Mit fast dreißig Jahren stand ich in Fulda in der Nonnengasse 16. Ich klingelte, klopfte und hämmerte an die schwere Holztür. Nach mehreren Minuten hörte ich endlich gemächliches Geschlurfe. Eine ältere Frauenstimme rief: „Ja doch, ja doch, ich komme.“ Anschließend wurde aber nicht die große Tür geöffnet, sondern ein winziges Fensterchen wurde entriegelt, eine klitzekleine Klappe. Ich sah einen Mund am Gitter: „Ja, bitte?“
Ich sagte: „Ich heiße Mely, ich will Gärtnerin werden.“
„Wie bitte?“, rief die Frau von drinnen zu mir heraus, und ich wieder: „Ich heiße Mely, kann ich hier Gärtnerin lernen?“
„Wie bitte? Wer??“, rief die Frau, und ich schrie zurück: „MEEELY“ und „Kann ich mal REINKOM-MEN?“
Die Nonne öffnete die Tür. So fing meine Klostergeschichte an.
Ich war gerade an der renommiertesten Schreibschule Deutschlands als Dramatikerin und Prosaautorin ausgebildet worden. Eineinhalb Bücher hatte ich schon geschrieben und soeben eine wöchentliche Kolumne in einer überregionalen Zeitung bekommen. Beim Finanzamt bat ich um eine Steuernummer als freischaffende Künstlerin, in die Künstlersozialkasse wurde ich ohne Wenn und Aber aufgenommen (normalerweise ein etwas mühsamer und langwieriger Prozess), sogar einen Riestervertrag hatte ich abgeschlossen. Bei der Deutschen Rentenversicherung reichte ich alle Belege über Schul- und Studienzeiten ein, der Behördenmitarbeiter lobte mich für meine Sorgfalt („nach so’ne Bürger leck ick ma de Finger!“). Eine Literaturagentur nahm mich unter Vertrag, ich solle mir keine Sorgen machen, so die Agentin, sondern einfach schreiben, ein Verlag werde sich rasch finden, kurz: Es zeichnete sich eine Karriere als Schriftstellerin ab.
Aber etwas fehlte. Etwas, das ich nach dem Abitur nicht gemacht hatte, weil ich meine Eltern nicht enttäuschen wollte. Sie wünschten sich, dass aus uns Kindern Akademikerinnen werden. Sie wollten, dass wir es zu mehr brachten als zum Fabrikarbeiter oder zur Putzfrau. Hätte ich nach dem Abitur darauf bestanden, Gärtnerin werden zu wollen, hätten sie entweder mich oder sich selbst umgebracht. Ich höre Vaters Stimme im Ohr: „Wir sind doch nicht barfuß über Meere und Kontinente gewandert, damit du Gurken pflückst!“ Dabei kommen meine Eltern aus der kurdischen Stadt Bingöl, die früher auf Kurdisch Çewlig hieß, also „Garten am Fluss“. In gewisser Weise wäre ich unserer Herkunft treu geblieben, aber ob Vater das als Argument …?
An jenem Tag in Fulda hatte mir die Nonne nicht nur die Gästepforte geöffnet, sondern eine ganze Welt. Hinter dieser Tür, die direkt in die Klostermauer gebaut war, wurde ich nicht nur erst als Gast und später als Lehrling empfangen, sondern gemäß der benediktinischen Tradition von einer Fremden zu einer Freundin. Das ist fast zwanzig Jahre her und ich habe deshalb noch nie ausführlich darüber erzählt, weil ich unter keinen Umständen mit meinen Erlebnissen und Erinnerungen vor die Schwestern treten wollte, sondern meinen Platz immer hinter ihnen sah. Ich wollte, dass ihre fabelhafte Gartengeschichte leuchtet und sonst nichts. Die Gastfreundschaft und das Vertrauen der Schwestern waren mir so heilig, dass ich mich ohnehin nicht traute, etwas über sie zu erzählen, das über den Garten und die Gartenprodukte hinausging.
