinnern: weiße Schleier, blaue Schürzen, so beugten sich die Fuldaer Nonnen über die Felder. Ihre Schürzen falteten sie zu Bauchläden, aus denen gelbe Löwenzahnblüten herausleuchteten oder weiße Schafgarbenbüschel, deren weiße Dolden an Zauberstäbe mit Sternenstaub erinnerten. Immer sammelten, beugten und liefen sie in Gruppen. Schweigend, denn Benediktinerinnen reden nur, wenn es nicht zu vermeiden ist. In der Mönchsregel des Heiligen Benedikt ist das Gespräch streng geregelt: „Albernheiten aber, müßiges und zum Gelächter reizendes Geschwätz“ ist verbannenswert. In Schwester Agathas Fotoalben sieht man zwar keine plappernden Münder, doch nach stundenlangem Schweigen sehen die fröhlichen Gesichter auch nicht aus.
In Miss Bruce’s Anleitung stand, dass man zum Trocknen der Kräuter den Backofen verwenden könne. Die offizielle Teeboden-Beauftragte, Schwester Pia, verwendete als Backofen den Dachboden des Klosters, der noch heute als Teeboden genutzt wird. Trocknen will gelernt sein, denn wenn man die Kräuter nicht regelmäßig wendet, schimmeln sie. Wenn man sie zu häufig und zu früh anfasst, quetscht man ihren Saft heraus. Gut getrocknet ist, wenn alle Kräuter ihre leuchtenden Farben behalten und ihr frisches Aroma. Wer einmal einen handelsüblichen Teebeutel mit einem beliebigen Kraut geöffnet hat, wird feststellen, dass das zerbröselte Innere grau und staubig ist. So darf ein getrocknetes Kraut niemals aussehen. Vom Teeboden der Abtei kommen stets sattfarbene und duftende Kräuter. Nun folgt die nächste Prozedur, die Pulverisierung. Die getrockneten Kräuter wandern zu Schwester Syntyche und müssen zerkrümelt werden. Das geht bis zu einem bestimmten Grad mit den Fingern, die Feinarbeit muss mit einem Porzellanmörser geschehen. Alle Kräuter müssen getrennt voneinander pulverisiert und durch ein Sieb gerieben werden, damit die harten Teile zurückbleiben. Anschließend kommt Zutat Nummer sechs, desinfizierende Eichenrinde, hinzu, aber nur die äußerste Schicht des Stammes. Außerdem Honig und Milchzucker, die später dafür sorgen, dass der Kompost heiß und damit der Zersetzungsprozess beschleunigt wird. Miss Bruce hatte die Zubereitung wirklich gut beschrieben. Mit pulverisiertem Milchzucker, in den zuvor Honig eingerührt wurde, sollten die Kräuter zu einem Pulver verarbeitet werden.
Um den Honig in jeweils eine Portion Milchzucker einzuarbeiten, muss eine Stunde lang im Mörser gerührt werden. Wird weniger als eine Stunde gerührt, bleiben Klümpchen. Ist das Pulver erst einmal verklebt, kann man es nicht mehr gleichmäßig durchmischen. Dann erst wird von jeder Zutat ein gleicher Teil genommen und miteinander vermengt. Am besten nimmt man für diese Tätigkeit einen Menschen mit einer angeborenen Leidenschaft fürs Mörsern. Denn das Wort „mörsern“ taucht oft auf. Mörsern, mörsern, mörsern. Wenn alles fertig ist, kommt der Kompostbeschleuniger in ein Schraubglas. Das ist sehr wichtig. Denn sonst wird das Pulver feucht und alle Arbeit war vergeblich. Außerdem ist fraglich, ob man so schnell eine neue leidenschaftliche Mörserin finden wird, denn die vorherige muss sich sicher etwas ausruhen.
Man weiß nicht, wie Schwester Laurentia es schaffte, ihre Mitschwestern zu motivieren, gemeinsam mit ihr dieses Experiment zu wagen. Keineswegs war jede von ihren Ideen begeistert und vertraute mit gleicher Inbrunst auf Miss Bruce’s Forschungsergebnisse. Als Kamille gesammelt wurde und die Schwestern riesige Mengen dieses Krautes mitbrachten, weigerte sich Gartenmeisterin Schwester Bonifatia, die Kamillenreste in den Kompost zu schichten, aus Sorge, dass sie sich später durch die Komposterde, die man im Garten untergrub, unkrautartig verbreiten würden. Dabei stand doch ausdrücklich bei Miss Bruce, dass durch die Erhitzungsprozesse die Keimfähigkeit der Samen verloren ginge. Es blieb dabei, Schwester Bonifatia weigerte sich. Was tun? Schwester Laurentia ging, sie war es ja nun gewohnt, erneut zur Äbtissin und bat um Erlaubnis, die Anweisung der Gartenmeisterin nicht befolgen und Beweise für die These sammeln zu dürfen, dass Kamille unbedingt gemeinsam mit anderen Pflanzenresten in den Komposthaufen geschichtet werden kann und keinesfalls den Garten ruinieren werde. Die Äbtissin konnte oder wollte sich dem Enthusiasmus der Nonne nicht in den Weg stellen. Schwester Laurentia machte das, was Politiker in solchen Fällen auch machen würden, sie suchte sich Verbündete und bekam Schwester Walburg zur Seite. Schwester Laurentia fasste ja nach wie vor keinen Spaten an. Sie machte ihre Kompostassistentin auf alte, vom Schwamm befallene Fußbodenplatten aufmerksam, die aus der Schnitzerei übriggeblieben waren. Diese Bretter baute Schwester Walburg zu Kisten zusammen und fing an, den Komposthaufen darin aufzuschichten. Von diesem Moment an war Schwester Laurentia Kompostbeauftragte und Schwester Walburg stand ihr als treue Seele und Gefährtin bei.
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Den Sommer verbrachten die Schwestern mit Kräutersammeln. Schwester Agatha hatte in beiden Gärten, dem Klostergarten und dem Pröbelgarten, zu tun. Die Wiese am Pröbel musste von Hand umgepflügt werden, was eine entsetzliche Strapaze war. Glücklicherweise gab es viele Schwestern. Ein Gruppenfoto zeigt die „Feldgarde“. Dieser Begriff schlich sich in den Sprachgebrauch der Nonnen für die Frauen auf den Feldern ein. Sie bestand aus 24 Arbeiterinnen, von denen die Mehrzahl Novizinnen waren. Aus dem Gartenplan von 1952, im Frühjahr nach dem ersten Komposthaufen, geht hervor, dass der Kräutergarten wie folgt aufgebaut war: fünfundzwanzig Beete Pfefferminze, fünf Beete Thymian, je zwei Beete Melisse, Salbei, Wermut, Baldrian, Kümmel und drei Beete Eibisch. Außerdem Pimpinelle, Liebstöckel und Dill. Dazwischen, denn es war ein Frauengarten und kein von Männern bewirtschaftetes Grundstück, Blumen. Malven, Ringelblumen, Veilchen, Primeln, Gundermann, Marienblümchen. Schwester Agatha teilte den Garten in sechs gleich große Teile. Zwei Teile Kräuter- und Blumengarten, die übrige, große Fläche war für den Gemüseanbau vorgesehen. Daran sieht man, dass die Schwestern, wahrscheinlich der Einfachheit halber und weil sie es aus den Gärten ihrer Kindheit nicht anders kannten, Gemüse und Kräuter getrennt voneinander pflanzten. Um den Garten vor West- und Nordwind zu schützen, legten sie eine Weißdornhecke an.
Warum so große Beete voller Gemüse angebaut wurden, ist nachvollziehbar. Gemüse ist ein sättigendes Grundnahrungsmittel. Gemüse kann man essen, als Vorrat einlegen oder verkaufen. Doch was passierte mit den vielen Kräutern? Kräuter haben zwar eine gesundheitsfördernde Wirkung, aber von Kräutertee wird man nicht satt. Die Erklärung dafür ist, dass nicht nur Schwester Laurentia Verantwortung für ihre Gemeinschaft übernahm. Zeitgleich mit Schwester Laurentias Entdeckung des Kompostmittels, versuchte auch Schwester Syntyche ihre Talente als Apothekerin für die Einnahmen des Klosters zu nutzen. Es soll nicht verschwiegen werden, dass Schwester Syntyche als studierte und approbierte Pharmazeutin der Idee eines homöopathischen Kompostmittels sehr skeptisch gegenüberstand. Als Apothekerin musste man sie sicher nicht von der Heilkraft der Pflanzen auf den Menschen überzeugen, aber Heilkraft für den Boden? Schwester Syntyche ging mit Überzeugung ihren eigenen Weg. Zwar hatte die Abtei mittlerweile auch Kontakt zu einer Apotheke, an die sie die Kräuter verkaufte, doch meinte die umsichtige Nonne, dass es für die Kommunität unternehmerisch sinnvoller wäre, mehrere Standbeine zu haben.
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Bereits 1949 begann die dreißigjährige Schwester Syntyche Kräuterlikörproben herzustellen. Die Idee war, das Vorhandene haltbar zu machen. Sie fand in der Klosterbibliothek alte Likörrezepte, auch solche mit Pfefferminze, was sehr von Vorteil war, denn wenn es etwas in den Nachkriegsjahren im Kloster in Hülle und Fülle gab, dann war das die heimische Minze. Neben dem Pfefferminzlikör probierte sie ein Rezept auf der Basis verschiedener Kräuter namens Philanthrop aus, also „der die Menschen liebt“. Sie versuchte auch das Rezept für Sturmius, benannt nach dem ersten Fuldaer Abt im 8. Jahrhundert. Das Rezept wird wohl kaum aus dieser Zeit stammen, denn die ersten Liköre wurden bekanntlich erst im 14. Jahrhundert in Frankreich hergestellt. Würde Schwester Syntyche noch leben, könnte sie selber Auskunft darüber geben, unter welchem Bücherstapel in der Bibliothek sie die Rezepturen fand und ob der Winkel arg verstaubt und mit Spinnweben umhangen war. Die Quelle eines anderen Textes hingegen ist bestens bekannt: „O, große Kräfte sind’s, weiß man sie recht zu pflegen, die Pflanzen, Kräuter, Stein’, in ihrem Innern hegen.“ Das Zitat aus Shakespeares Romeo und Julia steht auf der ersten Seite eines Albums, das Fotos und Texte über die Klosterapotheke beinhaltet und von den Schwestern für ihr Archiv angelegt wurde. Ist es nicht erstaunlich, dass ein weltliches Zitat als Leitspruch im Erinnerungsbuch einer Nonne steht und nicht etwa ein biblisches? Wenn man bedenkt, dass die allzu weltlichen Probleme, vor denen das Kloster damals stand, nicht göttlich verschuldet waren, dann ist es vielleicht doch nicht mehr verwunderlich, dass Ordensfrauen zur Erbauung ein Geleitwort aus einem Liebesdrama wählten.
An Liebe zu den Menschen, zu Gott und zur Natur mangelte es im Kloster nicht. Ansonsten war doch alles sehr entmutigend. Nun auch noch Likör herstellen, der in der Produktion aufwändig und teuer ist? Die Schwestern formulierten es einmal so: „Warum das? Die Frage ist uns oft gestellt worden, auch später noch. Die wohltuende und heilende Kraft der Kräuter soll ausgenützt werden, das ist gut und recht. Warum im Kloster Likörfabrikation? Die Not war es eben, die uns veranlasste. Mit der Währungsreform waren wir arm geworden. Jede Rücklage war dahin. Kirche und Haus wiesen erhebliche Bombenschäden auf. Unbezahlte Rechnungen häuften sich in erschreckendem Maße, laufende Einnahmen fehlten. Darlehen? Spenden? Woher? So kamen wir dazu. Es war ein Versuch.“
Doch bevor auch Schwester Syntyche einen Anfang wagen konnte, benötigte sie die Erlaubnis ihrer Oberin, um Likör herzustellen und zunächst über Verwandte, Freunde und Bekannte zu vertreiben. Sie ging zur Cellerarin, wie im Kloster die Finanzministerin genannt wird, und erbat sich ein Startkapital. Denn die Bitten um Spenden bei vermögenden Persönlichkeiten sowie kirchlichen und anderen Stellen waren erfolglos geblieben. Schwester Syntyche bekam von der Cellerarin einen Zettel, auf dem der Spruch stand: „Gib uns, o Kyrios, einen guten Beginn, damit wir dich nach Vollendung preisen.“ Die Schwestern halten schriftlich fest: „Das Wort des Makarius stand über diesem Beginnen. Wir lesen es heute noch in der ersten ,Kasse‘ der Offizin, einem einfachen Holznähkasten, wie ihn unsere Mütter hatten. Frau Cellerarin stiftete ihn mit einem Bestand von DM 2,–. Das war das Barvermögen des Unternehmens.“
Mit den erprobten drei Rezepten sollte es losgehen. Doch ob Sturmius, Philanthrop und Aretos geeignete Namen waren? Die Likörmeisterin entschied sich dagegen und beriet sich mit den anderen Schwestern, die sie ermutigten, die Liköre einfach danach zu benennen, was sie waren: Fuldaer Magenlikör, Fuldaer Klosterlikör und Fuldaer Pfefferminzlikör. Kurze Bilanz. Vorhanden waren: Idee, Likörbezeichnungen, funktionierende Rezepturen, 2 Mark in einer hübschen Holzschatulle. Es fehlten: Zucker, Lagerfässer, Flaschen, Etiketten und die staatliche Erlaubnis, Alkohol beziehen zu dürfen.
Schwester Syntyche ließ sich nicht beirren. Alle Schwestern wurden angehalten, darüber nachzudenken, wen man um Startkapital bitten könnte. Der Direktor einer Fabrik stellte Kontakt zu einem Bankdirektor her, mit dem er gute Erfahrungen gemacht hatte. Schwester Syntyche erzählte von ihrem Konzept und bekam fünftausend Mark. Noch einmal halb so viel wurden von befreundeter Seite geliehen, und eine geheime, aber nicht unwesentliche Summe kam durch Vermittlung des Herrn Metzgermeisters Schultheiß zustande, der von einer Flüchtlingsfrau wusste, die ihr Geld nicht einfach auf die Bank tragen wollte. Sie kam zu dem Schluss, dass ihre Rücklagen im Klosterlikör gewiss am besten angelegt wären. Die erste Anschaffung war ein Bilanzjournal. Eine Spalte Einnahmen, die andere Spalte dokumentierte die Ausgaben. Nach und nach fügte sich alles. Äbtissin Maura, mittlerweile daran gewöhnt, dass ihre Mitschwestern einen nicht zu bremsenden Elan an den Tag legten, fuhr höchstpersönlich nach Frankfurt, um einen Bezugsschein zu besorgen, um damit Zucker beim Großhändler einkaufen zu dürfen. Ein Bezugsschein für Branntwein lag bereits vor. Eine Quelle für ein gebrauchtes Likörfass tat sich ebenfalls auf, und so trug jede Schwester mit einem Rat zum gewagten Unternehmen bei, um möglichst schnell mit der Produktion beginnen zu können. Ja, selbst Steuersparmodelle brachten die Nonnen in Erfahrung. Der zuständige Beamte ließ sich von den Nonnen darüber unterrichten, dass es im Gesetz eine Steuerstundungspassage gäbe, welche exakt auf die Situation der Abtei zuträfe, woraufhin der Beamte die Augen staunend aufriss: „Sie sind aber gut orientiert!“
Die Cellerarin war sich nicht zu schade, mit einer Mitschwester per Anhalter durch die Gegend zu fahren. Sie landeten in einer oberpfälzischen Glashütte: Fünfhundert Flaschen waren bestellt und sollten bald geliefert werden. Ein Schritt nach dem nächsten, nicht verzagen, immer weiter wagen. Flaschenkorken und Kapseln, so hieß es, gäbe es in Mainz, Kapseln für Krüge in München, Flaschenseide in Würzburg, die Bastgeflechte mussten nicht gekauft werden, die Nonnen beschlossen, sie im Kloster von Hand anzufertigen. Etiketten gestaltete die Hauskünstlerin, Schwester Lioba Munz, zunächst jedes einzeln von Hand. Das Zentrum der Likörproduktion war der Destillierapparat, ein wackeliger, selbst gebauter Topf, der in der Einmachküche auf dem Herd stand und in dem es gewaltig brodelte.
Es galt, wie bei allen großen Ereignissen, ein offizielles Datum als Anfangspunkt zu markieren. Man bestimmte den 15. September 1951 als Likörproduktionsgeburtstag, denn, so viel verstanden die Schwestern mittlerweile vom Spirituosengeschäft, die Saison beginnt stets im Herbst. Vier Monate nach dem ersten im Klostergarten gebauten Komposthaufen nach Miss Bruce’s Methode wurde bereits Likör hergestellt. Es blieb zu hoffen, dass die Kompostgeschichte ein gutes Ende nehmen würde, denn alles hing mit allem zusammen. Wenn es guten Boden gab, gab es viele und gute Kräuter, aus denen man Likör herstellen und verkaufen, und davon Schulden abbezahlen konnte. Für Zweifel und Bedenken blieb keine Zeit. Das Marketing musste angekurbelt werden. Schwester Irene stellte sich dabei als talentierte Werbefachfrau heraus. Ihre Strategie war einfach, aber wirksam. Alle Schwestern bekamen Papier und Stift in der Rekreation, so nennt man die gemeinsame Erholungszeit im Kloster zwischen Vesper und Komplet. Schwester Irene bat alle Nonnen darum, ihren Verwandten und Freunden zu schreiben und Interesse am Likör zu wecken. Wie sie das machten, blieb dem Geschick jeder einzelnen Werberin überlassen. Eine kleine, mit Schreibmaschine getippte Preisliste und Bestellkarte wurden jedem Brief beigelegt.
Die ersten Bestellungen kamen. Die Schwestern hatten an alles gedacht, nur nicht an Packmaterial. Wieder ging es nach der bewährten Methode. Wägelchen in die Hand und Ausschau halten. In den Fuldaer Geschäften wurden die Nonnen fündig. Die Ladenbesitzer waren froh, dass man ihnen die Holzwolle und Kartons abnahm, denn so mussten sie sich nicht um die Entsorgung kümmern. Bald mussten die Nonnen auch nicht mehr selbst in die Geschäfte, weil die Ladenbesitzer das Packmaterial vor das Tor der Abtei stellten. „Gib uns, o Kyrios, einen guten Beginn, damit wir nach Vollendung Dich preisen“, so stand es auf dem Zettel in Schwester Syntyches Nähkästchen. War es nun das Verdienst des Kyrios oder das seiner fleißigen Dienerinnen, dass es, man darf im Rahmen gebotener klösterlicher Bescheidenheit ruhig etwas prahlen, von Anfang an wie geschmiert lief?
