KAPITEL 17

Jeanette hasste den Desinfektionsmittelgeruch im Krankenhaus. Ebenso hasste sie die quietschenden Geräusche der Schuhe des Pflegepersonals, das in den Gängen hin und her eilte. Und beim ständigen Piepen der Maschinen, die Atmung und Herzschlag überwachten, zog sich ihr innerlich alles zusammen. Hätte Tom ihre Hand nicht mit festem Griff gehalten, sie hätte womöglich die Flucht ergriffen.

Vor dem Eingang zur Intensivstation zögerte sie. »Vielleicht sollte ich zuerst meine Mutter suchen. Wahrscheinlich ist sie im Warteraum.«

»Wie du willst«, erwiderte Tom. »Ich glaube, der ist gleich den Flur runter.«

Hin- und hergerissen zwischen zwei unerfreulichen Möglichkeiten stand sie da. »Nein, ich bin noch zu wütend auf meine Mutter«, entschied sie schließlich. »Ich will nicht gleich mit ihr zum Streiten kommen.«

»Okay, dann geh rein und verbring ein paar Minuten bei deinem Vater. Ich besorge uns inzwischen Kaffee.« Er musterte sie mit besorgter Miene. »Oder soll ich lieber mitkommen? Ich bleibe natürlich im Hintergrund. Dein Vater würde mich gar nicht bemerken.«

»Auf dem Schild steht, dass nur Angehörige reindürfen«, sagte sie und zeigte auf die ausführliche Liste der Regeln an der Tür.

Jeanette sah ihm nach, als er davonging. Sie musste dabei gegen den Drang ankämpfen, ihm nachzulaufen. Wie hatte er sich plötzlich in jemanden verwandelt, auf den sie zählen konnte? Jemand, von dem sie sich vertrauensvoll durch diese Krise helfen ließ? Sie hatte keine Ahnung.

Schließlich holte sie tief Luft, drückte den Knopf, der die Türen aufschwingen ließ, und betrat die Abteilung. Wie sich herausstellte, bestand sie aus sechs kleinen, mit modernster Technik vollgestopften Geräten um eine Schwesternstation in der Mitte herum. Jeanette hielt eine vorbeigehende Pflegerin an.

»Ich suche Michael Brioche.«

»Gehören Sie zur Familie?«

»Ich bin seine Tochter.«

»Hier entlang«, forderte die Krankenpflegerin sie mit einem mitfühlenden Blick auf. Auf ihrem Namensschild stand Patsy Lou. »Es hat ihn zwar ganz schön schwer erwischt, aber wir hoffen, dass die Antibiotika wirken. Lassen Sie sich von den vielen Schläuchen und dem Beatmungsgerät nicht erschrecken. Das soll ihm alles nur helfen, gesund zu werden.«

Jeanette schluckte schwer. »Er atmet nicht selbstständig?«

»Keine Panik«, beruhigte Patsy Lou. »Wir sind schon dabei, ihn nach und nach wieder von der Maschine zu nehmen. Das war nur eine vorübergehende Unterstützung, während seine Lunge Mühe hatte, genug Sauerstoff zu bekommen.«

»Ist er wach?«

»Immer wieder mal, aber er bekommt die meiste Zeit starke Beruhigungsmittel, damit er sich nicht gegen das Beatmungsgerät wehrt.«

Als Jeanette den kleinen, verglasten Raum betrat, schnappte sie nach Luft. Beide Beine ihres Vaters steckten in einem Gips, eines bis zum Knie, das andere bis zur Hüfte. Seine blasse Haut wirkte wächsern. Das dichte Haar, einst so dunkel wie ihres, war fast völlig weiß geworden. Jeanette konnte in ihm kaum den strammen, kräftigen Mann erkennen, den sie vor einem Jahr bei ihrem letzten unerfreulichen Besuch zu Hause gesehen hatte.

Langsam näherte sie sich dem Bett und zog einen Stuhl daneben. Sie hatte so damit zu tun, den Anblick des bewegungsunfähigen Mannes vor ihr mit ihrem stets vor Tatendrang strotzenden Vater in Einklang zu bringen, dass sie kaum mitbekam, wie die Krankenschwester ging und sie im Zimmer zurückließ.