Auch wenn „die“ Kirche und „die“ Klöster öffentliche Institutionen sind, haben die Bewohnerinnen ein Recht auf Schutz ihrer Privatsphäre, denn es ist ihr Zuhause. Man verletzt die Klausur schließlich nicht nur, wenn man sie mit Schritten betritt, sondern auch mit Indiskretionen. Ursprünglich schrieb ich die Gartengeschichte der Nonnen aus Fulda als Dankeschön dafür, dass sie mich aufnahmen. In so einer Geschichte hatte ich nichts verloren, und so wurde es keine Ich-Erzählung. Umgekehrt aber erfuhr ich von den Nonnen, dass sie die ganze Sache viel lockerer nahmen als ich. Die Schwestern erzählten bei jeder sich bietenden Gelegenheit Stories über mich, vor allem Schwester Gertrud und Schwester Angela überboten sich in zärtlichem Spott und sowieso ist eine unserer Lieblingsbeschäftigung immer gewesen, uns gegenseitig zu foppen und zum Lachen zu bringen. Meine Geschichte mit den Nonnen aus Fulda ist, das finde ich mittlerweile, sehr wohl erzählenswert. Ein enges Band, über Herkunft und Religion hinaus geknüpft, verbindet uns. Zusätzlich hat sich im vergangenen Jahrzehnt etwas Wesentliches verändert. Die meisten Nonnen, mit denen ich es zu hatte, leben nicht mehr.
An diesem Spätsommertag jedenfalls stellte sich die Nonne mit ihrem Namen vor und bat mich, ihr zu folgen. Ich lief den langen Gang hinter Schwester Scholastika her, mal bogen wir rechts herum ab, dann links herum. Ich hatte das Gefühl, bereits im Kloster zu sein und nicht mehr vorne beim Gästeempfang. Schwester Scholastika öffnete mit einer Hebevorrichtung ein Fenster und lud mich ein, durchzugucken. Ich war aber zu klein, also holten wir einen Stuhl, doch immer noch reichte meine Körpergröße nicht aus, durch das hohe Fenster zu schauen. Ich stellte mich auf die Lehne und die alte Schwester Scholastika stemmte sich gegen meine Beine, damit ich, wenn ich falle, auf sie falle und nicht auf den harten Steinboden. Ich fiel aber nicht.
Aus dem Fenster erhaschte ich einen Blick in den Klostergarten. Ich sah hohe Sonnenblumen, Obstbäume und einen Rosenbusch. Ich erhaschte nur einen winzigen Ausschnitt des Gartens und wusste sofort: Hier bin ich richtig! Ich habe in meinem Leben nicht oft dieses Gefühl gehabt, dass ich meinen Ort auf Anhieb erkenne. Er war genau die Art von Garten, den ich verstehen und bewirtschaften wollte. Meine Überwältigung über die Farben und die Wildheit und Sinnlichkeit dieses Gartens waren unermesslich. Ich wollte, nein, ich musste dorthin und lernen. Schwester Scholastika hatte mir lange zugehört und fand weder meinen Auftritt noch mein Anliegen lächerlich oder seltsam. Sie bat mich, alles das, was ich ihr erzählte, in einem Brief aufzuschreiben, damit sich die gärtnernden Nonnen darüber beraten konnten, ob sie mich einladen und kennenlernen möchten.
In dem Brief beschrieb ich meine Sehnsucht, praktisch und anschaulich üben zu wollen und nicht so, wie das Wissen einem im Gartenbaustudium oder einer klassischen Gärtnerinnenlehre vermittelt wird. Ich brauchte Meisterinnen, die mir von der Pike auf zeigten, wie man einen Boden für Mischkulturen bewirtschaftet. Nicht aus Büchern wollte ich lernen, sondern am und im Boden. Nicht Dozenten im Hörsaal zuhören, sondern Gärtnerinnen im Feld, die mir gleich an Ort und Stelle erzählen, was zu tun ist und weshalb. Ich betonte in meinem Brief, dass ich nicht auf Sinnsuche war und bereits einen Beruf hatte, den ich erfolgreich ausübte. Ich erzählte von dem Gefühl, nicht fertig ausgebildet zu sein. Ich bekam umgehend Antwort. Man lud mich zu einem zweiwöchigen Praktikum ein. Ein Gästezimmer sei vorhanden, ich solle meine Ankunft mitteilen. Und wieder wurden keine Fragen gestellt, niemand schien es ungewöhnlich zu finden, dass eine junge Frau zum Lernen vorbeikommen will.