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Die Aufgabenbereiche im Kloster verteilten sich, es entstand eine Struktur. Schwester Agatha kam zur Feldgarde, um Kräuter und Gemüse anzubauen. Schwester Laurentia wurde Kompostmeisterin, Schwester Walburg ihre Assistentin, Schwester Bonifatia bekam einen Teil des Pröbelgartens und den hauseigenen Klostergarten zur Aufsicht, Schwester Syntyche betrieb die Apotheke und wachte über den Likör, Schwester Pia arbeitete auf dem Teeboden. Das waren die festen Arbeitsbereiche, doch natürlich half man sich gegenseitig aus. Oft brauchte die Küchenmeisterin helfende Hände, und sei es nur, dass in der Gemüseküche, wenn Erntezeit war, Gemüse und Obst geschält und geschnitten werden mussten. Es mussten auch die Hühner auf dem Klosterhof gefüttert werden. Die Wäsche gewaschen, die Klosterpforte bedient, Wasser geholt werden. Und sowieso war die wichtigste Aufgabe, den religiösen Pflichten nachzukommen. Irgendjemand musste die Gottesdienste in der Kirche vorbereiten, denn Benediktinerinnen sind im ersten Beruf Nonne und im zweiten Arbeiterin. Ora et labora. Bete und arbeite. Es ist sicher kein Sakrileg, wenn man berichtet, dass die Nachkriegsjahre durch zahlreiche Versuche geprägt waren, das Klosterleben neu zu organisieren. Beten und ausprobieren, beten und wagen, beten und nicht verzagen, das alles geht einem durch den Kopf, wenn man die Augen schließt und sich das damalige Treiben an einem ganz gewöhnlichen Vormittag im Kloster vorstellt.
Da ist Not, sicher, doch da ist auch viel Jugendlichkeit, Elan und Energie. Da sind Blumen und Bäume, da ist ein, wenn auch marodes, aber immerhin doch eigenes Dach über dem Kopf. Es gackert das Federvieh auf dem Hof und immer passiert etwas, mit dem man nicht gerechnet hat, und das man sich noch Jahrzehnte später erzählen wird. Zum Beispiel Lotte. Niemand erinnert sich genau, aber eines Tages kam eine der Nonnen von ihren Besorgungen aus der Stadt mit einem Pferd zurück. Ja, wo kommt denn das Pferd auf einmal her? Sie hatte es als Geschenk von einem Fuldaer Bürger bekommen. Wollte der Spender seiner Fürbitte damit etwas mehr Nachdruck verleihen? Lotte jedenfalls kam in den Hof und langweilte sich. Statt, wie es sich für ordentliche Gäste gehörte, erst einmal gutes Benehmen an den Tag zu legen, ging sie mal eben auf einen Spaziergang durch die Wirtschaftsräume. Ja genau, durch die Wirtschaftsräume, und kam mit einem Fensterrahmen um den Hals zurück, und wieherte empört, wo doch Scham angebrachter gewesen wäre. Natürlich hatte sich Lotte für dieses Missgeschick eines der wenigen Fenster mit intaktem Glas ausgesucht.
Ein Kloster ist ein verlässlicher Ort. Hier läuten die Glocken, und immer bröckelt irgendwo eine Mauer oder verstopft eine Regenrinne, aber so wie das Pendel einer soliden Standuhr verlässlich hin und her schwingt, so kann man sich darauf verlassen, dass pünktlich zum Gebet die Schwestern ihre Arbeitskleidung gewechselt haben und in der Kirchenbank ihren Gesang anstimmen.
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Schwester Laurentia saß erneut über einer Übersetzung. Dieses Mal war es das Buch von Miss Maye E. Bruce, Common Sense Compost Making, das 1946 im englischen Verlag Faber and Faber veröffentlicht wurde und bereits 1950 die fünfte Auflage erreichte. Schwester Laurentia bemühte sich, über Beziehungen den Band zu erhalten – und bekam ihn. Der Londoner Verlag war nicht etwa irgendein Nischenverlagshaus, sondern verlegte neben renommierter Gartenliteratur von Lawrence D. Hills bis Vita Sackville-West auch große Literatur wie W.H. Auden, Ezra Pound, Sylvia Plath oder James Joyce. Gartenkultur, die wie in England keine Grenze zwischen Praxis, Theorie und Kulturwissenschaft zog, war im damaligen Deutschland nahezu unbekannt. Der deutschsprachige Gartenliteraturmarkt unterschied zwischen Büchern über Landschaftsarchitektur und Publikationen aus Landwirtschaftsverlagen, die, wie es der Name sagt, den wirtschaftlichen Aspekt der Agrarkultur in den Vordergrund stellten und von Ertragssteigerung handelten, aber nicht über Ökologie reflektieren. Umweltschutz oder alternative Agrarmethoden, die mit der anthroposophischen Kultur entstanden, landeten in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen in der esoterischen Ecke, wo sie noch Jahrzehnte später haferflockenverstaubt schlummerten. Seriöse Aufsätze über den Zusammenhang zwischen Anbaumethoden, Ernährung, Umweltschutz und Gesundheit waren eine absolute Rarität, und so war für Schwester Laurentia das Kompostbuch von Miss Bruce eine Erleuchtung. Umso mehr, als Schwester Laurentia viele Jahre die Krankenstation betreut und seitdem viel über den Zusammenhang zwischen Gesundheit und Ernährung nachgedacht hatte. Dass die Anbaumethode der Grundnahrungsmittel eine wichtige Rolle spielt, war im Nachkriegsdeutschland, wo man sich in erster Linie satt essen wollte, nur relevant im Sinne von „viel und schnell ernten“ und nicht im Sinne von „Bodengesundheit“, wie es Anfang der 1950er Jahre im deutschen Sprachgebrauch der ökologischen Reformbewegung hieß. Kunstdünger waren die Zaubermittel der Zeit. Doch selbst wenn Schwester Laurentia Kunstdünger hätte haben wollen, das Geld hätte nie gereicht, um ihn in ausreichender Menge für die zu bewirtschaftenden Flächen zu kaufen. Aber sie wollte das ohnehin nicht und beschloss, alles dafür zu tun, dass der Boden im Klostergarten und im Pröbel niemals den Hauch eines Chemiekörnchens einatmete. Es handelte sich um bloße Intuition und war keine durch praktische Erfahrung geformte Auffassung. Einige Mitschwestern äußerten große Bedenken und hielten das Ganze für eine spinnerte Utopie, Fiktion und Fabelkram.
Das Pulver wurde weiterhin in einer geringen Menge hergestellt und in kleine Tütchen abgefüllt. Schwester Laurentia wollte ihre Entdeckung keineswegs für sich behalten. Diese, der kollektiven Idee verbundene Einstellung verband sie mit Miss Bruce. Auf die Tütchen ließ sie schreiben: Schnellkompostpulver für 2 cbm Frischkompost DM 1,50. Außerdem verfasste sie Werbeblätter:
„An alle Garten- und Gutsbesitzer!
Wem das Wachstum seines Gemüses und Obstes, das Ausmerzen von dessen Krankheiten, wem das Leuchten und Duften seiner Blumen am Herzen liegt, der arbeite mit dem hochwertigen Humus, den unser Pflanzenpulver in der warmen Jahreszeit in mindestens vier Wochen, in der kalten in längstens einem halben Jahr heranzureifen imstande ist.“
Oder die etwas weniger poetische Variante für Zweifler:
„Kompost in wenigen Wochen in Humus verwandelt. Vielleicht scheint Ihnen diese Verheißung fragwürdig. Doch bitten wir: Urteilen Sie erst nach einem Versuch.“
Und hier, mit knallharter Botschaft:
„Förster haben bei verhältnismäßig jungem Wild, das auf Wiesen und Feldern, die mit Kunstdünger bestreut wurden, äste, lose Zähne, ja Zahnausfall festgestellt. Und sollte die jetzt so häufig bei jungen Menschen auftretende Parodontose nicht auf die gleiche Ursache zurückzuführen sein?“
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Die Werbeblättchen wurden an andere Benediktinerabteien versendet. Niemand antwortete. Das ist nicht schwer nachzuvollziehen, denn in der Landwirtschaft wurde mit Tiermist gedüngt. Die Menschen haben das so gelernt, es ist eine uralte Tradition. Im 1. Buch Mose heißt es, dass die Tiere des Feldes und die Vögel aus dem Erdboden gebildet wurden. Organismen sorgen für die Zersetzung des Bodens, man kennt das aus dem Wald. Das sind Prozesse, die Jahre andauern. Und wer dieses Prinzip der Natur nachbauen will, macht die Erfahrung, dass eine Kompostmiete nach gängiger Vorgehensweise drei Jahre dauert, bis etwas Erdähnliches herauskommt, das noch gesiebt und kompliziert bearbeitet werden muss. Da kriegt man nun einen Werbezettel für Pflanzenpulver, das in vier Wochen Humus zaubert – so selbstbewusst wirbt noch nicht einmal die chemische Industrie!
Große Überraschung, es meldet sich aus der Abtei St. Joseph in Gerleve im Dezember 1951 ein gewisser Pater Augustin, der bereits anthroposophische Versuche zur Bodenbereitung im Konzentrationslager Dachau, das er überlebte, durchgeführt hatte. Versuche im Konzentrationslager? Allein das wäre eine eigene, lange Geschichte wert, weshalb dem lieben Pater in dieser Geschichte, die ja die Gartengeschichte der Nonnen ist, nur ein kurzer Auftritt vergönnt sei. Pater Augustin meldete sich, und Schwester Laurentia dachte: ein Bruder im Geiste! Sie wollte, nein, sie musste zu ihm. Nicht irgendwann, nicht bald, sondern sofort. Noch mitten im kalten Winter, Ende Januar, fuhren die Äbtissin und ihre Ökobeauftragte Laurentia in einer beschwerlichen Tagesreise nach Gerleve bei Billerbeck. Sie blieben zwei Nächte. Da hatten sich zwei Naturliebhaber gefunden! Schwester Laurentia erklärte das Prinzip der Methode Bruce: Möglichst frische grüne Pflanzenteile müssen mit anderen Pflanzenteilen gemischt, feuchtes mit trockenem Material aufgeschichtet werden, dann wird das Pulver in einem Liter Regenwasser aufgelöst und einen Tag stehen gelassen. Der Komposthaufen wird mit der Lösung geimpft oder, um es in der Fachsprache auszudrücken, aktiviert. Bereits nach drei Tagen erhitzt sich der sorgfältig abgedeckte Kompost und kann eine Temperatur bis zu 60° Celsius erreichen. Schade, dass man das Gespräch nicht detaillierter kennt. Vielleicht hat Pater Augustin gesagt: „Donnerwetter, sechzig Grad!“ Vielleicht hat Schwester Laurentia geantwortet: „So ist es, lieber Freund!“ Durch die beachtliche Hitze werden schädliche Keime getötet und das Pflanzenmaterial beginnt sich zu zersetzen. Klingt hochwissenschaftlich, aber auch kinderleicht. Pater Augustin: „Alle Achtung!“ Schwester Laurentia: „Formidabel, Frater!“
Pater Augustin besaß allerhand Literatur und Broschüren aus den USA, die sich um Bodenkultur drehten, die er aber aufgrund seiner fehlenden Englischkenntnisse nicht verstand. Schwester Laurentia übersetzte ihm die wichtigsten Passagen. Im Gegenzug gab er seiner Mitschwester sachdienliche und wertvolle Hinweise über Regenwürmer mit. Hatte die Schwester über dieses Thema niemals nachgedacht? Hatte sie denn nie Darwin gelesen? Du meine Güte, nein, hatte sie nicht, schleunigst machte sie sich eine Notiz. Die Regenwürmer, herrje, wie konnte sie die übersehen? Noch auf dem Rückweg nach Fulda wurde ein Stopp in der dortigen Landesbibliothek gemacht, Schwester Laurentia musste ihre Leseliste abarbeiten. Ganz oben: Charles Darwin, The Formation of Vegetable Mould through the Action of Worms, with Observation on their Habits. Zu Deutsch, leicht verkürzt: Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer. Schwester Laurentia wäre aber nicht Schwester Laurentia gewesen, wenn sie der im deutschen Titel unterschlagene Zusatz „unter Beobachtung ihres Verhaltens“ nicht auch brennend interessiert hätte, wo doch das englische Wort für Verhalten „habit“ heißt. Sie wusste wirklich rein gar nichts über Regenwürmer. Wie sahen sie aus, wie vermehrten sie sich, wie und wovon lebten sie? Sie verbrachte ihre Nächte mit der Lektüre von Charles Darwin und mehreren „Zellengenossen“, die – auf Laublagern in Einmachgläsern – das große Glück hatten, von ihrer Fensterbank aus, einen Blick in den Klostergarten werfen zu können, so sie denn neben vielen nützlichen Eigenschaften auch die Fähigkeit zum Genießen besäßen: die Regenwürmer. Sie lebten noch jahrelang gemeinsam mit Schwester Laurentia in Klausur, in einer Zelle, deren Fenster nach Jericho ausgerichtet war. Jericho, jener Teil im Klostergarten, wo eine Quitte wuchs. Ob Regenwürmer Quittengucken genießen?
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Verabredung mit Schwester Candida durch das interne Klostertelefon.
Haben Sie Zeit, können Sie sich noch an früher erinnern?
Selbstverständlich kann ich das. Ich sehe das Problem woanders. Ich habe kurzfristig für diese und nächste Woche keinen Termin mehr frei. Wohl aber in der übernächsten Woche.
Die das spricht, ist 87 Jahre alt und schwer beschäftigt. Die Historikerin bereitet die Präsentation einer soeben erschienenen Edition vor, an der sie die vergangenen vierzig Jahre gearbeitet hat. Ohne sich zu verhaspeln, sagt Schwester Candida den Titel ihrer Leib- und Magenspeise auf: „Willehelmi abbatis Constitutiones Hirsaugienses Corpus Consuetudinum Monasticarum.“
Oh, wird jetzt mancher Kirchenhistoriker vermutlich die Augen aufreißen. Donnerwetter, denkt der Laie und lässt sich ausführlich die Hirsauer Reform erläutern. Schwester Candida hat aber nicht nur über die Neuregelung der benediktinischen Klostergemeinschaft aus dem 11. und 12. Jahrhundert geforscht. Sie war außerdem Archivarin und Verfasserin zahlreicher Bücher, darunter eines über die Geschichte ihres Klosters. Man merkt ihr nicht an, dass sie fast nichts sieht. Wenn sie in der Kirchenbank sitzt, hält sie eine riesige Lupe im schrägen Winkel über die Psalmen. Wie oft haben jüngere Schwestern gewitzelt, dass durch die grelle Mittagssonne, die durch die bunten Kirchenfenster genau auf Schwester Candidas Lupe scheint, versehentlich ein Feuer entzündet und der Kirchenstuhl abgefackelt werden könnte.
Zwei Wochen später. Sie sitzt im Sprechzimmer und erzählt. Dabei legt sie ihre langen Beine übereinander, die sie noch nach Stunden unbewegt lassen wird. Ganz aufrecht erteilt sie mit sonorer Stimme Auskunft.
Schwester Candida, war der Garten Ihre Leidenschaft?
Ich konnte lateinische Handschriften lesen und wurde Schwester Laurentias Solatium. Diesbezüglich würde ich nicht von einer unbedingten Leidenschaft für den Garten sprechen.
Was heißt Solatium?
Ein Begriff, der in der benediktinischen Regelhäufig vorkommt und wörtlich Trost-Hilfe bedeutet. Solatium – die Trösterin.
Wer tröstet wen?
Die Jüngere wird der Älteren unterstellt, zum Trost, zur Entlastung.
Und wie war Ihr Verhältnis zu Schwester Laurentia?
Schwester Candida denkt nach.
Ihr Versuch einer diplomatischen Antwort:
Gehorsam ist eines der wichtigsten Mönchsgelübde. Nicht sträuben, sondern gehorchen. Gerade als Novizin wird man eingehend geprüft.
Bis zu ihrem Klostereintritt 1949 studierte Schwester Candida. Sie wollte Lehrerin an einer höheren Schule werden. Den Beruf ihres Vaters, der Gärtner war, strebte sie nicht an. Doch wie für Novizinnen damals in der Abtei üblich, wurde sie gemeinsam mit den anderen Neulingen zum Sammeln von Kräutern hinausgeschickt.
Später wurde die junge Candida Schwester Laurentia unterstellt und erlebte deren Regenwurmphase aus allernächster Nähe – für Schwester Candidas Geschmack leider allzu hautnah. Frau Laurentia schickte ihr Solatium zum Herbstlaubsammeln in den Schlosspark. Das Laub sollte kompostiert und aufgeschichtet werden. Nach einigen Tagen bemerkte Schwester Candida, dass sich jede Menge Regenwürmer angesammelt hatten. Schwester Laurentia meinte daraufhin irrtümlich, die armen Würmchen samt ihren Brutkapseln evakuieren zu müssen, damit die zu erwartende Hitze ihre Freunde nicht tötete. Schwester Candida, die das Anfassen von Buchseiten deutlich mehr bevorzugte, sollte jeden einzelnen Wurm aus dem Haufen ziehen. Ihr Entsetzen und Ekel über die Evakuierungsmaßnahme, die Laurentia ihr aufbrummte, und die nicht Stunden, sondern Tage andauerte, ist ihr auch nach sechzig Jahren noch ins Gesicht gezeichnet. Schwester Candida wusste bereits, dass ein ausschließlich aus Laub gebauter Komposthaufen keine Hitze erzeugen konnte. Und selbst wenn, hätte man alle Würmer und Kapseln nach dem Abkühlungsprozess wieder in den Haufen zurückstopfen sollen? Schwester Candida behielt ihre Gedanken für sich und ließ Schwester Laurentia mit den ihrigen alleine. Die fragte sich derweil, warum ihr Laubhaufen sich nicht zersetzte, sondern lediglich moderte. Vielleicht klappte es nicht, so die Regenwurmerforscherin Laurentia, weil sie der Natur ihre Helfer weggenommen hatte? Schwester Candida traute sich nicht zu sagen, dass von Regenwurmevakuierungen bei Miss Bruce genauso wenig die Rede, wie von Komposthaufen, die ausschließlich aus Laub bestanden. Schwester Laurentia war vom Forscherdrang angesteckt und ließ sich von eigenen Untersuchungen ohnehin nicht abbringen. Das Ende vom traurigen Lied über den ungeschlüpften Regenwurm in seiner Kapsel war, dass jeder einzelne Wurm, seines Zuhauses beraubt, jämmerlich in der Einsamkeit seines Schraubglases verstarb. Eines Tages meinte Schwester Laurentia, dass es das Beste sei, man lege eine Regenwurmzucht im Garten an, deren Umsetzung sie Schwester Candida anvertraute. In die Zuchtgrube sollten Gartenabfälle kommen, vorwiegend natürlich besondere Leckerbissen wie Apfelsinenschalen und andere Köstlichkeiten, damit sich viele geringelte Kameraden entwickelten. Schwester Laurentia stattete ihrer jungen Kompostschwester wenig später einen Besuch ab und bat sie, einige der Brutkapseln zu zerdrücken. Schwester Candida drückte zu und heraus platzte ein dünner Faden, der sofort anfing, über ihre Finger zu gleiten. Oh, wie wundervoll fand Schwester Laurentia das! Welche Aussichten für humusreiche, lebendige Erde! Es hatte geklappt, die Grube war voller wirbelloser Freunde im Vorschlüpfstadium. Nicht zu fassen! Welch Entzücken – ein Regenwurm, ein Regenwurm! Oh, bitte, noch eine Kapsel zerdrücken und noch eine und noch eine! Schwester Laurentia war euphorisch und willens, die Welt der Würmer kennenzulernen. Ihre Forschungsergebnisse veröffentlichte sie später in einem Aufsatz, geschrieben aus der Perspektive eines Wurmes. „Achtung, Achtung, hier spricht der Regenwurm!“, so der Titel der Reportage – live aus dem Komposthaufen!