»Papa«, flüsterte Jeanette und berührte seine auf dem Laken liegende Hand. Sie schien als Einziges von ihm nicht an Drähte oder Schläuche angeschlossen zu sein. Die Finger fühlten sich so warm und schwielig an, wie Jeanette es in Erinnerung hatte. Sein Unterarm und seine Hand waren von der Arbeit im Freien gebräunt. Nur an der Stelle des Eherings zeichnete sich deutlich ein Streifen weißer Haut ab. Dass er ihn nicht anhatte, ließ ihn noch verletzlicher wirken. Sie fädelte die Finger zwischen seine.

»Ach, Papa, was machst du für Sachen?«, fragte sie mit Tränen in den Augen.

Zu ihrem Schrecken rührte er sich leicht, beinah so, als hätte er sie gehört.

»Nicht bewegen«, sagte sie ihm. »Du musst dich ausruhen und zu Kräften kommen. Ich bleibe hier, bis es dir wieder besser geht.«

Vielleicht lag es nur am Beatmungsgerät, aber bei ihren Worten schien ein stockendes Seufzen durch seinen Körper zu gehen. Sie wollte glauben, dass er ihre Anwesenheit wahrnahm und sich darüber freute. Wahrscheinlich nur Wunschdenken.

Aber das spielte keine Rolle. Sie hatte nicht vor zu gehen, bevor er außer Lebensgefahr wäre und ihr selbst sagen könnte, dass sie verschwinden sollte. Vielleicht jedoch würde er sie stattdessen ausnahmsweise bitten zu bleiben.

* * *

Als Tom mit drei Becher Kaffee aus der Cafeteria zurückkam, entdeckte er Jeanettes Mutter im Wartezimmer. Unverwechselbar. Sie hatte dieselben dunklen Augen wie ihre Tochter, wenngleich sie tief in den Höhlen lagen und Besorgnis aus ihnen sprach. Ihr Gesicht wies dieselben jungenhaften Züge auf, nur wirkten sie bei ihr abgehärmt. Ihr geblümtes Baumwollkleid war ausgebleicht vom oftmaligen Waschen, aber ordentlich gebügelt. Und die Frau besaß immer noch dieselbe zierliche Gestalt wie ihre Tochter. Sie ließ einen Rosenkranz durch die Finger gleiten, während sich ihre Lippen leise bewegten.

Tom trat an sie heran, unterbrach sie jedoch nicht. Er ließ sich in der Nähe nieder und wartete, bis sie aufschaute.

»Mrs. Brioche?«

Nach kurzer Verwirrung trat blankes Entsetzen in ihre Augen. »Geht es um Michael? Ist alles in Ordnung mit ihm? Ist etwas passiert?«

»Soweit ich weiß, ist alles in Ordnung. Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Ich bin kein Arzt. Ich bin ein Freund von Jeanette. Ich habe sie hergebracht.«

Sie sah sich im Warteraum um. »Sie ist hier?«

»Sie ist gerade bei Ihrem Mann. Ich hab Kaffee geholt. Möchten Sie welchen?« Er bot ihr einen der Becher an. Sie nahm ihn entgegen, trank aber nicht. Stattdessen hielt sie ihn in beiden Händen, als wärmte sie die Finger damit.

»Ich bin übrigens Tom McDonald«, stellte er sich vor. »Gemeindedirektor von Serenity.«

»Ich verstehe«, sagte sie zerstreut und stand auf. »Ich sollte Jeanette wohl holen. Man will hier nicht, dass wir zu lange drin bleiben.«

»Ich bin sicher, sie kommt bald«, erwiderte er. »Nutzen Sie die Gelegenheit für eine Pause. Möchten Sie etwas essen? Ich gehe gern noch mal in die Cafeteria und hole Ihnen eine Suppe oder ein Sandwich.«