Als ich meinen Brief schrieb, ahnte ich noch nicht, wie richtig ich mit meinem Wunsch nach Praxiserfahrung und Bodenkunde in genau diesem Kloster war. Die Abtei Fulda ist der Bodenspezialist, mit einer jahrzehntelangen Erfahrung als Biogärtnerei. Freilich, als sie damit begannen, umschrieb man diese Art der Bewirtschaftung mit Begriffen wie „naturnah“. Zudem umfasste ihr Wissen nicht nur eine Art des Ackerbaus, sondern (außer dem Getreideanbau) die gesamte Gartenkultur mit Gemüse, Obst, Blumen und Kräutern. Außerdem waren Gewächshäuser vorhanden, in denen sie Samen zogen, und auch Brühen und Jauchen wurden angesetzt. Dabei leiteten die gärtnernden Benediktinerinnen ihre Theorien aus dem Probieren und Experimentieren ab, nicht umgekehrt.
Als Klostergarten-Praktikantin bekam ich das Bonifatiuszimmer zugewiesen. Ein Schreibtisch, ein Stuhl, ein Schrank, Bett und Waschbecken. Außerdem wurden mir die Essens- und Gebetszeiten mitgeteilt. Am Abend wurde das große Klostertor geschlossen, ich stand hinter dem Gitter und schaute auf die kleine Gasse herunter. Dann ging ich hoch in mein Zimmer. Es war neun Uhr, alles schlief. Von meinem Fenster aus schaute ich in den Gästegarten auf eine blaue Sitzbank. Hinter der Klostermauer, die mit Clematis bepflanzt war, leuchtete der Busbahnhof. Ich war mitten im Zentrum von Fulda und doch weit weg von allem.
Am nächsten Morgen bekam ich gemeinsam mit einem Priester das Frühstück serviert (für den Sonntagsgottesdienst reist immer ein Priester an). Anschließend lief ich einmal um die ganze Klostermauer herum, also die Nonnengasse wieder herunter, quer über den Parkplatz vom C&A. Auf der anderen Seite angekommen, wo die Wirtschaftsgebäude des Klosters stehen, sollte ich nicht an der Lieferantentür klingeln, sondern am Haus daneben, wo sich das Humofix-Büro befand und Schwester Fortis den Pfortendienst verrichtete. Ich bimmelte, kurz darauf operettete eine fröhliche Schwester Fortis: „Da ist sie ja endlich!“ Die Tür wurde geöffnet und ich fest an Frau Fortis’ Busen gedrückt: „Ich habe schon von ihr gehört, sie will lernen.“ Sie sprach mich in der dritten Person an, wie fast alle Nonnen, die schon über achtzig Jahre alt waren. Hinter der kleinen und kugelrunden Schwester Fortis tänzelte Schwester Vera zu uns und flötete „die Mely, die Mely!!“, neben ihr lächelte eine freundlich schauende Nonne, es war Schwester Christa. Sie nahm mich sofort unter ihre Fittiche und zeigte mir das wundersame Universum namens Humofix-Büro.
Schwester Vera war als Verpackungskünstlerin eine Art Christo des Klosters und zuständig für den Versand. Sie zeigte mir später, wie man die kompliziertesten Dinge richtig einwickelt. Der Witz an der Sache war, dass Schwester Vera noch zwei Köpfe kleiner als ich war, extrem drahtig und schlank. Es war absolut nicht zu verstehen, wie eine so kleine zarte superalte Frau Pakete von bis zu 50 Kilogramm verpacken und durch die Gegend wuchten konnte. Meine Ankunft hatte sich herumgesprochen und ganz offensichtlich war es wohl doch ungewöhnlich, dass jemand wie ich an so einen Ort kam. Jede Nonne, die ich an diesem Tag traf, wusste meinen Namen, meinen Beruf, meinen Wohnort, einfach alles. Am Computer saß Schwester Ursula, die die Telefone und die Bestellungen koordinierte. Schwester Fortis malte von Hand die Titelblätter der Gartenbroschüren aus, ständig läutete es, Türen, Tore und Pforten mussten entweder geöffnet oder geschlossen werden. Ich wusste gar nicht, wohin zuerst schauen, wohin die Wahrnehmung lenken, es war irgendetwas um halb neun Uhr herum, der Tag begann gerade, es herrschte fröhliches Gewimmel. Schwester Christa zog mich sanft aus dem Humofix-Haus hinaus in den Garten.