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Schwester Laurentia wollte das Quick-Return-Powder in der Abtei nun in größeren Mengen herstellen und über die Klostermauern hinaus verbreiten lassen. Miss Bruce hatte in England die Erlaubnis dazu dem Gartentüftler Mr. Chase erteilt. Mr. Chase nannte gab der Erfindung den Namen „Chase’s Cloche Gardening“. Es handelte sich um eine Form des Gärtnerns im Folientunnel nach der Bruce’sche Methode. Das Quick-Return-Powder verkaufte sich in England mit einigem Erfolg. Mr. Chase, der den Umgang mit Erfindungen und Marketing exzellent beherrschte, hätte gerne entschieden, wer das Pulver wo vertreiben durfte. Er strebte wohl eine Art Weltvertrieb an und machte den Schwestern das gönnerhafte Angebot, dass sie sein Mittel so lange herstellen und vertreiben dürften, bis sich die Handelsbeziehungen nach Deutschland vereinfachten und er den ganzen Betrieb dann einfach übernehmen würde. Er dachte wohl, er hätte es mit unorganisierten und naiven Frauen zu tun. Die Schwestern sollten also den Markt aufbauen, die Kundschaft pflegen, und Mr. Chase übernähme dann das gemachte Nest? Empört wiesen die Schwestern das Angebot mit der Begründung zurück, dass sie den Deal unfair fänden. Schließlich würden sie die mühsame Vorarbeit nicht leisten, „um ihn dann die Sahne von der Milch abschöpfen zu lassen“ – no way! Nach Intervention von Miss Bruce regelte sich jedoch die Lizenzvergabe. Die folgenden Tage verbrachten die Schwestern in der Rekreation damit, sich einen Namen für das Pulver auszudenken. Die Äbtissin hatte mittlerweile erlaubt, dass eine Pulvermühle angeschafft wurde, damit die Pflanzen nicht von Hand zerkleinert werden mussten, denn man hatte schon mit dem Mörsern genug zu tun. Schwester Laurentia dachte natürlich bereits an umfassendere Werbemaßnahmen und veröffentlichte den ersten Aufsatz im Bonifatius-Kalender für die Katholiken, der im folgenden Jahr 1953 erscheinen sollte. Sie schrieb zwei umfangreiche Seiten über ein vollkommen neues Pflanzenpulver ohne Namen. Bis dahin warben die Schwestern weiter unter ihren Bekannten. Im Februar verkauften sie an der Klosterpforte ein (!) Tütchen. Na bitte, läuft doch, dachte Schwester Laurentia und bat Äbtissin Maura, fünftausend (!) fertig gefaltete, kleine Papiertütchen bestellen zu dürfen. Wie sie die unter unternehmerischen Gesichtspunkten nicht ganz nachvollziehbare Bitte durchsetzen konnte, ist nicht überliefert, aber fünftausend Tüten wurden bestellt, und prompt wurden im April 13 Tütchen verkauft, im Mai 10 und im Kompostmonat Juni sagenhafte 22 Tütchen. Am Ende des Jahres waren insgesamt 52 Tüten abgesetzt. Bei dieser Absatzmenge wäre die nächste Tütchenbestellung erst in 96 Jahren fällig gewesen.
Dringendere Frage: Wie sollte man das Boomprodukt nennen? Es dauerte einen Sommer lang, bis ein Name gefunden wurde, auf den sich alle einigen konnten. Die einhellige Meinung aller Schwestern war, da es sich um einen „Schnellkomposter“ handelt, den Aktivator „Schnekopu“ zu nennen. Sie fanden den Namen gut zu merken und sehr witzig. Leider zu witzig, die Äbtissin war nicht zu begeistern, Vorschlag abgelehnt. Wieder tüftelten sie und überlegten: „Pflanzenzauber“ fiel ihnen ein, und „Humus aus Kompost“, warum nicht die Abkürzung „Humoko“ oder „Eilige Erde“, „Schneller Humus“ oder besser „Schnehumu“. Sie diskutierten, sie überwarfen und versöhnten sich, sie kicherten, wenn eine besonders lustige Wortschöpfung entstand, und dann hatten sie einen Vorschlag, mit dem auch die Äbtissin zufrieden war. Am 6. September 1952 erhielten sie die Urkunde vom Patentamt, die ihr Produkt zehn Jahre lang vor Nachahmung schützen sollte. Ein Unternehmen, das chemische Kompostierhilfen herstellte, erfuhr bald darauf von dem Markennamen und wandte sich an die Abtei, um gegen eine großzügige Abfindung die Produktbezeichnung übernehmen zu dürfen. Nichts zu machen! Die Schwestern wollten nicht. Viel zu stolz waren sie auf ihre Kreation, die selbsterklärend, einprägsam, modern, ja wirklich flott war: Humofix!
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Stetig wuchs die Kommunität. Das Kloster war von den Räumlichkeiten für eine Gemeinschaft von zwanzig bis maximal vierzig Schwestern geplant. Bei 99 Schwestern beschloss die Äbtissin einen offiziellen Aufnahmestopp. Zwar versuchte sich das Kloster in lauter neuen Geschäftsbereichen, doch eine nennenswerte Geldquelle fehlte nach wie vor. Die Klostergemeinschaft war weitgehend eine Selbstversorgergemeinschaft. Die Äbtissin nutzte die sich bietende Gelegenheit und verkaufte einige der im Fuldaer Umland liegenden Felder, als die Grundstücke in die Bebauungspläne der Stadt einbezogen wurden. Von diesem Geld erwarb die Abtei ein Hofgut mit Mühle, eine Weide, Ställe und Vieh. Die ehemalige Scheune mit Stall, die man im Krieg gekauft hatte, grenzte praktischerweise an die Mühle an. Das Hauspferd Lotte, das bis dahin im Kloster als Transportmittel genutzt wurde, und hin und wieder in der Stadt eine Kutsche zog, bekam dort ein neues Zuhause. Für die Äbtissin war der Kauf der Mühle ein verzweifelter Versuch, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klosters, und damit die Versorgung der Gemeinschaft, nachhaltig zu verbessern. Sie stellte den landwirtschaftlichen Betrieb unter den Schutz der heiligen Engel, und so wurde aus der Mengelsmühle die Engelmühle. Das marode und im katastrophalen Zustand befindliche Sorgenkind sollte zum Lieblingsprojekt der Äbtissin werden. Doch bis es eines Tages wirklich ein Vorzeigebetrieb mit 30 Rindern, 70 Schweinen, 26 Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche, Zusatzgebäude und ein Erholungsdomizil der Schwestern wurde und es wegen schwindender Arbeitskraft der zunehmend älter werdenden Klostergemeinschaft 35 Jahre später wieder verkauft wurde, haben die Schwestern der Abtei noch viele Kräuter angebaut und viele Liköre und Humofixe abgefüllt. Der Weg war eingeschlagen, aus den Nonnen wurden auch Bäuerinnen. Genauso viele Nonnen und Novizinnen, wie sich morgens auf den Weg zum Feldgarten am Pröbel machten, brachen nun auch noch in aller Herrgottsfrühe in die Landwirtschaft auf. Zur gleichen Zeit saßen die Chorfrauen des Klosters in der Kirche und besangen im Laudes den neuen Morgen.
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Ach, wie ärgerlich! Gleich zu Beginn der Likörproduktion wurde Schwester Syntyche von einer berühmten hessischen Likörfabrik beim Schutzverband der Spirituosenindustrie angezeigt. Auf dem Etikett werde durch die Abbildung des Abteiwappens und der Zahl des Gründungsjahres 1626 fälschlicherweise der Eindruck erweckt, dass es sich bei der Likörproduktion um ein uraltes Unternehmen handelte. Alle 5.000 in Druck gegebenen Etiketten drohten eine Fehlinvestition zu werden, wäre Apothekerin Frau Syntyche nicht persönlich nach Wiesbaden gefahren, um die Herren vom Schutzverband aufzusuchen. Dort ließ sie sich in den Feinheiten der Werbung unterrichten und handelte den Kompromiss aus, die bereits bestellten Etiketten verbrauchen zu dürfen. Allerdings sollte auf jedem einzelnen Aufkleber die Jahreszahl durchgestrichen werden. Nun gut. Und wo sich die Schwester einmal in Wiesbaden aufhielt, machte sie jenem Verband, bei dem sie angezeigt worden war, ihre Aufwartung. Dort schien man von der Likör brauenden Nonne tief beeindruckt, denn sie kehrte als ordentliches Mitglied im Schutzverband der hessischen Spirituosenindustrie zurück. Zur Erinnerung: Besonders viele Flaschen hatte die Abtei bis dahin noch nicht verkauft.
Und dann war da noch jener empörte und pikierte Teil der Öffentlichkeit, der von dem Unternehmen der Abtei erfuhr und meinte, es gezieme sich nicht, dass Nonnen Alkohol herstellten und damit den Markt betraten. Aber was sollten sie denn sonst verkaufen, womit man in der Nachkriegszeit Geld verdienen konnte? Blumen? Oder etwa die Kräuter, die Schwester Agatha in Hülle und Fülle anbaute? Wer hätte denn kilogrammweise Pfefferminze gekauft? Es half nichts. Die Angriffe mussten ausgehalten werden. Besonders schwer wog der Vorwurf der Fuldaer Geistlichkeit: Alkohol im Kloster – unpassend! Wie immer haben empörte Öffentlichkeiten viel Erregungspotenzial und wenig historisches Wissen parat. Die Kunst, Liköre aus Heilkräuterauszügen herzustellen, ist eine benediktinische Tradition aus dem Mittelalter.
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Es gab aber auch gute Nachrichten. Kurz vor dem Aufnahmestopp trat eine junge, sportliche Schwester ein, die den Namen Vera erhielt. Die kleine, vergnügte Frau, die noch heute trotz ihrer 84 Jahre vergnügt mit ihrem Einkaufstrolley über das holprige Kopfsteinpflaster der Nonnengasse tänzelt, um Brot einkaufen zu gehen, wurde Schwester Syntyches Solatium. In Schwester Veras Erzählungen wird die Zeit so lebendig und anschaulich, da sie nahezu alles in Erinnerung behalten hat. Aufgeregt und aufgeschlossen schaute sie sich den Betrieb im Kloster an. Besonders hatte es ihr der Kompost angetan. Wie wunderbar die Natur doch ist, wie sie alles selber regelt, wenn man nur ihre Sprache versteht; die Novizin war schwer begeistert vom Kompostbau.
Schwester Vera half als strikte Antialkoholikerin bei der Likörproduktion aus. Nicht einmal in ihrem Leben hat sie ihre Zungenspitze auch nur eine Sekunde ins Glas gehalten. Sie schmeckte alles mit ihrer Nase ab. Sie konnte die Rezepturen und deren Zusammensetzung mit ihrem Geruchssinn erfassen. Und sie schwor auf die Heilkraft der Kräuter. Wie oft hatte sie Schwester Agatha, die im Garten unentbehrlich war und von Schwester Candida stets „die Säule unserer Kommunität“ genannt wurde, mit einem großen Esslöffel Kräuterlikör abends auf der Bettkante verabreicht, wieder auf die Beine gekriegt. Ein Schluck Wacholder, und alle Gliederschmerzen und Erkältungen waren bis zum nächsten Morgen vertrieben.
Apropos: Der Vertrieb ist ein Kapitel für sich. An Bewerbungen von Handelsvertretern mangelte es nicht. Oft hieß es: „Schicken Sie mir bitte einige Likörproben, damit ich mich von der Qualität des Produktes überzeugen kann, bevor ich es vertreibe“. Manche Vertreter blieben kurz, manche ein Leben lang im Dienst der Abtei. Den äußerst fähigen Herrn Fiehl verlor die Abtei bereits im Jahr 1953, weil die Firma Underberg sein Talent erkannte und ihn zum Generalvertreter ernannte – leider. Herr Korn vertrat im Rheinland den Klosterlikör; das lief ganz gut. In Paderborn hatte Herr Kahle ein so glückliches Händchen, dass er in allerkürzester Zeit einen großen Kundenstamm warb, dann aber dem Leistungsdruck nicht standhielt und nach einem Jahr verzweifelt darum bat, alles hinwerfen zu dürfen. Herr Ohl aus Fulda war ein stattlicher, junger Mann, der allerdings zweigleisig fuhr. Letztendlich schlug sein Herz für die Margarinevertretung. Und dann war da noch der Jurist Herr Dr. Schein, der bereits bei dem Frankfurter Likörunternehmen Geba arbeitete und nach dessen Geschäftsauflösung der Abtei seine Mitarbeit anbot. Er wollte den gesamten Vertreterstab in Deutschland übernehmen, doch leider fand er nie einen Vertreter. Seine restlichen Kapazitäten verbrauchte er in zeitraubenden Auseinandersetzungen mit zahlungsunwilligen Kunden, die rechtlich betrachtet für die Abtei bedauerlicherweise keine nennenswerten Vorteile brachten. Doch dafür half er bei den Vorbereitungen für die Anuga in Köln. Die „Allgemeine Nahrungs- und Genussmittel-Ausstellung“ gilt weltweit als wichtigste Lebensmittel-Fachmesse. 1955 war die Benediktinerinnenabtei zur Heiligen Maria bereit, in Köln den Weltmarkt zu betreten und zu erobern.
Werbung und Verkauf üben, konnte die Likörabteilung des Klosters bereits ein Jahr zuvor, beim 1.200-jährigen Bonifatiusjubiläum der Stadt Fulda im Juni, und danach beim Katholikentag im September. Beide Ereignisse wurden ein großer Erfolg. Das Likörgeschäft lief nicht etwa langsam an, nein, es explodierte. Allein das Geschäft in Berlin verlangte eine eigene Karteikartenkiste und ein eigenes Lager. Der Grund dafür war, dass der steuerermäßigte Branntweinpreis in Berlin mit 5,50 Mark pro Liter deutlich niedriger war als mit 13 Mark in Fulda. Auch in den anderen Städten verkaufte sich der Likör ganz ordentlich.
Zwischenbilanz: 1954 wurden bereits 100.000 Preislisten gedruckt und mehrere tausend Flaschen in verschiedenen Größen verkauft. Es wurden sogar Flaschen kaputt gemacht. Aus Versehen wurde ein Schuppen abgerissen, in dem mehrere hundert leere Glasflaschen lagerten. Wie hätte man das auch wissen sollen? Überall im Kloster stapelten sich Glasflaschen, Kisten voller Etiketten, Bänder oder Preislisten. Überall standen Krüge, randvoll mit Alkohol, unter den Treppenstufen, auf den Treppenstufen (schon deshalb hätte es im Haus niemals brennen dürfen), wirklich überall standen Likör oder Zubereitungszubehör im Weg. Und wie gesagt, auch dort, wo man ihn nicht vermutete.
Zum Katholikentag passierte ebenfalls ein Missgeschick. Die Schwestern hatten sich arg verschätzt. Zum Im-Vorbeigehen-und-spontan-Kaufen wurden mehrere tausend 50-ml-Krüge abgefüllt. Man ging davon aus, dass sie sich als Mitbringsel leicht verkaufen ließen. Leider war das überhaupt nicht der Fall. Und zu allem Unglück schimmelten nun auch die Kapseln, mit denen man die Flaschen verschloss. Sie ließen die Feuchtigkeit des Kartoffelkellers durch. Die Salzglasur wurde zudem durch die Kalkluft des Kellers zerstört. Kurzum: Die teuren Krüge waren dahin. Ganz zu schweigen von der wertvollen Arbeitszeit, die man benötigte, um in mühsamer Handarbeit Kräuter zu säen, ernten, Auszüge und Likör herzustellen.
Trotz dieser Missgeschicke trauten sich die Schwestern die ökonomische Belastung zu, das Gebäude, in dem zuvor Kriegsflüchtlinge gewohnt hatten, als Likörhaus mit Produktionsstätte und Büro umzubauen. Bislang erledigte Schwester Syntyche allen Papierkram auf ihrer Zelle. Manchmal halfen ihr die Cellerarin oder ihr Solatium Schwester Vera. Die Zellen besaßen bis dahin immer noch kein fließendes Wasser, aber Schwester Syntyche bekam in ihrer Liköroffizin einen Telefonanschluss.