Sie schüttelte den Kopf. »Sehr freundlich, aber nein. Ich bin nicht hungrig.« Ihr Blick wanderte zum Eingang der Intensivstation. »Wenn Jeanette bei ihrem Vater ist, gehe ich inzwischen in die Kapelle. Ich wollte nicht zu weit weg, solange niemand sonst hier war. Sie wissen schon, falls sich irgendetwas getan hätte.«

»Dann gehen Sie jetzt«, ermutigte Tom sie. »Ich richte Jeanette aus, wo Sie sind.«

»Sie fahren nicht gleich wieder, wenn sie herauskommt?«

»Ich denke nicht.«

»Na schön.«

Tom sah ihr nach, dann trank er einen Schluck von seinem Kaffee. Bitter, aber heiß. Während er sich die Begegnung mit Mrs. Brioche durch den Kopf gehen ließ, wusste er nicht recht, was er davon halten sollte. Natürlich sorgte sie sich um ihren Mann, aber sie hatte kaum einen Gedanken an Jeanette und daran verschwendet, wie es ihrer Tochter gehen mochte. Allmählich bekam er einen Eindruck davon, was Jeanette mit der Distanz in ihrer Familie gemeint hatte. Im Vergleich dazu schien seine eigene Familie geradezu vorbildlich zu sein. Trotz des lächerlichen Werts, den seine Eltern auf ihren gesellschaftlichen Status legten, trotz der häufigen und heftigen Meinungsverschiedenheiten über die Entscheidungen ihres Sohnes und ihrer Töchter und trotz ihrer unerwünschten Aufdringlichkeit hatte für ihn nie ein Zweifel daran bestanden, dass seine Schwestern und er geliebt wurden. Eher zu sehr. Als er sich beim Baseball am College verletzt hatte, war die gesamte Familie innerhalb weniger Stunden im Krankenhaus versammelt und trieb die Ärzte und das Pflegepersonal mit ihren Fragen in den Wahnsinn. Sein Vater wollte damals Spezialisten einfliegen, seine Mutter einen Caterer engagieren, um Tom angemessen verpflegt zu wissen. Wie so viele Südstaatenfrauen ihrer Generation setzte sie Essen sowohl mit Gastfreundschaft als auch mit Krisen gleich.

Als Tom aufschaute, sah er Jeanette langsam auf sich zukommen. Ihre Wangen glänzten feucht vor Tränen. Sofort sprang er auf. »Alles in Ordnung?«

Mit stumpfem Blick nickte sie. »Er atmet nicht mal mehr selbst«, brachte sie mit erstickter Stimme hervor. »Er ist an ein Beatmungsgerät angeschlossen, und beide Beine sind eingegipst. Es ist furchtbar.« Sie sah sich im Warteraum um. »Ich dachte, meine Mutter wäre hier.«

»War sie. Ich hab vor ein paar Minuten mit ihr geredet. Sie ist in die Kapelle gegangen. Bestimmt kommt sie bald zurück. Oder du könntest hingehen, wenn du willst, und vielleicht für deinen Vater beten.«

»Lass mich raten: Sie hat ihren Rosenkranz bearbeitet.«

»Stimmt.«

Jeanette seufzte. »Vor Bens Tod sind wir kaum je in die Kirche gegangen, außer an Feiertagen wie Weihnachten und Ostern. Es war nicht so, dass wir nicht religiös gewesen wären. Glaub ich jedenfalls nicht. Nur musste mein Vater die meiste Zeit im Jahr sieben Tage die Woche arbeiten, um die Farm über Wasser zu halten. Meine Mutter hat ihm auf den Feldern geholfen, und als wir alt genug waren, auch Ben und ich.«

Sie nippte an ihrem Kaffee und schloss die Augen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. »So hart wir damals gearbeitet haben und so erschöpft wir abends immer waren, das waren schöne Zeiten«, sagte sie leise. »Nach Bens Tod ist alles zerbrochen. Mein Vater ist noch länger auf den Feldern geblieben. Wenn er dann reingekommen ist, hat er gegessen und ist danach ohne ein Wort zu meiner Mutter oder mir ins Bett gegangen. Mama hat sich auf einmal der Kirche zugewandt. Sie ist jeden Tag hingegangen, hat Kuchen für die Basare und für die sonntägliche Sozialstunde gebacken. Ich bin mir nicht sicher, ob sie Bens oder ihre eigene Seele retten oder einfach nur der tristen Atmosphäre zu Hause entfliehen wollte.«

»Wenn es ihr Trost gespendet hat …«, begann Tom.