Da war ich endlich. Die Gewächshäuser, die Beete, die vielen Schuppen voller Werkzeuge, Saatgut und Sonnenhüte. Die Kompostecke, die Blumen, auch etwas Rasen, hier und da ein Unterstand, ein alter Gartenstuhl, eine Katze, Kirchturmspitze, die vielen Zellenfenster, die in den Garten schauen, hohe Beete, niedrige Beete, gerade Reihen mit Bohnen, dann wieder pittoreskes Durcheinander mit bunten Gräsern und Päonien, ich war nun „drin“, und offiziell „die Praktikantin“. Schwester Christa hatte ursprünglich vor, mich herumzuführen, aber immer kam irgendwer und fragte sie etwas. Sie sprang mal hierhin und dorthin, kam wieder zurück, fing an zu zeigen und zu erklären, bis erneut jemand kam …, irgendwann sagte sie: „Jetzt stellen wir dich Schwester Agatha vor.“
Sie ging mit mir in einen Teil des Gartens, wo eine sehr alte, sehr schöne Frau in der blauen Arbeitstracht im Garten stand und jätete. Völlig gedankenversunken kramte sie in der Erde. Schwester Christa aber sagte: „Schwester Agatha, ich möchte Ihnen Mely vorstellen, sie ist jetzt da“, aber Schwester Agatha rührte sich nicht. Schwester Christa sprach einfach weiter: „Ich lasse Ihnen die Mely hier. Sie sagen ihr, was sie tun soll“ und ließ mich einfach dort stehen. Schwester Agatha jätete weiter, ich stand herum und wusste nicht, was nun. Da sagte sie plötzlich: „Die Erde muss gelockert werden, bald wird es regnen“, oder: „Das hier muss weg, das soll sie wegnehmen.“ Sie sprach die Sätze so leise, dass ich zunächst nicht begriff, dass sich darin schon Handlungsanweisungen befanden. Nachdem ich aber kapiert hatte, bückte ich mich und nahm die Wurzel auf. „Wohin damit, Schwester Agatha?“, „Sie soll in den Schuppen gehen und einen Korb holen.“ Also lief ich los und suchte einen Schuppen, um einen Korb zu finden, was natürlich nicht leicht war, denn es gab viele Schuppen und viele Körbe. So ging es den ganzen Morgen. Sie soll dies holen, sie soll das holen, ich trug Dinge von A nach B. Irgendwann fasste ich Selbstvertrauen und wagte zu fragen: Was ist das für eine Pflanze, warum stecken Sie diese Wurzel wieder zurück in die Erde, und die von eben sollte weg?