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An keinen Geringeren als den Literaturnobelpreisträger Mr. T. S. Eliot richtete Schwester Laurentia ihre Bitte nach den Übersetzungsrechten für Miss Bruce’s Buch. Eliot arbeitete bei Faber and Faber, wo er als Lektor und späterer Partner bis an sein Lebensende blieb. Selbstverständlich hatte der Verlag auch eine Abteilung, die sich um Übersetzungen und Lizenzen kümmerte. Aber warum an irgendeine Abteilung wenden? Schwester Laurentia hatte eben erst mit energischen Schritten den Pfad der Forschung und Publikation betreten. Es musste vorangehen. Da blieb keine Zeit für komplizierte Abzweigungen und Türenklopfen irgendwelcher parzellierter Verlagsstrukturen. Humofix sollte in Deutschland bekannt werden. Es sollte eine bezahlbare Kompostierhilfe werden, die Anleitung dazu leicht verständlich. Am besten und einfachsten wäre es, das Buch von Miss Bruce in Deutschland verlegen zu lassen. Das Manuskript hatte Schwester Laurentia für den Eigengebrauch übersetzt. Bestimmte Begriffe kannte sie im Deutschen gar nicht. Mehr noch, ihr waren die biologischen Umwandlungsprozesse von frischem Pflanzenabfall in Humus neu. Katalysatoren, Zusammenwirkung von Stickstoff, Kali, Phosphaten, das ganze biochemische Basiswissen war ihr gänzlich unbekannt. Die Grundlagen dafür waren ihr in der Schule nicht in dem Maße beigebracht worden, wie sie es gebraucht hätte. In ihrem Zeugnis von der deutschen Privat-Lehrerinnenbildungsanstalt sieht man, wo ihre eigentlichen Talente lagen: ein „Vorzüglich“ in Religionslehre, allgemeiner Musiklehre, Gesang, Turnen und Freihandzeichnen. Auch in Naturgeschichte erbrachte sie vorzügliche Leistungen. In Naturlehre hingegen, die Grundlagen der Biologie und Chemie beinhaltete, hatte die ansonsten gute Studentin nur ein „Befriedigend“. Schwester Laurentia wusste um ihre Bildungslücken und scheute sich nicht, den Sohn einer Bekannten, der die Realschule besuchte, darum zu bitten, sie mit seinen Schulbüchern zu besuchen und Nachhilfestunden zu geben. Ihr Bruder Theo lebte in Fulda und war Gymnasiallehrer für Naturwissenschaften. Auch er kam häufig ins Sprechzimmer, um seiner Schwester die dringendsten Fragen zu beantworten. Für weiterführende Erklärungen aber brauchte sie Experten. Sie holte sich Hilfe bei Lady Balfour von der Soil Association im englischen Suffolk. Auf Anraten von Miss Bruce wurde sie 1953 Mitglied bei der Soil. Heute ist das Organic-Standard-Siegel der Soil Association das bekannteste Biosiegel Englands, damals handelte es sich um eine Gruppe enthusiastischer Pioniere für Biolandbau. Lady Eve Balfour war die Gründerin von Soil und dem unter Kennern der Materie bekannten Haughley-Experiment, bei dem Naturwissenschaftler und Mediziner die erste Vergleichsstudie zwischen konventionellem und biologischem Anbau durchführten. Long story short, „The sisters from the Fulda Abbey“ waren einige der frühesten internationalen Mitglieder einer biologischen Bewegung, die in England, der deutschen Entwicklung zwar dreißig Jahre voraus, aber insgesamt immer noch relativ jung war. Schwester Laurentia bekam ihre Informationen künftig mitten aus dem Zentrum des Ökolandbaus. Selbstverständlich las sie aufmerksam jede Ausgabe von Mother Earth, der Mitgliederzeitschrift ihrer englischen Gesellschaft, und natürlich auch Lebendige Erde, das anthroposophische Fachblatt, das bis heute über neueste Entwicklungen aus der biologischdynamischen Landbaukultur berichtet und seine Produkte unter der Marke Demeter vermarktet. Die da also dem Literaturnobelpreisträger schreibt, ist eine biologisch dynamische Nonne und angehende Fachfrau für Fragen rund um „health and earth and compost making“.
Mr. Eliot leitet den Brief der Benediktinerin sofort weiter und keine sieben Tage später meldet sich Mr. Peter du Sautoy von Faber and Faber, der für die Übersetzungsrechte zuständig ist. Es ist Juli 1954. Im nächsten Herbstprogramm, genauer im September 1955, erscheint im Waerland Verlag Schwester Laurentias Übersetzung von Common Sense Compost Making. Natürlich wurde vor der Drucklegung bei der Äbtissin um Erlaubnis gebeten, die zuvor über die Geistesrichtung des Verlages unterrichtet werden wollte, und selbstverständlich wurde in unzähligen Rekreationen mit gewohnt belustigenden Vorschlägen über den Titel des Buches nachgedacht; alles wie gehabt. Fünftausend Exemplare wurden in kartonierter, gebundener Ausgabe hergestellt, eine kleinere Auflage in besonderer Ausstattung. In Goldprägung schimmerte auf gelbem Leinen der hinreißende Titel: Gartenglück durch Schnellkompost.
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Zwei Tage vor Erscheinen des Buches, das heute nur noch antiquarisch erhältlich ist, bezog Schwester Laurentia ihre neuen Arbeitsräume. Bislang erledigte sie alles in ihrer Zelle. Schwester Lioba fertigte ein Emailleschild an, auf dem „Humofix Büro“ stand. In das Büro zogen drei „Humofüchse“ ein, wie die Äbtissin die drei Schwestern scherzhaft koste. Schwester Laurentia, Schwester Candida und Schwester Oliva, die zuvor als Auslandskorrespondentin arbeitete, und deshalb deutsche und englische Stenografie beherrschte. Schwester Oliva wird zur wichtigsten Person im Humofix-Büro. Sie wird die folgenden Jahre den Überblick behalten, denn Schwester Laurentia bewältigt die umfangreiche Verwaltung nicht. Postablagen, Durchschläge abheften, Rechnungen schreiben und derlei lästige Arbeiten lagen Schwester Laurentia nicht. Sie war damit beschäftigt, ihre neugewonnenen Erkenntnisse in kleinen Aufsätzen in den Waerland-Monatsheften zu veröffentlichen. Der Verlag war außerdem so großzügig, im Gartenglück einen kostenlosen Hinweis auf das Humofix zu gestatten.
Schwester Laurentia hatte einiges auf den Weg gebracht und konnte sich vermehrt dem widmen, was sie am allerliebsten tat: Kontakte knüpfen und Korrespondenzen führen. Dabei unterschied sie nicht zwischen Mann oder Frau, Geistlichem oder Akademiker, Christ oder Buddhist. Zwischen Tausenden von Briefseiten, die das Humofix-Büro birgt, gibt es einen Stapel, der dick wie ein Schuhkarton ist. Er ist mit Bindfaden geheftet, präziser ausgedrückt, ein Teil der Briefe, der Rest platzt einem entgegen. Auf dem Titelblatt steht „Erlauchte und illustre Kunden“. Die neue Art des Gärtnerns stieß nicht nur bei Laubenbesitzern auf Interesse, selbst der deutsche Hochadel ließ sich in der Kunst des Kompostbaus unterrichten und gehörte zu den Briefschreibern, die nach alter Sitte ihre Briefe mit „Sehr geehrte, ehrwürdige Frau Laurentia“ begannen und die Laurentia mit einem beherzten „Durchlaucht!“ in ihren Antworten begrüßte. Na gut, nennen wir ein, zwei Namen aus dem erlesenen Kundenkreis: eine Prinzessin aus dem Hause Thurn und Taxis, eine durchlauchte Prinzessin aus dem Hause Auersperg, der Bundesminister für Wohnungsbau und späterer Bundesinnenminister Paul Lücke, Graf Solms, überhaupt erstaunlich viele Grafen – die Diskretion verbietet eine Fortführung der Liste.
Liest man Schwester Laurentias Briefe, wird eine aufmerksame Frau sichtbar, die sich trotz ihres Alters über Jahre hinweg Details merken konnte. Sie schrieb lange Briefe. Ausführlich erklärte sie, was sie über das Leben, den Glauben, die Liebe, den Garten dachte. Die Menschen draußen in der Welt interessieren sich für das Klosterleben der Nonnen, und bereitwillig erzählte sie aus ihrem Alltag. Nie findet sich ein Satz, in dem sie eine Auskunft verweigerte. Das Briefeschreiben war ein großes Vergnügen. Zu ihren Briefpartnern zählte auch Miss Bruce, die von einem Foto im Humofix-Büro täglich zu Schwester Laurentia herüberschaute. Mit ihr verband sie eine Brieffreundinnenschaft, bei der Schwester Laurentia die Ratsuchende war. Sonst war sie immer die Ratgeberin. Es gab Kunden, die mit einer Tüte Humofix nicht nur Hilfe für den Garten, sondern auch ein bisschen Hilfe für ihr Gemüt benötigten. Manche Probleme waren sehr speziell. Die Mitschwestern amüsierten sich über die Briefe und besangen sie zu Namens- und Geburtstagen in dem großen „Humus-Epos“, einem Lied, dem zu jeder größeren Gelegenheit Strophen ergänzend hinzugedichtet wurden:
Der Humus Chef muss reden, reden,
so viele Fragen ja entsteh’n.
Voll Liebe lehrt er einen jeden,
darf keiner ungetröstet gehen.
„Könnt’ Humofix nicht auch beleben
des trägen Darmes Tätigkeit?
Der Name tät mir Hoffnung geben,
denn fix bewirkt doch Fixigkeit!“
Ruft einer an, vom Schreck benommen:
„Mein Weib ’ne falsche Flasch’ erwischt.
Sie hat – wird sie zum Sterben kommen?
Am Aktivator sich erfrischt!“
Was gibt’s für edle Junggesellen,
so fromm, so gläubig und so tief!
Die schreiben, wenn sie was bestellen,
dazu ’nen apostol’schen Brief!
Die Schwestern amüsieren sich wirklich prächtig, und mancher Brief „liefert für das Tagesend, Erbauungsstoff für den Convent“.
Wo viele Menschen zusammenkommen, sind immer auch ein paar Verrückte unter ihnen. Schwester Laurentia war ein großzügiger Mensch, schenkte gerne und schickte vieles zur Ansicht an Menschen, von denen sie wusste, dass sie nicht allzu viel auf der hohen Kante hatten. Aber manches stieß ihr auch ihr blöd auf. Mr. Henry Eckstein, der später zu einer wichtigen Person für Schwester Laurentia werden sollte, schrieb 1975 in seinem ersten Brief an die Abtei aus Oregon im fernen Amerika: „Dear Sirs!“ (Er ging selbstverständlich davon aus, dass es sich bei den erfolgreichen Unternehmern um einen Männerorden handelte.) „Bitte senden Sie mir den Obstbaukalender und das Schädlingsbekämpfungsblatt. Einliegend $ 1.00 und besten Dank für baldige Übersendung.“
Schwester Laurentia antwortete höflich und bekundet zunächst gewohnt humorvoll ihre ehrliche Freude:
„Dear Sir, schon lange habe ich mir gewünscht, mit einer deutsch-amerikanischen Firma in touch zu kommen. Jetzt hat sich das erfüllt. Es würde mich freuen, wenn Sie mir ein wenig von Ihrer Blumenfarm erzählten. Das Bild Ihres Briefbogens ist erstaunlich, wenn es der Wahrheit entspricht. Solche Lilien habe ich weder gesehen noch von ihnen gehört. Aber die USA sind ja das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.“
Auf dem Briefbogen ist das Bild einer Frau gedruckt, die neben einem Liliengewächs steht. Wie Straßenlaternen überragen die Pflanzen die Frau. Am Schluss des Briefes kann sich Schwester Laurentia folgenden Hinweis nicht verkneifen: „Wir danken für die beigelegte Banknote. Das Teuerste an der Sendung ist natürlich das Porto. Aber wenn Sie Vorteile aus unseren Artikeln ziehen, fällt das wohl weniger ins Gewicht.“
Das kam häufiger vor, dass ausgerechnet jene, die große Firmen hatten oder anderweitig ökonomisch erfolgreich waren, eine außergewöhnliche Form der Sparsamkeit an den Tag legten. Es kam so häufig vor, dass Schwester Laurentia einmal doch der Kragen platzte. Ein Diplom-Ingenieur und Landwirt, der forschend tätig war, beklagte sich immer wieder. Mal hielt er das Glossar für ungenügend oder einen Ratschlag für unzumutbar. „Besonders die Obstmadenspritzungen sind an genaue Zeiträume gebunden“, oder er motzte, weil er die „als unverbindliche Ansichtssendung“ bestellten Schriften noch nicht erhalten hatte. Mehrere Postkarten formulierte er in ruppigem Ton, er listete auf, was ihm nicht passte.
Schwester Laurentia schrieb, bezugnehmend auf seine vorwurfsvolle Kritik: „Ich muss schon sagen, dass mir die Form höchst ungewohnt vorkam. Wenn Sie sich als Ingenieur und Leiter einer bau- und landtechnischen Versuchsstelle bezeichnen, befremdet es umso mehr. Sie möchten in diesen für Klein- und Siedlungsgärten verfassten Büchlein eine vollständige Behandlung aller einschlägigen Fragen finden. Da müssen Sie aber größere Nachschlagewerke kaufen zwischen 18,– und 30,– DM. Für Forschungsstellen haben wir nicht gearbeitet. Der zweite Punkt, dass Sie sich als Forscher eine 3-Mark-Broschüre zur Ansicht schicken lassen wollen, ist auch eine einmalige Erfahrung.«
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Schwester Laurentia geht es blendend. In einem Brief notiert sie, dass ihr, obwohl sie Klosterfrau ist und nicht frei über sich verfügen kann – sie unterschlägt, dass die Äbtissin vor langer Zeit aufgab, ihr übermäßig viele Verbote auszusprechen –, die Fleisch-, Fisch-, und Eierfreie Diät ausgezeichnet bekomme. Mitschwestern bestärkten sie und meinten sogar, enorme Veränderungen an Schwester Laurentia zu bemerken, die sich, daran gäbe es nichts zu deuteln, eindeutig in der zweiten Jugend befände. Im August 1958 feierte sie ihren siebzigsten Geburtstag und nahm sich mehr Zeit für ihre Gesundheit. Die Diät des schwedischen Ernährungsreformers und Verdauungstheoretikers Are Waerland überzeugte sie. Allerdings blieb sie mit ihren wechselnden Ernährungsgewohnheiten in ihrem Kloster stets allein. Sie hatte nie den Anspruch, ihre Mitschwestern zu bekehren. Vom bloßen Zusehen bekam ohnehin niemand Appetit auf eine Diät, die morgens mit einem Glas lauwarmen Kartoffelwasser begann. Sie aß die letzten zwei Jahrzehnte ihres Lebens ausschließlich Rohkost. Alles Gekochte lehnte sie ab. Es geht im Kloster das Gerücht um, dass Schwester Laurentia neben ihrer Hauptdiät noch eine Nebendiät hatte – die mit den Ausnahmen. Wie gesagt, Getratsche. Schaut man sich die Fotos an, muss man allerdings zugeben, dass Schwester Laurentia nicht wie jemand aussah, der selbst die am Safttag erlaubte trockene Semmel wegließ, da sie aus Weißmehl ist, und Weißmehl war für Schwester Laurentia ein Tabu mit drei Ausrufezeichen. Nein, sie sah eher wie jemand aus, der auch außerhalb vom Safttag viele Semmeln aß. Das Sympathische an ihr war, dass sie niemals missionierte.
Ihr Lieblingssprichwort war „Steter Tropfen höhlt den Stein“ und meinte, dass man unaufhörlich weitergehen solle, der Erfolg stelle sich von ganz alleine ein. Ihr Optimismus war nicht unbegründet. Das Humofix kam gut an, auch das Gartenglück verkaufte sich rasch. Die zweite Auflage war bereits im Buchhandel, wurde auch an der Klosterpforte verkauft oder vom Humofix-Büro aus versendet. Die Kundenkartei der Abtei wuchs. Die Kunden kauften vermehrt Kräuter für Jauchen und Spritzungen zur biologischen Schädlingsbekämpfung, so wie es in einem Merkblatt von Schwester Laurentia beschrieben wurde. Die ersten 300 Hefte von Unser Obstbaukalender im Wandel der Zeiten wurden innerhalb eines Jahres verkauft. Die Idee, den Obstgärtnern auf diese Weise zu erklären, welche Arbeiten im laufenden Monat an den Obstbäumen erledigt werden müssen, war eine kluge Entscheidung. Bekanntlich schaffte es die Schrift bis nach Amerika. Die nächsten 500 Ausgaben wurden bereits von der maschinell betriebenen Handpresse gedruckt, die inzwischen angeschafft und ins Humofix-Büro gestellt worden war.
Womöglich amüsierte sich die eine oder der andere über 5.000 bestellter Humofix-Tüten angesichts 52 verkaufter Portionen im Jahr 1952. Statistiken langweilen, zugegeben, dennoch sei ein kurzer Blick in Schwester Olivas Auftragsheftchen gestattet:
August 1956: 3.000 Humofix
Juli 1958: 5.000 Humofix
Juni 1962: 15.250 Humofix
Steter Tropfen höhlt den Stein.
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Ein Garten ohne Blumen? Schwester Agatha schaut ganz irritiert. Ein Garten ohne Blumen, wo gibt’s denn das? Pikiert schüttelt sie den Kopf, als hätte man eine frivole Frage gestellt.
Waren Sie von Anfang an überzeugt von Schwester Laurentias Ideen?
Und ob! Sie hat gedacht, ich hab gemacht.
Waren Sie schon einmal in einem Baumarkt, Schwester Agatha?
Ja, das war ich wohl.
Was haben Sie dort gekauft?
Sensen, Spaten und Hacken.
Auch etwas, das es früher nicht gab?
Das sind doch moderne Geräte.
Rasenmäher sind eine gute Erfindung, oder etwa nicht?
Bitte was?
Rasenmäher. Die elektrischen Geräte, mit denen man Rasen mäht.
Schweigen.
Schwester Agatha, so eine schlechte Errungenschaft sind Rasenmäher auch wieder nicht.
Nein, so schlecht sind sie nicht.
Na gut, Themawechsel.
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Schwester Agatha betont es oft, es gab einfach keine Gartenratgeber. Alles, was im Klostergarten angewendet wurde, war neu. Als die ersten Tomatensamen Ende der 1940er Jahre im Kloster landeten, haben die Schwestern das Gemüse, von dem sie nicht einmal wussten, wie es schmeckt, einfach ausprobiert. Irgendwann lernten sie, dass man Tomaten vorziehen muss und niemals vor dem Mai aufs Land bringen darf, weil sie auch leichten Kältegraden nicht standhalten. Die Schwestern lernten auch, dass Tomaten immer eine Extrawurst brauchen. Extratropfen wäre vielleicht der bessere Ausdruck, wenn auch missverständlich, denn Tomaten geben sich nicht mit Tropfen zufrieden, sondern mögen es üppig feucht. Für den Pröbel waren die Tomaten nichts, denn eine Wasserleitung haben die gärtnernden Nonnen erst nach zehn Jahren in den Garten legen können. Bis dahin sammelten sie Regenwasser und gossen umsichtig und keinen Tropfen zu viel. Ein gut gelockerter Boden, nicht gegraben, saugt sich schnell mit Wasser voll und lässt es nicht auf der Oberfläche verdunsten, für Tomaten aber immer noch zu heikel. Tomaten sind ein wichtiges Thema im Kloster. Die ersten Tomaten des Jahres werden traditionell einzeln auf den Teller der Mitschwestern im Refektorium gelegt. Weil während der Mahlzeiten nicht gesprochen wird, gilt es, mit den Augen den Gartenschwestern ein „Dankeschön, sie schmecken himmlisch“ zu signalisieren. Schwester Agatha hat viel mit Tomaten experimentiert. Die „Glühbirnchen“, kleine, gelbe Tomaten in Birnenform, waren der Favorit der älteren Schwestern, da ihr Fruchtfleisch besonders mild war. „Schwester Agathas Gute Sorte“ hingegen ist der unkomplizierte Klassiker des Klostergartens. Die Samen von dieser Tomate wurden immer wieder gesammelt und angebaut. Dadurch ist über Jahre eine eigene Sorte entstanden, saftig, süß, resistent gegen Krankheiten, gleichmäßig im Wuchs, üppig am Strauch – die gute Sorte eben.