»Hat es nicht«, widersprach Jeanette. »Wenn einen etwas tröstet, sollte es einen aufmuntern, findest du nicht? Stattdessen hat sie sich dadurch von allem anderen zurückgezogen. Mein Vater hat gearbeitet, sie ging in die Kirche. Offensichtlich immer noch.« Jeanette blinzelte frische Tränen weg. »Mir ist gerade klar geworden, dass mein Vater durch seine Verletzungen lange nicht arbeiten können wird. Wie wird er so zurechtkommen?«

»Eine Sorge nach der anderen«, riet Tom. »Sehen wir erst mal zu, dass er sich erholt.«

Während er sprach, schaute er durch den Warteraum und entdeckte Jeanettes Mutter, die zögernd an der Tür stand. So sehr ihn störte, dass sie Jeanette offenbar völlig aus ihrem Leben ausgeschlossen hatte, so leid tat sie ihm auch. Sie wirkte entsetzlich verloren und allein. Seine guten Manieren setzten ein.

»Mrs. Brioche«, sagte er und stand auf.

Abrupt schaute Jeanette auf. »Mama!«

»Hallo, Jeanette«, grüßte ihre Mutter zurückhaltend.

Tom blickte zwischen den Frauen hin und her. Er sah Sehnsucht und Anspannung in Jeanettes Gesicht, Unsicherheit in dem ihrer Mutter. Und noch etwas … Er bückte sich und flüsterte Jeanette ins Ohr: »Sie braucht dich genauso sehr wie du sie. Ich gehe jetzt ein bisschen spazieren, damit ihr allein sein könnt.« Er legte ihr die Hand auf die Wange. »Okay?«

Einen Moment lang dachte er, sie würde widersprechen, dann jedoch nickte sie. »Aber bitte nicht zu lange.«

»Nur ein paar Minuten, versprochen.«

Als er an Mrs. Brioche vorbeiging, drückte er tröstend ihre Hand, dann ließ er die beiden allein. Er fragte sich, ob ein paar Minuten – oder sogar ein paar Tage – reichen würden, damit sie wieder zueinanderfinden könnten.

* * *

Trotz ihrer Wut von vorhin regte sich in Jeanette ein Anflug von Mitgefühl für ihre Mutter. Sie sah so verängstigt aus, so verloren. Der Anblick erinnerte sie nur allzu lebhaft daran, wie sie nach Bens Tod monatelang den Eindruck vermittelt hatte, dass sie keinen Sinn mehr in irgendetwas fand.

»Mama, bitte setz dich«, sagte sie schließlich, als ihre Mutter weiter an der Tür verharrte. »Außer, du willst gleich zu Papa.«

»Nein, das ist noch zu früh. Du bist gerade herausgekommen. Er muss sich zwischen den Besuchen ausruhen.«

»Dann setz dich.« Sie bemerkte die Erschöpfung, die aus den Augen ihrer Mutter sprach. »Hast du in letzter Zeit überhaupt geschlafen?«

Ihre Mutter zuckte mit den Schultern, als sie sich neben Jeanette setzte. »Eigentlich wollte ich abends immer nach Hause. Aber seit man ihn wegen der Lungenentzündung auf die Intensivstation verlegt hat, bin ich hiergeblieben. Hin und wieder gelingt es mir, ein bisschen zu dösen.«

»Was hältst du davon, wenn du Papa jetzt noch kurz besuchst und dann nach Hause fährst, um ein paar Stunden richtig zu schlafen? Wenn du dabei auch duschst und dich umziehst, wirst du dich viel besser fühlen. Ich bleibe hier, bis du zurückkommst.«

»Dein Freund, dieser Mr. McDonald, hat gesagt, dass er dich hergefahren hat. Muss er nicht zurück?«