An diesem Morgen, so habe ich es in mein Gartentagebuch notiert, lernte ich die Wolfsmilchgewächse kennen, und dass auf einem dreißig mal dreißig Zentimeter großen Gartenfleckchen Johannisbeere, Feldsalat, Löwenzahn, Goldlack wachsen können. Ich sah den gelben Heinrich, fand Narzissenzwiebeln und lernte den Muskatellersalbei vom rosafarbenen Salbei zu unterscheiden. Winterling und Purpurglöckchen und so weiter, es ging so schnell, ich kam nicht dazu, die Namen in mein Büchlein zu notieren. Auch in den folgenden Tagen musste ich mir alles merken und kam erst am Abend dazu, die Pflanzennamen aufzuschreiben. Immer lernte ich beide Begriffe, den im Volksmund gebräuchlichen deutschen Namen und die offizielle lateinische Bezeichnung, die alle Botaniker auf der ganzen Welt kennen. Mein Drang und meine Gier zu lernen, waren übermächtig. Ich hatte Glück. Schwester Agatha hatte sich ganz offensichtlich entschieden, mich zu mögen, also erklärte sie mir viel. An sich war sie nämlich wortkarg, etwas eigensinnig, mundfaul auch, vor allem aber war sie mit über neunzig Jahren biblisch alt. Es gab natürlich auch jede Menge Missverständnisse. So schickte sie mich mal „nach Jericho“. Aber sie verriet mir nicht, dass Jericho den Garten hinter dem Humofix-Büro meinte, wo die Quitte stand. Ich dachte natürlich, dass es eine Art Fluch sei, so wie man jemanden „zur Hölle“ schickt. Dabei war Schimpfen und Meckern gar nicht ihre Art. Natürlich war Schwester Agatha bewusst, dass sie mich damit verwirrte, aber manches klärte sie einfach nicht auf. Sie ging davon aus, dass ich es selber herausfinden würde. Sie war nicht nur Gärtnerin, sondern auch Hausmeisterin. Candy, ein ehemaliger Extremsuffi und Schwerstdrogendraufi, komplett bis zur Halsschlagader durchtätowiert, war als Resozialisierungsmaßnahme zur Arbeit im Kloster verdonnert. Schwester Agatha war sein Boss und wie ein Satellit umkreiste er sie, damit er ihre Aufträge annehmen konnte. Candy und ich waren schon aus ästhetischen Gründen zwei absolute Ausnahmeerscheinungen in diesem Garten, aber beide waren wir von Schwester Agathas natürlicher und gleichzeitig äußerst vornehmer Art völlig in den Bann gezogen. Wie ein Knastwärter trug Schwester Agatha einen riesigen, überdimensionalen Schlüsselbund bei sich, für den ehemaligen Knasti Candy sicher ein gewohnter Anblick. Niemals gab Schwester Agatha diesen Schlüsselbund aus der Hand. Candy und alle anderen Handwerker, die von außerhalb kamen, ließen sich von Schwester Agatha nicht nur genau erklären, was gemacht, sondern auch wie es gemacht werden sollte. Sie war ein Supermeister, egal ob es um Elektroleitungen ging, Sanitärangelegenheiten oder das Dach, sie wusste über absolut alles Bescheid.
Ich lernte von ihr, wie Gründüngung funktioniert, sie erzählte mir, wie sie das Wetter für den nächsten Tag erkennt, und auch wenn ich kolossale Scheiße gebaut hatte, nahm sie mich in Schutz und brachte die Sache in Ordnung. Sie half mir später auch, das Buch zu schreiben. Ich kann aus vollem Herzen sagen, sie war mir eine wirkliche Lehrerin. Manchmal verliert man Menschen, die kostbar sind und unersetzlich, und noch während sie leben, betrauert man in vorauseilender Trauer ihren Verlust. Sie war so jemand für mich.
Meine Erinnerung an die Klosterzeit geht tief und ist lebendig. Ich kann in Gedanken die Zeiten, die ich dort ein- und ausging, wie ein Buch vor- und zurückblättern. Das zweiwöchige Praktikum endete damit, dass wir beschlossen, dass ich komme, wann immer ich es einrichten konnte. Aus anfänglich ein paar Wochen wurden ein paar Monate und einmal auch fast ein ganzes Jahr.
Wenn es etwas gibt, das mich nachhaltig berührt, ist es der Kreuzgarten. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr es war, als Schwester Christa mich in diesen besonderen Garten mitnahm, der normalerweise strikt von der Öffentlichkeit abgeschirmt wird. Der Klostergarten innerhalb der Klostermauer zählt zwar auch zur Klausur, dennoch werden dort gelegentlich externe Mitarbeiter oder Besucher empfangen. Der Kreuzgarten hingegen ist eine Zone, die nur von den Nonnen betreten wird und sich im Innenhof des Klosters befindet. Er ist nicht nur architektonisch das Herz des eigentlichen Gebäudes, dort beten die Nonnen oder schweigen oder schauen aus ihren Zellen zu ihm hinunter.