Die Schwestern haben Wasserleitungen gelegt und den Schutt, der während der Umbauarbeiten im Kloster anfiel, mühsam in den Pröbelgarten getragen. Lotte war mit ihrer Kutsche nicht immer abkömmlich, weil sie mit den anderen Pferden in der Landwirtschaft gebraucht wurde. Die Schwestern zogen den Schutt auf einem Leiterwagen durch die Stadt hinaus aufs Feld. Dort bauten sie Befestigungswege, denn das Gießen ohne Gehwegplatten erschwerte die Arbeit ungemein. Schwester Vera, die zwar mit dem Likör genug zu tun hatte, bildete sich zusätzlich zu ihrem anspruchsvollen Aufgabenbereich zusätzlich zur Gehwegplatten-Auslegschwester aus.
Jedes Werkzeug, das im Garten gebraucht wurde, nahmen die Schwestern morgens in den Pröbelgarten mit, und abends säuberten sie die Spaten und Schaufeln und brachten alles zurück ins Kloster. Als der Katholikentag 1954 vorbei war, hatten die Likör-Schwestern die Idee, den abgebauten Messestand in den Pröbel zu stellen. Dach drauf, Einladung zur Einweihungsfeier rausschicken, und endlich hatte auch der Feldgarten, wie bereits das Humofix-Büro und die Likör-Offizin, ein „Firmengebäude“. In dem Unterstellraum wurden Geräte gelagert, bei Regen und Unwetter bot er einen Schutz. Bis dahin hatte es keinen Unterstand gegeben. Was muss es in den kalten Herbstmonaten ungemütlich gewesen sein, wenn es gestürmt hat. Die Schwestern rückten ganz nah zusammen und gaben sich, so erinnern sie sich, einander in einer großen Traube Schutz.
An die Stelle des Unterstellraums wurde irgendwann ein richtiges kleines Häuschen aufgestellt, sodass die Schwestern sich bei Sturm nicht mehr an dicken Kohlköpfen oder Pfählen mit Stangenbohnen festhalten mussten (falls sie das je getan hatten). Außerdem hatten sie nun die Möglichkeit, am Tisch sitzend ihre Mahlzeiten einzunehmen. An ihren Essplatz hängten sie ein Bild der Muttergottes mit dem Jesuskind auf, und darunter stellten sie eine Vase mit frischen Blumen.
Auch die Feldgartenschwestern probierten eine Neuerung. Die Idee hatte sie aus Schwester Laurentias Zeitschrift Boden und Gesundheit übernommen. Die Gärtnerin Gertrud Franck aus der Nähe von Schwäbisch Hall experimentierte mit Mischkulturen und veröffentlichte 1957 den ersten Aufsatz dazu. Frau Franck wurde ins Kloster eingeladen. Schwester Laurentia und Schwester Agatha hörten ihr aufmerksam zu. Von da an bepflanzten die Schwestern der Abtei den Gemüseteil nicht mehr getrennt von den Kräuterbeeten, sondern übernahmen das Prinzip der Pflanzengesellschaften, die sich gegenseitig begünstigen, indem sie sich beim Wachsen fördern. Bei eventuellem Schädlingsbefall wäre, so ist es bei Monokulturen der Fall, nie die ganze Ernte betroffen, sondern nur eine Pflanzenart, während die Nachbarn weiter gut gedeihen. Die Schwestern waren von dieser Vorgehensweise derart begeistert, dass sie bis heute die biologische Mischkultur beibehalten haben.
In einem kleinen Garten kann man sich Pflanzenfolgen einigermaßen gut merken. Wer aber in einem ganz normalen Klosteraugust in den 1960er Jahren bis zu 28 kg Gurken, 44 kg Kürbis, 30 kg Mangold, 136 kg Möhren, 215 kg Rote Bete, 124 kg Stangenbohnen und 273 kg Zwiebeln nur an Gemüse erntete, der musste zwingend Buch führen, um nicht durcheinanderzukommen. Denn im Monat zuvor wurden 500 kg anderes Gemüse geerntet, nicht dazu gerechnet sind die jährlichen 500 kg frischen Kräuter – und natürlich die Blumen, mein Gott, ein Garten ohne Blumen, wo gibt’s denn sowas?
Das Prinzip der Mischkultur ist: Einer geht raus, einer kommt rein, Radieschen raus, Salat rein, Erbse dazwischen und Dill – nein, Dill funktioniert nicht. Aufschreiben, merken! Vielleicht ist der Tag zu früh, vielleicht funktioniert der Dill neben der Erbse nur bei Vollmond oder wenn man der Pflanzreihe eine Woche Pause gibt. In sagenhaften hunderten, manchmal tausenden Versuchen hat Schwester Agatha ausprobiert und weiterentwickelt, was sie von Frau Franck erlernte. Die Erfahrungen dazu notierte sie in ihren Erntebüchern, Notizheften, Kladden, die sie alle aufgehoben hat. Sie schrieb auf, wie viel Saatgut, Wasser und Humofix sie verbraucht und wie viel sie geerntet hat. Sie weiß, welches Kraut einjährig ist und welches zweijährig. Sie kennt die Vorzüge und die Lieblingsnachbarn ihrer grünen Freunde. Schon sehr bald, das muss Anfang der 1960er Jahre gewesen sein, erfuhr sie von der Methode, das Gärtnern von den Mondphasen abhängig zu machen. Bislang waren es die Förster, die den Zeitpunkt anfallender Holzarbeiten nach der Astronomie richteten. Dass der Mond enorme Kräfte hat, sieht man, wenn man an der Nordsee ist. Innerhalb kurzer Zeit kann sich das Wasser zurückziehen und kommt später wieder zurück. Schwester Agatha konnte, diesem Argument folgend, die Einflüsse des Mondes auf die Natur nicht leugnen. Sie probierte es aus. Seitdem gehörte auf ihre Bestellliste Ende des Jahres neben Saatgut immer auch der Kalender Aussaattage von Maria Thun. Nach diesem Arbeitskalender richtete sie sich. Fruchttage, Blatttage, Wurzeltage, Blütentage. An diesen Tagen werden Frucht-, Blatt-, Wurzel- oder Blütenpflanzen gepflegt. Bei bestimmten Mondkonstellationen darf entweder gesät, zurückgeschnitten oder geerntet werden. Schwester Agathas Arbeitstag richtete sich nicht nach Zeit und Lust, es ging in ihrem Garten nie um ihre Bedürfnisse, sondern um die Bedürfnisse der Pflanzen. Von größeren Katastrophen blieben alle Gärten des Klosters verschont. Zufall, Glück oder spielten zwei grüne Daumen eine Rolle? Auch hier galt, zum Philosophieren fehlte die Zeit. Wenn etwas klappte, wurde es übernommen. Einziges Tabu blieb der Einsatz von Chemie.
Müdigkeit ist ein Wort, das in keiner Erinnerung und keinem Schreibheft der Nonnen auftaucht. Schwester Agatha spricht niemals von Müdigkeit. Der Tagesrhythmus bestand für sie über sechs Jahrzehnte aus der Arbeit draußen im Garten und den Nächten im Kloster, mit Glockengeläut im Ohr, den gregorianischen Gesängen, den Gesprächen mit den Schwestern. Und abends auf ihrer Zelle? Da saß sie alle Jahre an ihrem kleinen Tischchen und schrieb. Gleich nach Kriegsende beginnen ihre regelmäßigen Aufzeichnungen. Sie hat alle Gärten festgehalten. Wie eine Bauingenieurin hat sie Außengrenzen und Wege eingezeichnet. So lässt sich in jedem Jahrzehnt nachvollziehen, wie die Flächen bewirtschaftet wurden. Sie hat aber auch, wie es die Tradition der Benediktinermönche im Mittelalter war, vieles abgeschrieben. Aus Aufsätzen in den Waerland-Heften, Boden und Gesundheit, Broschüren und Büchern, aus allem, was Schwester Laurentia auftreiben konnte. Um sich alles besser merken zu können, schuf sich Schwester Agatha ihre eigene Gartenbibliothek. Sie schrieb in den Abendstunden nach der Komplet, dem letzten Gebet des Tages, aus Texten ab, so entstand aus ihren Abschriften ein neues Buch. Es ist ihr Buch, so wie der Garten Jahrzehnte hindurch ihre Handschrift trug und zu ihrem Garten wurde. Deutschland veränderte sich, die Kirche veränderte sich, die Liturgie veränderte sich, der Garten änderte sich. Der Mensch lernt, solange er gärtnert. Schwester Agatha war nicht Gärtnerin, als sie eintrat. Sie wurde es.
Woran denkt man während der Arbeit, Schwester Agatha?
Manchmal lässt man die Gedanken baumeln. Die Beine braucht man für anderes. Schwester Agatha schmunzelt.
Erfordert Gärtnern Geduld?
Man muss sich in das Leben hineinversetzen. Man muss verstehen, was, angefangen vom Samenkorn bis zur ausgewachsenen Pflanze, im Boden vor sich geht.
Ist Gott auch im Garten?
Manchmal betet man – lieber Gott, mach!
Und hilft es?
Beten hilft immer.
Im Garten betrieb man Mischkultur, stellte ein Häuschen auf, legte die Wege mit Steinplatten aus. Es wurden immer mehr Liköre und Kräuter verkauft, immer mehr Humofixtütchen bestellt, und nun wurde auch noch ein schönes Gartenmobil gekauft. Das schnittige rote Gefährt, das die Äbtissin kaufte, war eine Mischung aus Papamobil und Autoscooter. Ein kleines Gefährt mit imposanten Ponystärken. Die in geschlossenen Ortschaften erlaubte Höchstgeschwindigkeit erreichte der Wagen nicht, aber ohne Führerschein durfte damit trotzdem nicht gefahren werden. Schwester Agatha musste mit über vierzig Jahren in die Fahrschule. Ihren Fahrlehrer beschreibt sie als geduldigen Mann, der sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. Sie saß mit lauter jungen Burschen im Fahrunterricht. Die Kerle träumten von ihrer ersten Fahrt in die Alpen oder an den Gardasee, und die Nonne träumte davon, abends die schwere Ernte nicht mehr mit eigener Körperkraft vom Feld ins Kloster bringen zu müssen.
Schwester Agatha absolvierte ihre Fahrprüfung erfolgreich im ersten Anlauf. Von da an lud sie ihre Mitschwestern morgens auf die Ladefläche und fuhr die Feldgarde in ihren blauen Kleidern, mit wehenden, weißen Schleiern und Schürzen, in flottem Schritttempo durch die Fuldaer Innenstadt. Auf der Landstraße konnten sie an Geschwindigkeit zulegen. Was mag das für ein Anblick gewesen sein? Vier Nonnen im roten Feldcabriolet, deren weiße Schleier im Blumenmeer verschwinden?
Eines Abends, sie kamen gerade von der Arbeit zurück, wurden sie von der Polizei angehalten. Die Fuldaer Geschäftsleute liefen empört auf die Straße hinaus. Das ließen sie auf keinen Fall zu, dass die Schwestern durch die Ordnungshüter schikaniert würden. Sie stellten sich um das Auto herum und demonstrierten einen beeindruckenden Einsatz an Zivilcourage, doch, oh je, der schüchterne Polizist wollte lediglich nach Schwester Bonifatias Klosterjubiläum fragen, seine Frau hatte ihm aufgetragen, die Nonne unbedingt anzuhalten, falls er ihr in der Stadt begegnen würde. Ach so! Und die Nonnen dachten schon, er wolle ans Steuer und eine Runde drehen.
In den Nächten überlegte Schwester Agatha, wie sie das Auto geschickter einsetzen könnte. Die mühsamste Gartenarbeit war das Hacken der Flächen. Sie beschäftigte sich mit der Konstruktion des Automobils und probierte herum. Erst hängte sie das Werkzeug hinten dran, dann baute sie die Ladefläche ab. Sie besorgte sich Mechanikerwerkzeug, bastelte und tüftelte. Eines Tages, die Mitschwestern staunten nicht schlecht, sahen sie, wie Schwester Agatha mit dem Auto durch das Feld und nicht auf den Wegen fuhr. Als Schwester Agatha näher kam, entdeckten die Nonnen hinten am Fahrzeug eine Anhängerkupplung mit einer Fräse daran. Der Wagen fräste, grub und hackte. „Allmächtiger im Himmel! Was ist das denn?“, fragten die Frauen. „Sieht man doch“, rief Schwester Agatha im Vorbeifahren, „das ist unsere Hackorette!“
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Die Leute, die Fragen, die Briefe, die Besuche. Schwester Oliva war geduldig und hatte immer ein freundliches Wort parat. Sie musste sich nicht anstrengen, so war ihr Wesen. Auch sie gehörte wie Schwester Laurentia und Schwester Agatha zu den schreibenden Gärtnerinnen. Schwester Oliva Pardo de Leygonie war die Tochter eines wohlhabenden hanseatischen Kaufmanns. Mit ihrem dunklen Teint war sie optisch eine Ausnahmeerscheinung in ihrer Gemeinschaft. Ihr Vater war religionslos und begleitete seine Tochter dennoch jeden Sonntag in die Kirche. „Das ist der Tag des Herrn, da begleitet der Papi die Bocki gern.“ Bocki war die Verkürzung ihres Taufnamens Beatrice. Die Familie ihres Vaters war jüdisch, mütterlicherseits waren ihre Vorfahren spanische Katholiken. Schwester Oliva wurde trotz ihres katholischen Glaubens während des Nationalsozialismus als Jüdin gesehen. Das führte dazu, dass sie nie mit sich im Reinen war. Am liebsten hätte sie sich die Nase umoperieren und die Haare färben lassen, um ihre, wie sie meinte, „jüdische Physiognomie“ zu verändern, doch wurde sie davon abgehalten. Zudem hielt sie sich für linkisch, tollpatschig, grob und derb; vielleicht, weil ihre Mutter eine elegante Erscheinung war, die sich nach Pariser Mode kleidete und kaum Deutsch sprach, sondern Französisch, und sie, die Tochter, sah so anders aus.
Schwester Oliva, Jahrgang 1909, wohnte vor ihrem Klostereintritt mit ihrer Freundin in einem Haus mit Garten bei Hamburg. Sie liebte die Musik, das war das Erbe ihres Vaters, der Geige spielen konnte und lieber Gelehrter als Kaufmann geworden wäre. Sie beschrieb den Vater als sehr humorvoll, man ahnt, woher ihr Witz kommen könnte. Natur, Literatur und Musik waren Schwester Olivas weitere Leidenschaften, sie bedichtete ihre Erinnerungen und Sehnsüchte, „und im Wind die Blätter säuseln, singen leise ihre Weisen“, immer schwang auch Wehmut in ihren Versen und die Lust am Leben. Aus den Korrespondenzen im Humofix-Büro machte Schwester Oliva unterhaltsame Literatur.
Nicht nur wurde der Briefverkehr gereimt, auch die Rechnungen:
Zwei Humofix für den Kompost:
Mit Porto es 3,20 kost’.
Sie haben 30 Pfennig gut,
Weshalb es schon 2,90 tut,
Wir legen Winke 1 dabei
Es gibt schon Nummer 2 und 3
Schon mancher liest sie mit Genuß.
Dies zur Notiz!
Mit frohem Gruß
Der überraschte Gartenfreund reimte zurück:
Rasch wie die Lieferung – ebenso fix,
Grüß ich die Mutti von Humorfix!
Schwester Oliva, gar nicht verärgert über die „Mutti“, antwortete mit einem freundlichen „Gut gemacht, viel gelacht!“
Schwester Olivas Idee war sehr geschickt. Damit möglichst viele Kunden erfuhren, dass die Abtei eine neue Zeitschrift ins Leben gerufen hatte, legte sie jeder Humofix-Bestellung eine Winke für den Biogärtner bei. Schwester Laurentia erklärte in der ersten Ausgabe der Winke:
Liebe und alte Humofixfreunde!
Die meisten von Ihnen kennen unsere biologischen Schriften, die wir unseren Kunden zuliebe herausgebracht haben. Inzwischen sammeln sich aber so viele neue Erkenntnisse, Lektüre- und Briefnotizen an, die wir nicht für uns behalten wollen, sondern auch Ihnen schnellstens bekannt geben möchten. Auch immer wieder auftauchende Fragen – oder Klagen – werden berücksichtigt.
Wollen Sie uns baldigst Ihr Ja oder Nein zum laufenden Bezug mitteilen?
Ihnen allen recht viel Gartenglück wünschend, grüßt
bestens die Abtei Fulda
Januar 1961
Von Anfang an lebt die Zeitschrift Winke für den Biogärtner davon, dass Leser sich daran beteiligten. „Wink“ ist ein Wort aus dem süddeutschen Raum und meint einen Tipp. Was heute im Zeitalter der digitalen Medien mit Schlagworten wie interaktiv oder social media benannt wird und den Anschein hat, als handele es sich um eine sehr moderne Angelegenheit, ist im Kloster ein uralter Hut. Leser schreiben über ihre Erfahrungen, die Abonnentinnen und Abonnenten probieren es aus und schreiben zurück. Die Winke ist Gartenzeitschrift, Pinnwand für alle Abonnenten und Veröffentlichungsorgan der Abtei. Man traut es sich angesichts vorangegangener Lobhudeleien und Superlative kaum auszusprechen: Die Winke waren ein Volltreffer. Das dreimal jährlich erscheinende Periodikum hatte bereits ein Jahr später 1.200 Abonnenten, und das war erst der Anfang. Die Winke haben trotz aller Zeitungskrisen bis heute überlebt, denn Anzeigenkunden, die man hätte verlieren können, gab es keine. Offerten, die in diese Richtung gingen, wurden stets ignoriert. Wie hätte man auf einer Seite eine Anzeige der Firma Rübentraum veröffentlichen und in derselben Ausgabe schreiben können: „Benutzen Sie ja nicht das Mittel der Firma Rübentraum. Auch wenn das Mittel biologisch ist, so ist das Produkt unverschämt teuer, wo es doch auch ein Schuss Brennnesseljauche tut und nix kostet.“ Die älteste, deutschsprachige Zeitschrift für biologischen Gartenbau kommt aus der Abtei Fulda, und damals wie heute ist sie eine Zeitschrift, die nicht wie die meisten anderen Gartenmagazine am Schreibtisch entsteht, sondern im Garten. Schwester Laurentia war einfach nicht zu stoppen.