»Kann er ja. Irgendjemand holt mich schon ab, wenn ich bereit zum Gehen bin.« Obwohl Maddie, Helen oder Dana Sue sofort herkommen würden, wusste sie, dass es nicht nötig sein würde. Tom würde nirgendwohin fahren. Ihr war der sture Ausdruck in seiner Kieferpartie aufgefallen, als er ursprünglich angekündigt hatte, sie herzufahren. Sie hatte vor ihm noch nie einen Mann gekannt, der nicht beim ersten Anzeichen einer emotionalen Schieflage das Weite gesucht hatte. Sobald diese Krise ausgestanden wäre, würde sie darüber nachdenken müssen.

»Seid ihr … Ist er dir wichtig?«, erkundigte sich ihre Mutter so zögerlich, als wüsste sie nicht recht, ob es ihr zustand, die Frage zu stellen.

»Er ist ein Freund«, sagte Jeanette.

Einen Moment lang flackerte ein wenig Leben in den Augen ihrer Mutter auf. »Das kann heutzutage alles Mögliche heißen«, sagte sie. »Ich sehe fern. Ich weiß alles über ›Freundschaft plus‹.«

Verblüfft schmunzelte Jeanette. »Mama!«

»Na ja, ist nun mal so.« Wie sich ihre Lippen dabei verzogen, erinnerte Jeanette daran, dass ihre Mutter früher mal einen verruchten Sinn für Humor besessen hatte.

»So ein Freund ist Tom nicht«, sagte Jeanette und errötete heftig. »Bei uns gibt es kein Plus.« Was aber nicht an mangelndem Verlangen liegt, ging es ihr durch den Kopf. Sie wusste, dass sich ihre Beziehung schlagartig ändern könnte, wenn sie es zuließe.

»Ich bin trotzdem froh, dass du jemanden in deinem Leben hast, auf den du zählen kannst«, meinte ihre Mutter. Sie sah aus, als wollte sie noch mehr dazu sagen. Stattdessen verstummte sie und starrte auf ihre Hände. Jeanette hatte das Gefühl, dass ein wichtiger und seltener Moment der Verständigung zwischen ihnen gerade zerronnen war.

Als ihre Mutter ihr wieder in die Augen sah, fragte sie: »Wie hat dein Vater gewirkt, als du bei ihm warst?«

»So still«, antwortete Jeanette. »Überhaupt nicht wie Papa.«

»Ich weiß. Es ist kaum zu ertragen, neben ihm zu sitzen«, gestand ihre Mutter. »Obwohl er in den letzten Jahren so still und zurückgezogen war, hat er immer so viel Kraft und Vitalität ausgestrahlt.« Ihre Lippen verzogen sich leicht, ihr Gesichtsausdruck wurde nostalgisch. »Habe ich dir je davon erzählt, wie ich ihm zum ersten Mal begegnet bin?«

»Ich glaub nicht«, antwortete Jeanette. Sie war gerade in das Alter gekommen, in dem ihre Mutter ihr alles Mögliche hätte anvertrauen können – und sie zugehört hätte –, als Ben gestorben war … und mit ihm jede Chance auf intime, offenherzige Gespräche.

»Es war ein glühend heißer Sommertag, und ich bin mit meinem Vater zur Farm gefahren. Hat eine Stunde oder länger gedauert. Er wollte mit Michaels Vater über irgendwas reden, ich wollte mich eigentlich nur vor der Arbeit zu Hause drücken. Michael hat auf einem großen alten Traktor gesessen. Er hatte eine ausgebleichte Jeans und ein enges weißes T-Shirt an, und ich dachte, mir würde bei seinem Anblick das Herz stehen bleiben. Er hat mir direkt in die Augen gesehen, ist vom Traktor gesprungen, auf mich zugekommen und hat mich angelächelt. Obwohl er etwas Großspuriges an sich hatte, sein Lächeln war so herzlich und süß, dass es mir den Atem verschlagen hat. Und weißt du, was er zu mir gesagt hat? Er hat gesagt, ich wäre das hübscheste Mädchen, das er je gesehen hätte, und dass er mich heiraten würde. Gleich bei der ersten Begegnung. Einfach so. Kannst du dir das vorstellen?«