Schwester Christa ließ mich den Kreuzgarten bepflanzen. Die Arbeit dort unterschied sich sehr von der Arbeit im Klostergarten. Im großen Garten kam es nicht auf mathematische Genauigkeit an. Wenn ich Bohnen oder Tomaten setzte, reichte eine Schnur. Im Kreuzgarten aber nahmen wir zentimetergenau Maß und hielten uns an einen Gartenplan, den Schwester Christa von einem Gartenbüro zeichnen ließ. Es gibt horizontale und vertikale Linien, und wer von oben schaut, sieht den Brunnen in der Mitte und Quadrate. Alles muss symmetrisch sein, damit Auge und Gemüt in der Geometrie Ruhe finden. Wir wandelten den Plan nur ganz leicht ab. Ich schnitt die alten Buchsbäume freihändig rund und pflanzte neuen Buchs. Buchsschneiden ist eine dieser Tätigkeiten, bei der es darum geht, rechtzeitig aufzuhören, weil von der vielen Schnippelei womöglich bald kein Buchs mehr übrig bleibt. Der zartblättrige rote kanadische Ahorn raschelt friedlich in den Ecken des Innenhofs. Die strenge formale Struktur macht aus dem Gartenraum einen meditativen Ort. Oft ließ mich Schwester Christa im Kreuzgarten allein, weil sie mir vertraute. Alles, was sie über Rosen wusste, hatte sie mir längst beigebracht. Ich hatte das Wurzelgeflecht der alten Rosen aus dem Kreuzgarten beschnitten, mit Ackerschachtelhalmbrühe desinfiziert und in den großen Garten umgesetzt. Die neuen Rosenstöcke beschnitt ich genauso, wie sie es mir gezeigt hatte: Ich zählte die Augen von oben herunter und schrägte die Schnittfläche an, damit Regen und Feuchtigkeit abfließen können, um so die Gefahr für Pilze zu minimieren. Anschließend schlämmte ich die Stöcke in die Erde und umrandete sie mit Lavendel. Immer abschätzend, wer ungefähr in welche Richtung wachsen wird, damit die Volumina später stimmen. Es war eine anstrengende Arbeit, weil es viel regnete und ich im nassen Schlamm manchmal die Übersicht und das Gefühl für Genauigkeit verlor. Am letzten Arbeitstag verließ ich den Kreuzgarten, wissend, dass ich mit jeder Pflanze meine besten Wünsche für die Schwestern in die Erde gesteckt hatte.
Nach und nach lernte ich diesen Traumort Klostergarten in Fulda auch historisch besser kennen. Die Schwestern teilten mir gerne und bereitwillig ihre Erinnerungen und Geschichten mit. Ich traf sie nicht nur im Kloster, es kam gelegentlich auch vor, dass ich eine Nonne an ihrem Urlaubsort besuchte oder dass jemand von ihnen zu mir nach Berlin kam und ein paar Nächte bei mir übernachtete. Die tiefe Verbundenheit rührt daher, dass wir uns einander wichtig sind, weil ich ich bin und sie sie. Es ist kein Geheimnis, dass ich keine Christin bin. An keinem Ort hat das jemals weniger eine Rolle gespielt als dort. Ich habe die Benediktinerinnen in Fulda als weltoffenste Frauen meines Lebens kennengelernt. Als Feministinnen und Visionärinnen. Als es mal wieder aus politischen Gründen Scheißestürme der Bedrohung von Rechtsradikalen über mich regnete, waren es die Nonnen, die Schutz boten und sagten: „Komm zu uns.“ Als ich ein Buch über Sexualität und Körperlichkeit schrieb, war die einzige Person, die das Buch richtig las und dem Thema die angemessene Bedeutung beimaß, Schwester Christa. Mit niemandem konnte ich über den Körper, das Leben, das Frausein und die Sexualität so offen reden wie mit ihr. Auch meine Familie wurde in das Kloster eingeladen. Ich vergesse nie, wie mein Vater mit der ehemaligen Äbtissin Mutter Maria im Garten tanzte, und nie, wie ich vor meinen Operationen Angst hatte und die Schwestern bat, für mich zu beten. Dieses Kloster ist eine Schule des Sehens und Säens, ein Ort der Freundinnenschaft, ein Ort all jener Worte, die in politisch dunklen Zeiten kaum mehr auszusprechen sind, weil sie so diskreditiert sind; Menschlichkeit und Toleranz, sind zwei dieser Begriffe, die derzeit so rar sind in dieser Welt. Die Benediktinerinnen in Fulda sind tolerante