Waren die 1950er Jahre das Jahrzehnt der Erfindungen, so waren die 1960er Jahre das der Publikationen. Unablässig schrieb oder ließ Schwester Laurentia schreiben. Unsere Beerensträucher, Gemüsebaukalender, Unser Bundesgenosse der Regenwurm, Von Meisen und Läusen, Für den Garten dies und das, Kleine Reihe biologischer Winke: Erdbeeren, Lehm und unzählige anderer kleiner Broschüren entstanden. Die allermeisten dieser Schriften gibt es heute nicht mehr, damals hingegen war der Bedarf riesig. Zusammen mit dem Gartenglück betrug die Auflage aller Schriften, allein in den 1960er Jahren, über 35.000 Exemplare. Manche davon wurden im Kloster am Handabziehapparat gedruckt und geheftet. Andere, wie die Winke und der Gemüsekalender, wurden in einer Druckerei hergestellt. Alle Zeichnungen stammten von den Nonnen und die Titelblätter von Hand koloriert. Noch heute, im Jahr 2011, sitzt die ehemalige Köchin, Schwester Fortis, an ihrem Schreibtisch im Humofix- Büro und bemalt jeden Marienkäfer, jede Laus und was sonst noch an Getier auf dem Titelblatt krabbelt, mit ihren Buntstiften, bevor das Heft verschickt wird.
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England. Zum achtzigsten Geburtstag schenkte Äbtissin Maura Lilia ihrer rüstigen Humus-Chefin ein Wiedersehen mit ihrer „alten Jugendliebe“ England. Ein mehrwöchiger Aufenthalt in einem Land, das Schwester Laurentia vor 61 Jahren das letzte Mal sah. Keinesfalls jedoch sollte sie alleine reisen, sondern in Begleitung ihres ehemaligen Kompost-Solatiums aus der Pionierzeit. Schwester Candida, die schon lange nicht mehr im Garten arbeitete, sondern an ihren Editionen zur Hirsauer Reform, sah die Reise als willkommene Gelegenheit, ihre etwas ins Stocken geratene Beziehung zu Mutter Erde aufzufrischen. Sie versprach der Äbtissin auf Schwester Laurentia gut aufzupassen und jede Sekunde an der Seite ihrer Reisegefährtin zu verbringen. Schwester Candida, sehr lang und sehr schmal, und Schwester Laurentia, sehr klein und sehr rund, schlossen sich einer organisierten Reise, geführt vom Chefredakteur der Zeitschrift Organischer Landbau, an. Die Exkursion beinhaltete mehrere Stationen in Mittelengland, um organisch bewirtschaftete Farmen und Gärtnereien zu besichtigen. Eine Reise ganz nach Schwester Laurentias Geschmack. Schwester Candida, die sich vorzüglich in angelsächsischer Kultur und Sprache auskannte, freute sich auf die Abwechslung.
An einem frühen Sommermorgen im Jahr 1969 machten sich die beiden Nonnen auf den Weg. Die Mitschwestern winkten ihnen nach, vorher aber überreichte die Äbtissin Schwester Laurentias Pass und weitere wichtige Reiseunterlagen Schwester Candida und ermahnte sie erneut, gut auf die alte Dame achtzugeben und sie um Himmels Willen nicht aus den Augen zu lassen.
Mit der Bahn fuhren die beiden Frauen nach Hoek van Holland, um dort mit der Nachtfähre nach England überzusetzen. Die beiden Damen reisten erster Klasse und verbrachten eine stille Nacht auf ruhiger See. Um vier Uhr in der Früh bemerkte ein Steward, der verschlafen von seinem Posten aufsah, einen einsamen Passagier, der durch die Absperrung gegangen war und bei grauem Nieselwetter dicht an die Reling gelehnt stand und seltsam bewegungslos auf den Horizont starrte. Wollte der Mensch springen? Der Steward rannte auf den Passagier zu und umklammerte ihn von hinten. Schwester Laurentia befreite sich empört aus den Armen ihres vermeintlichen Lebensretters: „Ich, lebensmüde? Ich feiere den Morgen!“
Gegen sechs Uhr in der Früh legte das Schiff an. Die zehnköpfige Reisegruppe wurde mit Hunderten anderer Passagiere in langen Schlangen zu den Zollstellen geschleust. Schwester Candida kümmerte sich um die Formulare und Ausweise und schaute immer auch mal nach, ob das kleine Handgepäck und Schwester Laurentia noch anwesend waren. Zwei große, schwere Koffer waren in Hoek verladen worden und sollten nun bald wieder ausgeladen werden, kamen aber nicht zum Vorschein. Die Reisegruppe saß bereits im Bus, während die beiden Schwestern im Gedränge warteten. Das Zollpersonal war ratlos und konnte angesichts des Trubels nicht helfen. Möglicherweise war das Gepäck noch in Rotterdam? Auf die Schnelle konnte auch die Fährgesellschaft nichts ausrichten. Schwester Candida, in Verhandlung mit den Kontrollstellen und beladen mit Papieren und Handgepäck, konnte nur hilflos zuschauen, wie Schwester Laurentias blaue Kapuze ihres nagelneuen Regencapes nun auch noch in der Menge verschwand. „Schwester Laurentia, Schwester Laurentia, so warten Sie doch!“ Weg war sie.
Die Reisegruppe schaute verdutzt aus den Busfenstern heraus. Schwester Candida schaute noch verdutzter zurück. Eine Weile verging, und Schwester Candida wurde immer unglücklicher. Es waren noch keine 24 Stunden vergangen, und sie hatte bereits ihre Mitschwester verloren. Zwei Reisebegleiter trösteten die arme Nonne, die Qualen durchlitt. Dann stieg Herr Verleger Siebeneicher persönlich aus, um Ausschau nach der verlorenen Ordensschwester zu halten. Man wartete vergeblich. Herr Verleger kam ohne sie zurück. Gepäck weg. Nonne weg.
Doch da, ganz am Ende eines gewaltigen Menschenstroms, wurde eine blaue Kapuze gesichtet. Die kleine Person lief mit erhobener Hand siegreich strahlend und ein wenig atemlos ob des zügigen und energischen Laufschrittes auf die Reisegruppe zu. Ihr stolperten zwei diensteifrige Porters, mit schweren Koffern kämpfend, mühsam hinterher. „Sie standen noch im Baggage Room“, japste die Nonne, die mit Hilfe des Herrn Verlegers Siebeneicher in den Bus stieg und sich auf den Sitz fallen ließ. Nun war sie bereit for departure.
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Besonders unter kulinarischen Gesichtspunkten sollte der Ausflug ins Mutterland des Biolandbaus für Schwester Laurentia keine Enttäuschung werden. Vollkornbrote, Müsli, Joghurt, verschiedene Käsesorten, Marmeladen, Honig und andere Köstlichkeiten wurden gleich beim ersten Frühstück in Shingle Cottage in Haughley Green serviert. Schwester Candida trug stets ein kleines Heftchen mit sich, um für die Daheimgebliebenen in einem Tagebuch die außergewöhnlichsten Momente der Reise festzuhalten. Zusätzlich wurden zwei Doppelseiten für ihren kleinen Reisebericht in der Winke reserviert, schließlich war die Erkundungstour zu den wichtigsten Stationen des organischen Gartenbaus in England von allergrößtem Interesse für die Leserschaft. Ein weißhaariger Gentleman im Alter von 87 Jahren, Professor Robb, verwöhnte die beiden Schwestern nach dem üppigen Frühstück mit einer Schale Erdbeeren, die er zuvor in Sahne tauchte! Weiter ging es zur Haughley-Farm der Soil Association, von der die Abtei mittlerweile seit über einem Jahrzehnt Mitglied war. Lady Eve Balfour, die in dieser Zeit mit den Schwestern in herzlichem Briefwechsel stand, und ihre Sekretärin Miss Medley, begrüßten die Fuldaer Gäste besonders herzlich und luden an eine festlich gedeckte Tafel ein. Miss Bruce war bedauerlicherweise einige Jahre zuvor verstorben, sonst hätte sie sicherlich auch an der Tafel gesessen. Schwester Laurentia bekam den Ehrenplatz neben Lady Balfour. Schwester Candida saß neben ihrem Reisegefährten Signore Pujatti, einem älteren italienischen Gutsbesitzer, der leider nur gebrochen Englisch sprach, was für Schwester Candida, die über hervorragende Englischkenntnisse verfügte, an sich kein Problem darstellte. Signore Pujatti sprach aber leider auch gebrochen Deutsch. Bedauerlicherweise machte sie ihre Sache so gut, was zur Folge hatte, dass er in den nächsten Tagen häufiger neben ihr saß.
Weitere Stationen waren Cambridge, anschließend Wisbeck in Cambridgeshire, wo sie von Mr. Bower begrüßt wurden, der ein Schüler des Kompostpioniers Sir Albert Howard war. Er besaß eine glanzvolle Päonienzucht und hütete das Geheimnis seines berühmten bakteriellen Pflanzsubstrats für Rosen. Die Reisegruppe versuchte, mit Fragen in ihn zu dringen, und bettelte, ob er nicht wenigstens Andeutungen machen könne. Dramatisch legte er seine Hände an sein Herz, ballte sie zu Fäusten und tat, als wolle er sich den Brustkorb aufreißen: „No, I can’t tell you that!“
In Stratford-upon-Avon trennten sich die Schwestern von ihrer Gruppe und reisten allein weiter. Nach der Besichtigung von Shakespeares Geburtshaus zog sich Schwester Candida überwältigt von der angelsächsischen Pracht der siebenhundertjährigen Guild Chapel zurück, um für die Ökumene zu beten. Anschließend ging es weiter zum Hauptziel der Reise, dorthin, wo die Geschichte des Biogartenbaus in der Abtei zur Heiligen Maria begonnen hatte: nach Stanbrook Abbey. Hätten die Stanbrooker Schwestern nicht aus ihrem Garten und vom Quick-Return-Powder berichtet, hätte Schwester Laurentia den Gartenbau in ihrem Kloster nicht umgekrempelt. In England wären sie beide im Leben nicht mehr gelandet. Die Reise war nicht zuletzt auch das Geschenk ihrer Äbtissin und der gesamten Kommunität, die damit ihren Dank zum Ausdruck bringen wollten.
In Stanbrook gab es ein überwältigendes Begrüßungsritual. Lady Elizabeth Abbess und Priorin Sister Frideswide empfingen die beiden Gäste an der Klausurtür mit einer herzlichen Pax nach good old tradition with kisses. Nach einem kurzen Gebet im Chor traten sie hinaus in den Kreuzgarten, wo siebzig Stanbrooker Nonnen auf die beiden deutschen Frauen zueilten und ihnen den Friedensgruß, Umarmung mit Doppel-Kuss, inmitten duftender Rosenbeete gaben. Eine fröhliche Woche verging wie im Flug. Unter lautem Applaus wurde eine Körperlängenmessung zwischen Schwester Candida und Lady Abbess veranstaltet, die mit Abstand die beiden längsten Nonnen waren. Lady Abbess gewann den Contest. Sehr beeindruckt waren die beiden Deutschen von der Stanbrooker Art, das Frühstück einzunehmen. Man nahm sich Tasse und Teller, ging zu einem Buffet, bediente sich mit Tee und Vollkornbrot, griff eine Handvoll Salatblätter, legte sie auf das Brot und ging zurück an seinen Platz. Schwester Laurentia murmelte während des Salatblätterkauens zufrieden: „Sehr gesundheitsfördernd!“ Schwester Candida entgegnete höflich: „Sehr frugal!“
Weiter ging es nach London, von wo aus die beiden Benediktinerinnen on top eines Doppeldeckerbusses zur Abtei von St. Albans fuhren. In der Hauptstadt machten sie Sightseeing. Schwester Laurentia stattete ihrer einstigen Lehrerin einen Besuch an deren Grab ab und betete. Sie besichtigte auch ihre ehemalige Schule. Auf ihren besonderen Wunsch hin sollte noch eine letzte „Dienstfahrt“ getätigt werden. Nach Braintree in Essex, zum englischen Gartenschriftsteller und Journalisten Mr. Lawrence D. Hills, Autor bei Faber and Faber, Gartenkorrespondent für The Observer, Gründer der Henry Doubleday Research Association und Comfrey-Spezialist, um ihm einen Besuch abzustatten. Er erwartete die beiden Ladies bereits zu einem Rohkost-Lunch. Das frisch gepflückte Gemüse wurde von Mrs. Hills vor den Augen der Gäste direkt aus dem Küchensieb in Schüsseln serviert. Die Begegnung mit Mr. Hills sollte für Schwester Laurentia dazu führen, dass sie noch im gleichen Jahr ihr nächstes Forschungsgebiet betrat: die Wiederentdeckung und Verbreitung einer in Deutschland vergessenen Pflanze, die im Englischen „Comfrey“ heißt, im Deutschen „Beinwell“ oder „Beinwurz“ genannt wird und deren botanischer Name „symphytum peregrinum“ ist.
Der letzte Tag sollte noch einmal ein Höhepunkt werden. Die Tate Gallery. Die unglaubliche Sammlung der Werke J.M. W. Turners warf Schwester Candida schier um! Aus ihrem Reisetagebuch liest man eine Kunstexpertise, bei der man die Hitze der vor Erregung erröteten Wangen förmlich spüren kann: „Dieses Spiel in puren, oft schattenlosen Farbnuancen, bei dem sich Formen in Licht auflösen! Sein hundertfach variiertes Thema, das Meer, unter den zauberhaften Effekten des Lichts, atmosphärischer Mächte, auch in ihrer zerstörenden Gewalt …“ Es folgten die französischen Impressionisten, die Post-Impressionisten, Matisse, die Fauvisten, Picasso. Dann bekam Schwester Candida gigantischen Hunger. Schwester Laurentia ließ sich zu einer kleinen Pause im Museumscafé bewegen, doch ihr ästhetischer Hunger war längst nicht gestillt. Insgesamt sechs Stunden musste Schwester Candida, die ihrer Äbtissin versprochen hatte, ihre Mitschwester nicht alleine zu lassen, die kleine Frau durch das Museum begleiten. Von Bild zu Bild ging sie neben ihr her und sah, wie Schwester Laurentia bedeutungsvoll nickte, wenn sie der Sinn eines Kunstwerkes überzeugte, und ja, manchmal beugte sie sich auch zur Signatur eines Bildes und ließ sich, als ginge es um das Echtheitsgutachten eines Picasso- oder Matisse-Schriftzuges, zu einem präzisen Urteil hinreißen: „Kein Zweifel, das ist er!“
Am übernächsten Tag fuhren die beiden Reisegefährtinnen zur Liverpool Station und stiegen in einen Zug, der sie zur Fähre bringen sollte. Allerdings fanden sie ihre gebuchten Plätze nicht. Der Zugschaffner schaute sich die Fahrkarten an und machte sie darauf aufmerksam, dass sie im falschen Zug saßen. Ihr Zug fuhr in wenigen Minuten von einem Gleis auf der anderen Seite der Überführungsbrücke ab! Hintereinander, vorneweg die achtzigjährige Schwester Laurentia, hinter ihr her die ungefähr halb so alte Schwester Candida, rannten sie und erwischten tatsächlich atemlos mit hochroten Gesichtern den richtigen Zug. Als sie am späten Abend des nächsten Tages in der Abtei St. Maria in der Nonnengasse Fuldas ankamen, öffnete ihnen die Äbtissin persönlich die Pforte. Mutter Maura war überglücklich, die beiden Mitschwestern in ihre Arme schließen zu können. Ein Gefühl war noch stärker als die intensive Wiedersehensfreude; es war das überwältigende Gefühl der Erleichterung, dass beide Nonnen, aber insbesondere Schwester Laurentia, wieder wohlbehalten daheim angekommen waren.
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Die 1970er Jahre brechen an und sind das Jahrzehnt des Loslassens. Zuvor erlebte das Kloster noch eine letzte amüsante und aufregende Phase mit Schwester Laurentia. Sie schwankte zunehmend, weil sie, inzwischen über achtzigjährig, nun doch in die Jahre kam. Selbstverständlich hielt sie das keineswegs davon ab, weiterhin Diäten zur Vorbeugung von Altersbeschwerden auszuprobieren und gab der ökologischen Gemeinde noch einen letzten Gedankenanstoß: Comfrey, die Lösung für einfach alles. „Seid dabei, pflanzt Comfrey!“
Man möge sich bitte noch einmal an Mr. Eckstein aus Oregon erinnern. Der mit den phantastischen Lilien auf dem Briefpapier und der knapp kalkulierten Dollarnote. Zwischen ihm und Schwester Laurentia entwickelte sich über die Jahre trotz allem ein freundschaftlicher Briefwechsel. Einem seiner späteren Briefe legte Mr. Eckstein ein paar Wurzelstücke bei. Er gab dazu die Anleitung, „jedes Wurzelstück 1 m weit vom andern einzupflanzen, mehr werden Sie später erfahren“. Schwester Laurentia tat wie empfohlen, setzte die Wurzeln ein, hegte und pflegte sie. So steht es im Vorwort eines Büchleins. Aus Erfahrung weiß der geneigte Leser, dass Schwester Laurentia höchstens mit ihrem Gehstock auf die Stelle wies, auf die das geheimnisvolle und weitgereiste Wurzelstück hingepflanzt werden sollte. Einige Zeit später schickte Mr. Eckstein eine Broschüre, die übersetzt „Comfrey, ein altes medizinisches Heilmittel“ hieß. Der Verfasser ist Dr. Mac Allister, der Herausgeber der Schrift war die Henry Doubleday Forschungsgesellschaft, deren Gründer Lawrence D. Hills war. Er hatte die Gesellschaft zur Erforschung des Comfreys ins Leben gerufen und nach Henry Doubleday benannt, der im 19. Jahrhundert die Pflanze in England bekannt machte.