»Kann ich tatsächlich«, sagte Jeanette lächelnd. Sie dachte daran, wie oft Tom schon etwas ähnlich Unerhörtes zu ihr gesagt hatte. »Was hast du erwidert?«

»Dass er schon mehr als schöne Worte braucht, wenn er will, dass ich mich mit ihm abgebe«, antwortete ihre Mutter. »Aber in Wirklichkeit war ich ihm von Anfang an verfallen, und das haben wir beide gewusst.«

»Wie lange hat’s gedauert, bis du nachgegeben und ihn geheiratet hast?« Jeanette fragte sich, ob es sich mit ihrer eigenen Situation vergleichen ließ und sie daraus Schlüsse ziehen könnte, was die Zukunft für sie bereithalten mochte.

»Also, die Antwort hat zwei Seiten«, erwiderte ihre Mutter. »Nachgegeben hab ich sehr viel früher, als ich eingewilligt habe, ihn zu heiraten.«

Jeanette konnte kaum glauben, was sie hörte. Ihre Augen wurden tellergroß. »Mutter!«

»Na ja, die Hochzeit musste warten. Ich war noch kaum achtzehn. Meine Eltern hätten nicht zugelassen, dass ich aus einer Laune heraus einfach so heirate. Natürlich hätten wir durchbrennen können. Aber ich wollte eine richtige Hochzeit, und dein Papa konnte mir nichts abschlagen, was ich von Herzen wollte. Also haben wir gewartet. Wir haben auf den Tag genau ein Jahr nach unserer ersten Begegnung geheiratet. Das Datum hat dein Vater ausgesucht. Das hat mir bewiesen, wie romantisch er ist. Er hat die Bedeutung dieses Tags nie vergessen.«

»Hast du es je bereut?«

»Nicht eine Minute«, antwortete ihre Mutter sofort. »Weißt du, ich steige an unserem Hochzeitstag noch heute zu ihm auf den Traktor, und wir drehen eine Runde um die Farm.«

Jeanette dachte zurück. »Daran erinnere ich mich.« Erstaunen breitete sich in ihr aus. »Nur hab ich bisher nie verstanden, was es bedeutet hat. Das restliche Jahr konnte Papa dich nie auch nur in die Nähe des Traktors kriegen.«

»Ich hatte schon immer einen gesunden Respekt vor landwirtschaftlichen Maschinen. Das Ding ist groß und gefährlich, wenn man nicht richtig damit umgeht. Sieh nur, was deinem Vater passiert ist. Ich schätze mich glücklich, dass es nicht noch schlimmer gekommen ist.«

»Mama, warum hast du mir nicht schon letzte Woche Bescheid gesagt, als es passiert ist?« Es gelang Jeanette nicht, einen vorwurfsvollen Unterton aus der Stimme herauszuhalten.

Auf die Frage folgte eine beträchtliche Pause. »Du bist schon so lange weg«, sagte ihre Mutter schließlich. »Dein Vater und ich haben uns wohl daran gewöhnt, alles allein zu regeln.«

Jeanette spürte, wie sich ihr Temperament regte. »Du sagst das so, als hätte ich euch im Stich gelassen«, stieß sie hitzig hervor und konnte sich plötzlich nicht mehr bremsen. »Du und Papa, ihr habt mich ausgeschlossen. Deshalb bin ich gegangen. Ich hab keinen Grund gesehen zu bleiben. Sogar, als ich vor zwei Monaten erwähnt habe, ich würde euch zu Hause besuchen kommen, hast du den Eindruck vermittelt, als wolltest du es gar nicht.«

Ihre Mutter ließ den Kopf sinken. Nach einigen Herzschlägen schaute sie wieder auf und sah Jeanette in die Augen. »Es tut mir leid. Ich weiß ehrlich nicht, wie alles so verkorkst geworden ist. Nach Bens Tod hab ich mich so verloren gefühlt. Ich bin mit nichts mehr zurechtgekommen. Und was ich an spärlicher Kraft hatte …« Sie zuckte mit den Schultern. »Na ja, dein Vater hat mich gebraucht.«

»Ich hätte dich auch gebraucht«, sagte Jeanette.