Frauen, aufrichtige Demokratinnen, Weltbürgerinnen im Geist, die mit wachem Verstand die Welt sehen und kritisieren. Es gibt keinen zweiten Ort für mich, an dem ich so viel geschenkt bekam wie dort. Und ja, natürlich habe ich auch mit den Schwestern zusammen gebetet und versucht zu verstehen, was ihnen ihr Glaube bedeutet. Habe die Bibel studiert, die Benediktinische Regel gelesen, mich mit alttestamentlichen Wissenschaften befasst, versucht, meinen Bildungshorizont zu erweitern. Mit einem Priester aus dem Kloster Maria Laach pflege ich eine lange währende Brieffreundschaft, auch das verdanke ich dem Kloster in Fulda, denn dort traf ich ihn. Immer ist es ein offener Austausch unter erwachsenen Menschen und nicht zwischen Katholiken und einer Alevitin. Sich einander Glaubensgeschichten zu erzählen, Gottesbilder zu beschreiben, das Mysterium Leben zu ergründen, waren wie selbstverständlich gelegentlich auch Teil der Gespräche.
Ich glaube, ich habe verstanden, was es bedeutet, Nonne sein zu wollen. Für mich käme es nicht in Frage, diesen Beruf zu wählen. Das hat nichts mit Religion oder „der“ Kirche zu tun, sondern damit, dass ich gerne allein bin und nicht gut darin, in einer Gemeinschaft zu leben. Mein Respekt und meine Hochachtung für diesen Lebensentwurf sind mit Worten nicht zu beschreiben. Ja, ich bewundere die Nonnen, ich bewundere, dass sie an etwas glauben können und dass sie für die Welt beten. Ich finde das uneigennützig, schön und mag alles daran.
Schwester Clara hat für mich Vögel aus Holz geschnitzt, manchmal saß ich mit ihr in der Holzwerkstatt. Schwester Vera brachte mir immer einen frischen Strauß Blumen aus dem Garten und stellte ihn mir auf den Schreibtisch, als ich die Gartengeschichte schrieb. Mit Schwester Gertrud stand ich manchmal in der Waschküche und half etwas. Wir phantasierten darüber, wie es wäre, wenn ich im Kloster leben würde, weil ihr der Gedanke so gefiel. Manchmal noch schickt sie mir Bilder von den kunstvollen Blumengestecken, mit denen sie die Kirche schmückt. Mit Schwester Angela fuhr ich mal zu ihrer Familie nach Süddeutschland, lernte ihre Mutter, ihren Bruder, ihre Schwägerin kennen, herrliche Leute. Wir hatten eine Lesung in ihrer Heimatstadt, das Publikum begegnete ihr mit unglaublicher Bewunderung, kein Mensch interessierte sich für mich, sie war der strahlende Mittelpunkt, und sehr lustig ist sie auch. Als wir in Fulda ankamen (ich war froh, dass wir lebend ankamen, sie fährt, nun ja, sehr „dynamisch“), war sie wieder eine von vielen, kein Geschiss, keine Allüren. Mit Schwester Candida trafen wir uns ganz klassisch im Sprechzimmer, weil ihr die alten Gebräuche etwas bedeuteten. Sie lektorierte gewissenhaft meine Texte, und wenn ich ihr eine Schachtel Pralinen ins Zimmer schickte und eine Grußbotschaft dazu, dann kam auch die Grußbotschaft mit Korrekturen, Anmerkungen und Änderungsvorschlägen wieder zurück. Mit Schwester Fidelis nickten wir uns freundlich in der Kirche zu, mit Schwester Ursula sprach ich gelegentlich über ihr Studium in Frankfurt und die RAF, ein sagenhaft wacher Geist. Schwester Scholastika nahm meinen Arm, wenn sie mich sah, und wir spazierten eine Runde durch den Garten, aber eigentlich benutzte sie mich als Gehhilfe, und wenn sie da ankam, wohin sie wollte, grinste sie und sagte, „Ha, ausgetrickst!“. Mit Schwester Fortis plauderten wir über Mode und Make-up. Wenn ich mal im Kloster wohnte und von dort zu einem Auftritt musste, bestellte ich mir ein paar Klamotten und ein paar Schuhe zu ihr ins Büro und dann bat sie mich, mir die Fummel mal überzuwerfen und fand das „wunder-baaaar“. Mit der Äbtissin Schwester Benedikta verbindet mich ein Verhältnis, das ohne viele Worte auskommt, sie begegnet mir stets mit einer opulenten Portion Geduld und Großzügigkeit – ohne ihren Segen wäre ich sicher nicht so offen aufgenommen worden.