Schwester Laurentia war sehr interessiert, denn sie las in dem Heft, dass dem Comfrey viele positive Eigenschaften zugeschrieben wurden und dass er eine wahre Wunderwaffe sei. Der Arzt, der die Schrift verfasst hatte, erzählte allerhand Erfolgsgeschichten, in denen er Menschen mit Comfrey heilen konnte. Schwester Laurentia wollte noch mehr Comfrey anbauen und Salbe daraus herstellen lassen. Dazu reichten die paar Wurzeln aber nicht. Sie wandte sich an die Soil Association und ließ sich zweihundert Stecklinge schicken und bat außerdem um Aufsätze. Als sie 1969 während ihrer Englandreise Mr. Hills besuchte, kam ihr der Gedanke, ein Büchlein über den Comfrey zu schreiben und zu verbreiten, dass Comfrey in der Lage sei, Menschen und Tiere zu ernähren und Krankheiten zu heilen, ein Allrounder! Die Forschung weiß mittlerweile, zur Rettung aller Weltprobleme taugt der Comfrey ganz sicher nicht, wie Experten in den letzten Jahrzehnten auf zahlreichen Symposien und Konferenzen verlautbarten, aber als Salbe gegen Prellungen, Stauchungen und Zerrungen eignet er sich vorzüglich. Das wusste auch Hildegard von Bingen. Durch den schwedischen Botaniker und Taxonomen Carl von Linné fand Comfrey erneute Beachtung in den Klosterapotheken.
Schwester Laurentia schrieb mit 83 Jahren das kleine Büchlein Comfrey, was ist das?. Das war 1971. Es war ihre letzte große Tat im Humofix-Büro. Danach zog sie sich zunehmend in ihre Zelle zurück. Auch diese Publikation wurde von der Öffentlichkeit keinesfalls ignoriert. Bis 1975 hatte das Büchlein bereits eine Auflage von 28.000 Stück erreicht. Zu diesem Erfolg trug auch Bruder Goar bei. Denn zusätzlich zu dem großen Interesse, auf das Schwester Laurentia mit ihrer letzten Publikation stieß, erhielt sie ein weiteres Geschenk: Sie fand im späten Alter einen lieben Freund. Bruder Goar, der biologisch gärtnernde Mönch aus dem Missionshaus Maria Hilf im schweizerischen Steinhausen, hörte von Schwester Laurentias Schrift. Der Bruder mit dem wolkigweißen Wuschelbart machte selber Experimente mit Comfrey und war ähnlich wie Schwester Laurentia Pionier, Gärtner, Publizist und Briefkastenonkel. In großen Mengen bestellte er das Buch aus Fulda und verkaufte es in der Schweiz. Selbst als er später ein eigenes Comfrey-Buch schrieb, dessen Vorwort Schwester Laurentia verfasste, verkaufte er statt seines eigenen lieber das Büchlein aus der Abtei.
Schwester Laurentia lud den Bruder nach Fulda ein. Von diesem Besuch stammen vielleicht die ergreifendsten Fotos von ihr. Mit Bruder Goar spaziert sie im Jahr 1975 durch den Klostergarten unter blühenden Apfelbäumen. Sie sehen beide etwas entrückt aus, nicht mehr beansprucht von dem, was auf dieser Welt geschieht; zwei schöne, alte Menschen, die spazieren gehen. Er, schick gemacht wie ein Kavalier, mit Krawatte und Anzug, und sie, Freundin, Schwester, Gastgeberin. Beide kümmern sich nicht um die Fotografin. Man schaut auf die verblassten, schwarz-weißen Bilder und denkt, so möchte man eines Tages auch aussehen. So wie diese zwei Gärtner, die wissen, dass sie den Großteil ihres Lebens bereits hinter sich gelassen haben-
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Und dann wurde Schwester Laurentia auf ihre sehr alten Tage auch noch esoterisch. Da sie sich zunehmend häufiger in ihrer Zelle aufhielt, wollte sie unbedingt sichergehen, dass alles am richtigen Platz stand. Gewöhnliche Menschen würden sich eine Lampe mit scheußlichem Lampenschirm aufschwatzen lassen, und das Zimmer als gemütlich genug betrachten. Nicht so Schwester Laurentia, die eine streng wissenschaftliche Grundlagenanalyse verlangte; sie wollte dringend in Harmonie mit den Magnetfeldern der Erde eingerichtet sein. So ähnlich wie in der Feng-Shui-Tradition, aber im Einklang mit dem Kosmos. Folgerichtig ließ sich Schwester Laurentia von einem „Fernpendler“ ihre Zelle auspendeln. Den wichtigsten Aspekt einer präzisen und gründlichen Pendelung vorwegnehmend, erwähnte der Profipendler gleich im ersten Satz seines Briefes die Überweisung des Rechnungsbetrages und teilte seine Kontodaten mit. Dann pendelte er (wohl). Im nächsten Brief teilte er der Schwester das Ergebnis mit. Vermutlich stünde Schwester Laurentias Bett „auf einer Kreuzung“. Was dieser bedrohlich klingende Verdacht bedeutet, erfuhr die beunruhigte Nonne sogleich: „Um eine große Fläche zu erfassen, ist es leichter, mit der Rute zu arbeiten.“ Seine dringende Empfehlung wog umso schwerer, da er den vollen Namen eines Kapuzinermönches verriet, der angeblich regelmäßig die Dienste des kostspieligen Fernpendlers und Rutengängers in Anspruch nahm. Schwester Laurentia machte sich große Sorgen, nicht nur wegen der bedrohlichen Strahlungen in ihrer eigenen Zelle. Obwohl sie sich zunehmend zurückzog, nahm sie die Welt um sich herum sehr aufmerksam wahr. Der Kalte Krieg, die atomaren Experimente, das Wettrüsten. Sie suchte nach Lösungen, auch für die Bevölkerung. Was tun bei Verstrahlung? In dem Buch mit dem Titel Beerenobst im naturgemäßen Anbau veröffentlichte Frau Laurentia einen wertvollen Hinweis, der es sogar ins wichtigste deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel schaffte. In seiner berühmten Rubrik „Hohlspiegel“ werden die kuriosesten und komischsten Fundstücke abgedruckt. Aus der Beerenobstschrift schafft es folgendes publizistisches Juwel ins Heft: „Im besten Sinne modern wurde die Johannisbeere, als in ihr der Wirkstoff P entdeckt wurde, der sich als wirksames Mittel gegen radioaktive Strahlung erwiesen hat. Schon dieser Grund allein wird der Schwarzen Johannisbeere eine große Zukunft schenken.“
Johannisbeere, die Laub abwerfende, dunkel beperlte Grazie als Schutzwall im Kalten Krieg. Eine ungewöhnlich poetische und friedliche Form der nuklearen Abwehr. Hätte sich als Bild auf einem Button oder Aufkleber auch deutlich hübscher gemacht als alle bisherigen Symbole der Anti-Atomkraftbewegung. Der überregionale Ruhm erreichte Schwester Laurentia nur posthum. Dabei besaß die Strahlenexpertin Humor. Sie hätte über die Erwähnung im „Hohlspiegel“ ganz sicher gelacht. Die wahre Dimension einer Atomreaktorkatastrophe sollten die Benediktinerinnen erst Jahre später nach dem Unfall in Tschernobyl erfahren. Zu Schwester Laurentias Lebzeiten dichteten sie noch unbekümmert folgende Zeilen im berühmten Stil des Humus-Epos:
Es mög’ dem lieben Chef gelingen,
Was keinem noch gelang bisher:
Dass er auch den Atomabfall,
– das wäre der Effekte Knall! –
Mit Humofix besiegt,
Und Kompost daraus kriegt!
Wie die Wünschelrutenepisode weiterging, ist unbekannt, genauso unbekannt wie die Antwort auf die Frage, wie und wo Schwester Laurentia eigentlich das Pendeln erlernt hatte. Denn neuerdings trug sie ein Pendel mit sich und pendelte mal hierhin und mal dorthin. Sie pendelte auch ihre Mahlzeiten aus, um die Bekömmlichkeit der Speisen vorab zu erfahren. Ihre Mitschwestern ließen sie pendeln und hofften, dass auch diese Phase bald vorübergehen würde.
Schwester Laurentias Pendelperiode fällt in jenen Lebensabschnitt, in dem sie allmählich bemerkte, dass ihre Kräfte schwanden. So schreibt sie mit 87 Jahren: „Ich war im April ein 2. Mal von Bronchitis befallen. Das ließ mich zweifeln, ob ich je wieder fit würde. Jetzt bin ich wieder in Ordnung; aber natürlich macht sich das Alter bemerkbar. Die Augen sind sehr zurückgegangen und erst das Gehör. Der Körper ist gelenkig wie immer, aber die Rückgratverkrümmung hat stark zugenommen. Wenn ich auf dem Boden liege, kann die ausgestreckte Hand den Boden nicht mehr berühren, links wohl. Dabei trage ich selbst die Schuld. Ich war zu faul, jeden Morgen die gewohnten Übungen zu machen. Seit dem 1. Mai fing ich wieder damit an. Ich will wenigstens das schnelle Weiterkrümmen verlangsamen.“
Die Schwestern dichteten einst: „Die ganze Menschheit wird verjüngt, wenn sie nur noch mit Humus düngt.“ Lag es an den Übungen? Denn ein Jahr später hält sie sichtlich stolz fest: „Das Gehör ist auf 1 m Hörweite gut; aber weitere Entfernung erfasst nicht mein Ohr. Auch die Augen sind schwächer, aber ich bin zufrieden. Die Beweglichkeit ist recht gut. Ich kann wie eine Schülerin laufen, aber wenn ich mich drehe, werde ich schwindelig und neige zum Fallen.“
Na bitte. Alles gut. Nur vom Drehen wird ihr schwindelig.
Schwester Laurentia kam zu dem Schluss: „Wie bin ich doch glücklich, dass mich ein innerer Zug ins Kloster führte. Ob ich draußen in der Welt nicht auch dem Leichtsinn verfallen wäre, wie es so viele gute Menschen sind, denen man das nie zugetraut hätte?“ In ihren Korrespondenzen nahm sie nach und nach Abschied von den Menschen mit dem Hinweis auf ihr Alter. Ob sie Angst vor dem Sterben hatte, weiß man nicht, aber Angst vor dem Tod hatte sie nicht. „Ich habe es nun nicht mehr weit zur ewigen Ruhe, auf die ich mich sehr, sehr freue.“ Noch eine Woche vor ihrem Tod ging sie ins Sprechzimmer und sagte ihrer leiblichen Schwestern Adieu. Anschließend lief sie durch das Kloster und winkte durch die offenen Türen ihren Mitschwestern zum Abschied: „Wir sehen uns jetzt nicht mehr.“
Am 8. April 1979 lag Schwester Laurentia in ihrem Bett. Schwester Agatha, Schwester Vera, Schwester Candida, Schwester Oliva und die anderen Nonnen waren bei ihr und hielten die Sterbegebete. Sie sangen ein letztes „Salve Regina“, das Schwester Laurentia so liebte. Dann starb sie, für einen Moment wurde es ganz still im Haus. Die jüngste Mitschwester hatte noch im Ohr, wie Schwester Laurentia ihr, als wäre es eben erst passiert, durch die Küchentür zurief: „Auf Wiedersehen im Himmel.“
Der Tod gehört zum Leben, und stimmt doch traurig. Schwester Oliva dichtete:
„Wächst ein Kräutlein wohl auf Erden, ewiglebend, lebenszeugend?,
Erdenleben ist ein Sterben, sich dem Fluch der Sünde beugend.“
Der Tod ist im Kloster ein Festtag, denn er markiert kein Ende, sondern eine Fortführung des Lebens im Himmel. Wer tot ist, ist angekommen. Dem Abschied wird viel Zeit eingeräumt. Die Verstorbene wird im Kreuzgang aufgebahrt und anschließend von den Schwestern zu Grabe getragen. Der Friedhof befindet sich auf dem Klostergelände. Es herrscht Gleichheit. Jedes Grab einer verstorbenen Schwester erhält den gleichen Grabstein und die gleiche Bepflanzung. Ob jemand daran dachte, Schwester Laurentia eine Prise Humofix ins Grab zu stäuben?
Dreißig Tage lang wird für die Verstorbene im Refektorium mitgedeckt, als säße sie noch am Tisch. Dreißig Tage, so der Glaube, brauche die Seele, um ans Ziel zu gelangen. In dieser Zeit war Schwester Laurentia noch halb da und schon halb weg. So konnten sich die Schwestern allmählich an die Lücke gewöhnen, die jeder Verstorbene hinterlässt.
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Schwester Oliva lag im Bett und hatte den Blues. Alle Verantwortung im Humofix-Büro lastete auf ihr. Niemand mehr da, den sie hätte fragen können. Sie war jetzt der Humofix-Chef. Und krank wurde sie obendrein. Sie nahm ihren Stift und schrieb in schwungvoller Handschrift:
Dem Haferschleim
Die Poesie bringt manchen Reim,
doch schwieg bisher vom Haferschleim,
Der doch – so mild, so sanft, so glatt,
gewiss ein Wort verdienet hat.
Er fragt nach keiner Zuetat,
er saugt sich nur am Wasser satt.
Geniesst ihn dankbar und habt acht,
wie er so gar nichts aus sich macht.
Doch Gutes viel ich an ihm seh’:
Er ist nicht scharf, er tut nicht weh,
er ist nicht sauer und nicht süß.
Wie unverträglich ist auch dies!
Da er nicht kalt ist und nicht raucht,
ist er just so, wie man ihn braucht.
Und vieles, was uns plagen will,
das hüllt er ein und macht es still.
Ich bin nicht Uhland und nicht Gleim,
doch sing das Lied vom Haferschleim.
Der Haferschleimblues ist witzig, keine Frage. Und doch war sie nicht die Einzige, die besorgt in die Zukunft blickte.
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Abschiede, lauter Abschiede.
Schwester Agatha bemerkte bereits seit einigen Jahren, dass „eine dunkle Wolke über dem Garten von St. Maria im Felde hing“ und ungewiss war, „wann wir nun den Garten wegen des vorgesehenen Baues einer Straße, die durch unser Land gehen sollte, räumen mussten“. Im selben Jahr, als Schwester Laurentia starb, verkauften sie das Land an die Stadt. Der Garten am Pröbel wurde über dreißig Jahre liebevoll und biologisch bewirtschaftet, und von einem Tag auf den anderen sahen die Fuldaer Bürger keine Nonne mehr auf dem Feld. Heute steht auf dem Gelände das Umweltzentrum. Geblieben ist noch die Weißdornhecke und der Apothekergarten, der Teil der Landesgartenschau war. Dreißig Jahre Arbeit und Ertrag, Mühe und Existenzgrundlage, und am Ende erinnert nur noch eine Weißdornhecke an vergangene Zeiten.
Und noch ein Abschied: Mutter Maura stirbt.
Die Novizin Schwester Christa erlebt zum ersten Mal die Wahl einer Äbtissin. Ein aufregender Vorgang. Es wurde so lange gewählt, bis Einigung herrschte und ein neutraler Wahlbeobachter die Wahl bestätigte und das Ergebnis mitteilte: Mutter Maria wird zur neuen Äbtissin geweiht. Erste Regel: Sie will keinesfalls Mutter Maria genannt werden, denn dieser Name soll einzig und allein der Mutter Gottes vorbehalten sein. Ein lockeres „Grüß Gott, Mutter Äbtissin“ reichte ihr. Am Ende der Wahl wehte zwar kein weißer Rauch aus dem Kirchturmfenster, aber ein neuer Wind. Zu einer ihrer ersten Amtshandlungen gehörte die Aufgabe, sich um die berufliche Zukunft der Novizin Christa zu kümmern. Zuvor musste diese sich diese einer Abstimmung stellen. Wollte die Kommunität die junge Schwester in ihrer Mitte aufnehmen, ja oder nein? Jede Nonne erhielt eine schwarze und eine weiße Bohne und eine Erbse. Schwarz bedeutet nein, weiß bedeutet ja. Erbse heißt Enthaltung. Sie brauchte eine Zweidrittel-weiße-Bohnen-Mehrheit. Gespannt wartete die junge Frau das Abstimmungsergebnis ab. Die Bohnen hatten gesprochen, die Novizin wurde in die Gemeinschaft aufgenommen. Mutter Äbtissin fragte ihren Schützling, wie sie den Vorschlag fand, nach Osnabrück zum Studium zu gehen, um sich zur ersten Ingenieurin für Gartenbau im Klostergarten der Abtei ausbilden zu lassen?
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Die Klostergemeinschaft wird kleiner. Lebten Anfang der 1950er Jahre noch fast hundert Schwestern in der Abtei, so waren es Anfang der 1980er Jahre nur noch knapp siebzig Nonnen. In Schwester Agathas Tagebuch steht, „mit den anfallenden Arbeiten ziemlich allein“. Sie und ihre engste Mitschwester, Paula, (vielleicht auch ihre liebste), teilten sich die Gartentätigkeiten. Durch den Verkauf des Feldgartens fiel zwar Arbeit weg, doch der Kräuterbedarf für das Humofixpulver blieb. Es brauchte ein neues Feld, und so wurde ein kleinerer Kräutergarten angemietet. Die Feldgarde, die einst aus über zwanzig Schwestern bestand, reduzierte sich auf drei Nonnen. Diese drei gärtnerten, wo es gerade nötig war. Ein ständiges Hin und Her. Schwester Pia, die eigentlich auf dem Teeboden arbeitete, half, wenn es nötig war, im Garten beim Ernten aus. Schwester Vera, die eigentlich die Likörproduktion abwickeln musste, ging manchmal mit in den Garten. Ach ja, die Likörproduktion. Die Schwestern wurden alt und schafften es nicht mehr. Die Likör-Offizin wurde geschlossen, die Rezepturen in Lizenz vergeben. Schwester Vera stellte zwar noch einige Jahre die Kräuterauszüge her, doch auch damit hörte sie irgendwann auf.