Aus dem Gesicht ihrer Mutter sprach aufrichtige Bestürzung, als sie nach Jeanettes Hand griff. »Ich weiß. Jedes Mal, wenn ich dich angesehen habe, konnte ich den Schmerz in deinen Augen sehen. Nur hatte ich keine Ahnung, was ich dagegen tun sollte. Nach Bens Tod haben dein Vater und ich dich im Stich gelassen. Daran besteht wohl kein Zweifel. Wir konnten uns anscheinend beide nicht anders verhalten, aber es tut mir leid. Ich bereue, wie wir mit der Situation umgegangen sind. Wirklich.«

Der Hinweis darauf, dass ihre Mutter ihren Schmerz zumindest erkannt hatte, milderte Jeanettes Haltung. »Papa und du habt getrauert. Das konnte ich verstehen.«

»Du hast auch getrauert«, sagte ihre Mutter. In ihrer Stimme schwangen erbarmungslose Selbstvorwürfe mit. »Keine Ahnung, wie wir uns vormachen konnten, es wäre anders. Vielleicht, weil du immer so selbständig gewesen bist, so …« Abrupt verstummte sie, bevor sie fortfuhr. »Nein, das ist keine Entschuldigung. Wie wir uns verhalten haben, war falsch.«

Obwohl diese Worte ihrer Mutter so lange auf sich hatten warten lassen, linderten sie die tiefsitzenden Qualen in Jeanettes Herz. Eine Heilung lag zwar noch in weiter Ferne, aber ein erster Schritt war getan.

»Vielleicht hätte ich mir mehr Mühe geben und öfter nach Hause kommen sollen, statt einfach aufzugeben.« Jeanette war bereit, zumindest einen Teil der Schuld auf sich zu laden.

Ihre Mutter drückte ihre Hand. »Jetzt bist du ja hier. Dein Papa wird sich so freuen, wenn er aufwacht und dich sieht. Du hast ihm gefehlt. Er ist zu stolz, um es dir zu sagen, aber ich weiß, dass es so ist.« Sie seufzte. »Vielleicht wird es ja ab jetzt anders. Vielleicht ist der Silberstreif am Horizont dieses Unwetters, dass wir wieder zueinanderfinden können.«

Das wünschte sich Jeanette. Sehr sogar. Sie war sich nur nicht sicher, ob sich die Lage so einfach ändern würde.

* * *

Jeanette verbrachte den Großteil der nächsten Woche im Krankenhaus. Ihrem Vater ging es bald besser, und wie ihre Mutter prophezeit hatte, freute er sich sichtlich darüber, sie an seinem Bett vorzufinden. Nur leider zog er sich nach einem ersten tränenreichen Wortwechsel wieder in Stille zurück.

»Ich glaube, das sind Depressionen«, sagte Maddie, als Jeanette es ihr beschrieb. Die süßen Magnolien wechselten sich dabei ab, Jeanette in den seltenen Zeiten, wenn Tom nicht an ihrer Seite war, im Krankenhaus Gesellschaft zu leisten.

»Du solltest mit seinem Arzt darüber reden«, empfahl Maddie. »Oder ihn zu einer Therapie überreden.«

»Daraus wird nichts«, erwiderte Jeanette müde. »Er hält Psychiater und Psychologen für Zeit- und Geldverschwendung. Auch Medikamenten kann er nichts abgewinnen.«

»Das ist doch verrückt«, protestierte Maddie.

Jeanette zog nur eine Augenbraue hoch.