Schwester Agathas Auftreten war einzigartig und einmalig, ihr Fleiß, ihre Disziplin, die Opferbereitschaft, mit der sie sich in den Dienst ihrer Kommunität stellte, war aus meiner Sicht betrachtet nahezu überirdisch. Ich erinnere mich, wie wir uns einmal im Sprechzimmer trafen und sie mich mit ihren Tagebüchern überraschte, die sie mir übergab, damit ich sie lesen und die Jahrzehnte nachvollziehen sollte. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Und auch das Vertrauen, das sie mir entgegenbrachte. Aber vielleicht tat sie das nicht (nur) für mich. Sondern (auch) für den Garten, ihr Lebenswerk.
Und Schwester Christa. Sie weihte mich in ihr Wissen ein, nahm mich in die Lehre. Sie hat mir ermöglicht zu lernen. Dabei brachte sie mir nicht nur bei, wie man sich im Garten möglichst nützlich anstellt, sondern auch am Schreibtisch, wenn man über das Gärtnern schreibt. Schwester Christas Werk umfasst nicht nur einen herrlichen Garten, sondern zahlreiche Gartenbücher und Gartenschriften. Als Ingenieurin für Gartenbau hat sie ein technisch und wissenschaftlich ausgebildetes Verständnis für den Garten, als Gärtnerin ist sie ungeahnt sinnlich. Sie ist Nonne, Ingenieurin und Gärtnerin, aber auch Künstlerin. Man erkennt ihren Garten sofort. Pfingstrosen, Iris, Rittersporn und Akeleien, dazu alle möglichen Sempervivum-Arten sind ihre gärtnerische Handschrift. In einen Walahfried Strabo-Garten (ein Kräutergarten nach dem Vorbild des Abtes von Reichenau aus dem Mittelalter) hat sie, historisches Vorbild hin oder her, mitten hinein Melonen gepflanzt. Geordnetes Durcheinander, ihre Kreativität ist grenzenlos und auch ihr Humor. Wenn sie mich im Garten erwartete, lief sie mir mit wehendem Schleier entgegen, die Arme weit ausgebreitet. Sie und Schwester Agatha haben mir beigebracht, die Natur und ihre Bedürfnisse zu dechiffrieren und zu beobachten. Die Sprache des Gartens kann nur erlernen, wer Geduld hat. Frust hat in einem Garten nichts verloren. Ich empfand die Gartenarbeit als etwas Sinnstiftendes, hinterher hatte ich oft ein ruhiges Herz. Von beiden Gartenschwestern lernte ich, dass man dem Garten mit Empathie begegnen muss. Schwester Christa stand manchmal nachts auf und goss, weil es doch nicht geregnet hatte und sie sich um die Jungpflanzen sorgte.
Beim Blick auf einen Baum, einen Busch, sieht sie immer etwas, das nicht im Gartenbuch steht, sondern von Erfahrung geprägt ist. Ihr Blick auf die Welt, auf das, was auf ihr wächst, und auf das Leben, zu dem die Tiere, das Wasser, die Wolken und erst dann der Mensch gehören, ist liebenswürdig.
Alle diese Frauen gaben mir so viel. Und dieser Garten. Dieser Garten.
Berlin im Januar 2024