Schwester Christa ging zum Studium nach Osnabrück und lernte den Umgang mit Chemie. Kam sie nach Fulda in ihren Klostergarten zurück, erzählte sie den Schwestern, dass ihr Professor den mineralischen Dünger „Blaukorn“ gerühmt habe. Alle schüttelten den Kopf. „Blaukorn“ im Garten, als zivilisatorische Weiterentwicklung? Die Fachhochschule für Gartenbau hinkte den Erfahrungen der Nonnen hinterher. Das war doch nun wirklich überholt! Die Schwestern bekamen mit, dass sich in Deutschland eine neue Partei etablierte, die den Umweltschutz zum Parteiprogramm machte. In der Truppe waren zwar ein paar ganz schöne Paradiesvögel dabei, aber das war in der englischen Biolandwirtschaftsbewegung der ersten Hälfte des Jahrhunderts auch nicht anders gewesen. Schwester Christa fand trotz allem Gefallen an ihrem Studium und fühlte sich durch ihr Wissen sicherer, als Schwester Laurentia es wohl je gewesen war. Biologie, Chemie, Meteorologie, sie kannte sich immer besser aus. Einmal hielt sie ein Referat über den Kompost. Ihr Dozent spöttelte: „Ach was, Kompost, wie drollig! Das taugt allenfalls als Gymnastikübung fürs Reihenhausgärtchen, aber nicht als ernstzunehmende Bewirtschaftungsform, die auch für große Flächen geeignet wäre.“ „Nicht doch“, insistierte die Studentin und Ordensschwester Christa, „bei uns klappt das wunderbar.“ Sie hätte über jahrzehntewährende Erfahrungen in Landwirtschaft, Gemüse-, Kräuter- und Obstanbau berichten können, aber sie wurde nicht befragt. Was wusste ihr Professor schon davon, woher sie kam, welche Schwestern sie im Rücken hatte? Er ahnte ja nicht, dass sie Teil einer traditionsreichen Gartengeschichte und Gärtnerinnengruppe war, die fernab von Universitäten und Industrie, ohne Vorurteile und Dogmen das machten, was Gärtnerinnen – egal ob in einem großen oder kleinen Garten – immer machen sollten. Nämlich die Sprache der Natur verstehen zu wollen, statt sie mit Chemie zu belästigen. Schwester Christa ließ sich nicht auf akademische Abwege bringen. 1982 machte sie ihr Diplom und schrieb ganz in der Tradition ihrer Gartenschwestern ein kleines Büchlein. Pflanzensaft gibt Pflanzen Kraft. Freilich nach der Klosterregel. Erstens: bezahlbar, und zweitens: verständlich erzählt. Der Text handelt von Jauchen und Spritzbrühen, um Schädlingen und Krankheiten an Pflanzen vorzubeugen. Ihr Wissen setzte sich aus ihren im Studium gewonnenen Erkenntnissen zusammen und den zahlreichen Erfahrungen im Kloster, die sie in der Winke für den Biogärtner nachlas. Innerhalb eines Vierteljahres verkaufte sich die erste Auflage von 5.000 Exemplaren. Die zweite Auflage aus dem Jahr 1984, verkaufte sich in nur zwei Jahren 20.000 mal. Weitere 10.000 Exemplare wurden gedruckt, und so ging es immer weiter. Die Schrift gibt es mittlerweile in der 10. Auflage. Schwester Christa hatte große Vorbilder und hilfreiche Unterstützerinnen. Schwester Agatha sprach ihr Mut zu und auch Schwester Oliva half, dass sie sich sicher und gut fühlen konnte. Ihre Gartenlehrerinnen und Mitschwestern fanden es gut, dass sie studiert war, und befürworteten, dass Schwester Christa genau wie alle Gärtnerinnen zuvor ihren eigenen Weg geht. Als sie Mitte der 1980er Jahre die Leitung des Humofix-Büros von der Dichterin Schwester Oliva übernahm, hatte sie nicht nur gelernt, wie man eine Kundenkartei pflegt und für die Winke schreibt, sondern auch, dass Liebe und Humor für den Garten mindestens so wichtig sind wie eine Tüte Humofix. Abends lag Schwester Christa, die Nachwuchshoffnung des Gartens, im Bett und wiederholte jene Verse, die Schwester Oliva gedichtet und ihr aufgesagt hatte: „Am Abend im Garten, Zwei Amselchen warten, Wie wollige Bällchen, Mit Schnäbeln und Krällchen, So hocken sie stumm und schläfrig herum …“. Kein Zweifel, das war eine wunderliche und wundersame Gemeinde, in die Schwester Christa da geraten war. Dann wurde auch noch die Mühle verkauft. Likörproduktion dicht, Pröbel dicht, Landwirtschaft dicht, Mühle dicht, alles dicht. Rückzug der Klostergemeinschaft in die Klostermauern.
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Jeder Garten lässt sich lesen. Er verrät die Geschichte seiner Gärtnerinnen. Jeder Strauch und jeder Baum sind Teil dieser Geschichte, denn alles wurde von den Klosterbewohnerinnen gepflanzt. Von früher sind die Aprikosenbäume geblieben, die Apfelbäume, der Quittenbaum, die Pflaume und ein paar alte Rosensträucher an der Mauer. Rasen gibt es in diesem Garten nicht. Obwohl, doch, ein kleines Stück, geblieben aus der Zeit, als es noch eine Streuobstwiese gab. Mittlerweile gibt es ganze Beete, auf denen einfach nur Blumen wachsen. Violette Akeleien, Schwester Christas Lieblingsblumen, orange leuchtende Ringelblumen, üppige, handtellergroße, purpurne Dahlien und alles umrandet von rosagrünem Hauswurz, den irgendwann einmal eine Schwester dort ausgesetzt haben muss. Jede Blume, jedes Beet, jedes Vogelhäuschen kennen Schwester Christa und Schwester Agatha, wenn sie durch den Garten laufen. Es sind die einzelnen Kapitel einer Jahrzehnte währenden Gartengeschichte. Sie wissen, dass der alte Birnbaum jedes Jahr sagenhaft schöne Blüten bildete, so dass die Schwestern oft fassungslos davorstanden und seine Schönheit bewunderten. Lang und schlank wuchs er, so prächtig, dass die Nonnen ihrem Baum einen Namen gaben, „Der Bräutigam“. Weil man ihm einst die Spitze kappte, ist er nun kleiner und gedrungener geworden – ein Schicksal, dass „echte“ Bräutigame im Laufe der Jahre auch ereilt. Dieser Garten birgt so viele Erinnerungen.
Einmal kam Schwester Vera morgens in den Garten und fand dort ein Kätzchen. Sie überlegte. Ein Körbchen wäre nötig gewesen, Katzenfutter, Tierarztbesuche – Schwester Vera scheuchte das Tier weg. Doch immer, wenn sie das Klostertor öffnete, huschte die Katze wieder herein. Schwester Vera gab es irgendwann auf, immer und immer wieder „nun geh schon, nun mach, dass du fortkommst“ zu sagen. Die Katze blieb, und es stellte sich heraus, dass es ein Kater war, der eine Besitzerin hatte. Die stand oft vor dem Tor und rief: „Oskar, nun komm schon, du kannst da nicht bleiben!“ Das sah Oskar anders und lud sich kurzerhand auch noch seine Süße ein, und gemeinsam zeugten sie im Kloster weitere Kätzchen. Bis zur Zeugung der Klosterkätzchen hatte die Äbtissin so getan, als habe sie den Kater nie bemerkt. Aber als die vielen Katzenkinder kamen, waren zum Zudrücken keine Augen mehr übrig, weshalb die Tiere in liebevolle Hände abgegeben wurden. Heute lebt Oskars Witwe Mirza immer noch im Kloster. Nein, das ist zu bescheiden ausgedrückt. Sie wohnt nicht, sie residiert und lässt sich von vor vorne bis hinten verwöhnen. An kalten Wintertagen läuft ihr Schwester Clara nach und trägt sie über die zugefrorenen Beete, damit ihre Pfötchen nicht auskühlen.
Spaziert man lange genug mit den älteren Nonnen durch den Garten, belohnen sie einen mit Geschichten, die von einem Moment auf den nächsten nur so aus ihnen sprudeln. Aber eben nur manchmal. Manchmal bleibt es nur ein Spaziergang in Stille, ohne Worte, nur mit Gesten oder freundlichen Blicken. Wir erinnern uns: „zum Gelächter reizendes Geschwätz“ nur, wenn es nicht zu vermeiden ist (oder so ähnlich).
Und wieder ein Äbtissinnenwechsel. Mit Mutter Benedikta als Oberin entschlossen sich die Nonnen, ihr Kloster den Anforderungen der neuen Zeit anzupassen. Das Stundengebet wurde mit dem Tag der Jahrtausendwende nicht mehr auf Latein, sondern auf Deutsch gebetet. Die Schwestern feiern ihren Gottesdienst auch nicht mehr oben auf der Empore, wo man sie nicht sehen kann, sondern unten im Kirchenschiff, gemeinsam mit ihrer Gemeinde. Rechts und links sitzen sie sich im Altarraum in Dreierreihen gegenüber. Wie in einem Theater können Abteibesucher, Touristen oder mitbetende Gemeindemitglieder der Liturgie zuschauend folgen. Die Besucher können, wenn sie Lust darauf haben, anschließend in den Laden gehen und von dort einen Blick in den Garten werfen. Die meisten haben Lust darauf, weshalb der Verkaufsraum nach der Mittagshore oft sehr gefüllt ist. 1999 wurde der Klosterladen geöffnet. Auch wieder eine große Umstellung und Reform, denn nun konnte man mit den Nonnen auch einfach so sprechen. Das ging vorher nur mit Verabredung und im Sprechzimmer. Der Garten darf an einigen Samstagen im Sommer unter Führung von Schwester Christa besichtigt werden. Auch dem ging ein großes inneres Ringen zuvor. Denn nicht alle Schwestern wollten ihre Privatsphäre mit fremden Menschen teilen. Man wird schließlich nicht Nonne in einem Kloster mit Klausur, um anschließend Tür und Tor zu öffnen und Leute hereinzulassen. Manche Nonnen sahen in der Ausnahme keine Verletzung der Klausur. Ein Kompromiss wurde geschlossen. Samstags für zwei Stunden dürfen Besucher nach vorheriger Anmeldung in den Garten.
Die Öffnung des Klosters für Außenstehende musste auch aus anderen Erwägungen geschehen. Einst wohnten 99, im Jahr 2011 nur noch 28 Benediktinerinnen in der Abtei. Das erforderte, dass man Gartenhilfen und Praktikanten aufnahm. So etwas bringt natürlich zusätzliche Unruhe ins Kloster. Aber auch Lebendigkeit. Während die Äbtissinnen der Gegenwart den Entschluss fassen mussten, ihre Klostergemeinschaft außerhalb der Klostermauern zu führen, hat Schwester Benedikta, nachdem sie die nächste Äbtissin wurde, das Leben außerhalb der Mauern in das Kloster hineinlassen müssen. Ein schwerer Entschluss, es muss keine Entscheidung für immer bleiben, jede Zeit erfordert andere Lösungen und Wege. Das gilt nicht nur für ein Kloster, sondern für jede Gesellschaftsform.
Wie sieht ein gewöhnlicher Mittwochmittag im Kloster aus? Ungefähr so: Im Klosterladen ist gerade Schichtwechsel. Schwester Angela verlässt das Gästehaus, wo sie mit den anwesenden Gästehausbewohnern gemeinsam zu Mittag aß, und geht in den Laden. Sie löst Schwester Johanna ab, die über Mittag Dienst hatte, und die nun auch essen gehen kann. Im Laden verkaufen die Nonnen ihren Tee, den Schwester Fidelis’ Nachfolgerin Pia in drei Sorten jeweils im Winter, Sommer und Frühling mischt. Im Laden werden Schwester Christas Gartenbücher verkauft oder Schwester Michaelas Konfitüren, und natürlich das Humofix. Die Kräuter dafür werden mittlerweile im Klostergarten angebaut, und nicht mehr auf den Feldern außerhalb der Klostermauer. Was sich nicht geändert hat, ist die Zubereitung von Humofix. Wie im Jahr 1952 werden die Kräuter von Hand geerntet, getrocknet und gemörsert. In einem klitzekleinen Räumchen werden jährlich ungefähr 60.000 Portionen hergestellt. Es begann mit 52 verkauften Humofix, deren Käufer mit viel Überredungskunst in den Klosterbriefen von ihrem Gartenglück überzeugt werden mussten.
Ein Werktag in Schwester Christas Klosterleben hat immer einen ähnlichen Ablauf. Sie muss sich sputen. Man erkennt sie an ihrem eiligen Schritt. Gleich nach dem Mittagstisch muss sie ins Humofix-Büro. Es ist 13 Uhr. Sie hat Sprechstunde. Montag und Mittwoch zwischen 13 und 14 Uhr bietet Schwester Christa botanische Seelsorge für verzweifelte Gärtner an. Sie hört das Klingeln schon von weitem und läuft los. Sie nimmt den Hörer ab: „Abtei Fulda, grüß’ Gott! Ja, Sie sind hier richtig, ich bin Schwester Christa. – Wo genau befinden sich denn die Rosen? Verstehe. – Nein, wir nehmen nur Ackerschachtelhalmbrühe – richtig aufschwemmen, genau, ja, ja, genauso wie es in der Winke stand. – Bis zum dritten Auge zurückschneiden, richtig, das sind die kleinen Knubbel – Abtei Fulda, grüß’ Gott! Ich bin Schwester Christa, ja, Sie sind hier richtig. – Beschreiben Sie mal die Tierchen. – Grüß’ Gott, Abtei Fulda, hier spricht Schwester Christa. – Versuchen Sie mal mit Rhabarberblättern zu spritzen, (lacht), nein, die Blätter kochen Sie in drei Liter Wasser auf und spritzen mit der Brühe ab. Das hilft gegen Läuse. Ja sicher, wir machen das seit über fünfzig Jahren so.“
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Dieser Garten ist ein schöner Garten. Er hat wilde Ecken, sanfte Rundungen, kräftige rote Farben im Frühjahr, wenn die Tulpen blühen, und atemberaubendes Blauviolett, wenige Tage später, Schwertlilien, Akeleien, Kornblumen, Salbeiblüten, Katzenminze, so viel Blau, alles Blau, und immer geht alles so schnell vorbei, man kann sich nie sattsehen. Wie auch? Der rote Mohn, der sich in das Blau hineintupft, blüht nur von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Und wie alles Blau sich langsam verblüht, kommen die weißen Margariten, und der Rhabarber leuchtet, und die schwerroten Pfingstrosen springen in dicken, runden Blüten auf. Sie werfen nach einigen Tagen ihre Blütenblätter ab und wehen über die Wege. Dort treffen sie auf weiße Obstblüten und schmücken die Luft, wenn sie hochwirbeln, und die ersten Tomaten haben sich gebildet. Und die Malven. Wie lange pastellfarbene Giraffen schaukeln sie majestätisch über allem. Eine Malvensavanne wächst genau unter Schwester Claras Vogelstation. Jeder Vogelart hat sie ihr Häuschen gebaut. Manche wollen es geräumig mit einer Stange davor, andere nur einen kleinen Tritt, abends kommt Schwester Clara aus ihrer Holzwerkstatt heraus und nimmt noch Mirzas Körbchen rein, damit es über Nacht nicht nass wird und sich das arme Kätzchen morgens im klammen Körbchen einen Schnupfen holt. Es ist ein berührender Garten hinter der Mauer in der Nonnengasse. Ein Garten, der Nonnen zu Gärtnerinnen machte. Er ist aber auch ein Garten, weil Nonnen ihn zum Garten machten. Denn einen Garten muss man pflanzen. Man muss ihn alle Jahreszeiten hindurch pflegen. Hinten am Kompostplatz genauso wie im Bauerngarten, wo das scheinbare Durcheinanderwachsen von Gemüse, Kräutern und Blumen einer geheimen Komposition folgt. Man muss ihn auch in seinen kalten, schattigen und feuchten Ecken hegen und auch um das Gewächshaus herum und vor dem Schuppen, in seinen verwinkelten und versteckten Ecken, in den Lauben bei den Bänken, man muss ihn beachten, überall, denn ein Garten ist kostbar, er kann helfen zu überleben, wenn es nottut, er kann trösten, sein Anblick kann Kummer lindern. Ein Garten kann überraschen, ein Garten ist eine Überraschung und ein Wunder. Dieser Garten ist ein besonderer Garten, denn seine Gärtnerinnen sind besondere Frauen. Sie wussten nicht, dass sie Gärtnerinnen werden würden, als sie eintraten. Sie nahmen ihre Aufgabe an. Was hatte dieser Garten doch für ein Glück! Schwester Oliva saß hinter der Klostermauer und hinterließ ihre vielleicht zärtlichsten Zeilen:
Ein Garten liegt verschwiegen,
dort, wo manch heilsam’ Kraut erblüht,
die Rose an der Mauer glüht,
sich Königskerzen wiegen.
Wie lieblich anzusehn,
mit Blüten, hell und zauberhaft,
geschmiegt um sanften Silberschaft,
aufrecht vor Gott zu stehen.
Vom festen Stab gehalten,
gejätet immer wieder rein,
gewässert alle Tage fein,
durch Gärtners treues Walten.
Er will sie trefflichst hüten,
damit an jedem neuen Tag,
er für den König ernten mag,
manch Körbchen voller Blüten.
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Spätfrühling. Gerade läuteten die Glocken zur Mittagsstunde, der letzte Ton vibriert noch in der Luft. Der Reihe nach verbeugen sich die Nonnen vor dem Altar. Feierlich schreiten sie aus dem Kirchenraum heraus. Diejenigen Schwestern, die etwas mehr Zeit benötigen, haben gewartet. Sie sind jetzt dran. Ganz zum Schluss verlassen sie die Kirche mit ihren Rollatoren. Das Geräusch der Räder auf dem Steinboden hallt nach.
Nach dem Essen ziehen sich manche Nonnen in ihre Zellen zurück. Wer unten im Garten sitzt und hinaufblickt, sieht, dass eine Schwester ihr Fenster offen ließ. Vielleicht hört sie in ihrer Kammer die Nachrichten aus einem kleinen Radio. Vielleicht liest Schwester Agatha gerade ihre Post, und Schwester Christa überlegt, ob sie hinunter ins Humofix-Büro gehen und die nächste Winke vorbereiten soll oder einen Vortrag. Ein Blick ins Gewächshaus würde nicht schaden, vielleicht gießen? Schwester Christa richtet sich mit den zu erledigenden Arbeiten nicht nach dem Mond, sondern nach dem Wetter. Zum Nachmittag haben sich Fotografen angemeldet. Immer öfter erreichen sie Anfragen von den besonders bei Großstädtern sehr beliebten Gartenzeitschriften, die einen Bericht über die Abtei bringen und am liebsten jede Blechgießkanne und jeden Gummistiefel fotografieren wollen. Schwester Laurentia sagte immer: „Wir stehen über Zeit und Mode!“, gerade ist die Abtei mal wieder in Mode.
Der Garten bekommt von alledem nichts mit. Die Vögel machen eine Zwitscherpause, Mirza liegt im Körbchen unterm Apfelbaum, und es ist anzunehmen, dass selbst die Regenwürmer ihre Arbeit unterbrochen haben und ihre schlappen Köpfchen kurz aus dem Komposthaufen hängen. Matte Schläfrigkeit. Das ist ein Garten, der durch alle Zeiten hindurch in Mittagsstunden wie diesen eine Weile ruht, wo selbst der Wind sich legt und schweigt und der Schatten eines Zweiges sich langsam verneigt.