»Irgendeine Möglichkeit muss es doch geben«, sagte Maddie. »Vielleicht kann man ihm ja Antidepressiva unterjubeln, solange er noch im Krankenhaus oder bei der Reha ist.«

»Ich glaub kaum, dass es für Ärzte ethisch vertretbar ist, ihren Patienten etwas gegen ihren Willen unterzuschieben«, sagte Jeanette. »Aber vielleicht hat sein Arzt mehr Glück als ich dabei, mit meinem Vater zu reden.«

»Manchmal kann ein objektiver Außenstehender wahre Wunder bewirken«, meinte Maddie. »Vor allem, wenn er einen weißen Kittel trägt.«

Jeanette hoffte, dass es so einfach sein würde, denn irgendwie spürte sie, dass Maddie mit ihrer Diagnose richtig liegen könnte. Sie warf ihrer Freundin einen anerkennenden Blick zu. »Danke, dass ihr mich alle so unterstützt. Aber ihr müsst wirklich nicht ständig herfahren«, sagte sie zu ihr. »Ich bleibe nur noch ein paar Tage, bis mein Vater in der Reha-Einrichtung ist, dann komme ich zurück zur Arbeit. Ich bin dir auch dankbar, dass du mir die ganze Zeit frei gegeben hast. Ich weiß, dass der Wellnessbetrieb darunter gelitten haben muss.«

»Darüber muss ich tatsächlich mit dir reden«, sagte Maddie. »Eigentlich wollte ich damit warten, bis du zurück bist. Aber da du es schon angesprochen hast … Dana Sue, Helen und ich denken, wir müssen noch jemanden für den Wellnessbereich einstellen.«

Jeanette sah sie erschrocken an. »Ich kann auch früher zurückkommen, wenn du mich brauchst.«

»Darum geht’s nicht«, entgegnete Maddie. »Es liegt nicht nur daran, dass du ein paar Tage Urlaub gebraucht hast. Das Wellnessgeschäft boomt. Wir müssen Kundinnen abweisen. Es ist an der Zeit zu expandieren. Und Helen findet, wir sollten vielleicht eine Filiale eröffnen. Wenn wir das durchziehen, sollst du es beaufsichtigen. Du wirst alle Hände voll zu tun haben.«

»Ich hatte ja keine Ahnung, dass ihr an eine Filiale denkt. Wisst ihr schon, wo?«

»Nein, darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht, und wir wollten ohnehin deine Meinung dazu hören. Wir müssen uns alle zusammensetzen und es gründlich durchsprechen. Das Für und Wider muss genau abgewogen werden. Das machen wir, wenn du wieder da bist. Ich hab mich nur gefragt, ob du jemanden kennst, den du gern einstellen würdest. Oder willst du inserieren? Du musst es mir nicht gleich sagen, aber lass es uns bald in Angriff nehmen, okay?«

»Ja, sicher.« Ihr schwirrte der Kopf.

Maddie musste ihre Reaktion bemerkt haben. »Jeanette, alles in Ordnung? Das sind alles gute Neuigkeiten, das weißt du schon, oder?«

Ja, das wusste sie. Dennoch fühlte es sich an, als würde ihr ein wenig der Boden unter den Füßen weggezogen. In Serenity hatte sie die Stabilität gefunden, die sie sich gewünscht hatte. Ein Zuhause. Freundinnen. Maddie hatte vorher nie etwas von einer Filiale erwähnt, die Jeanette leiten sollte.

Sie war verwirrt. Dabei hatten sich alle so gefreut, als sie das Haus gekauft hatte, weil es bedeutete, dass sie vorhatte, in Serenity zu bleiben. Und nun …

Sie sah Maddie an. »Ich will nicht umziehen«, platzte sie heraus.

Maddie wirkte verdattert. »Süße, du ziehst nirgendwohin. Das hab ich damit nicht gemeint. Das sollte nur heißen, dass wir bei der Planung auf deine Unterstützung zählen. Vielleicht musst du ein bisschen reisen, aber wir lassen dich nicht weg, weder vom Corner Spa noch von uns. Ich dachte, das hätten wir deutlich rübergebracht, als wir deinen Hauskauf gefeiert haben.«

Erleichterung durchströmte Jeanette. »Tut mir leid. Da hab ich wohl voreilige Schlüsse gezogen. Ich denke momentan nicht besonders klar. Es passiert grade so viel, dass ich Mühe habe, mit allem Schritt zu halten.«

»Und genau deshalb kannst du dich auf unsern Rückhalt verlassen, wenn du ihn brauchst«, sagte Maddie. »Und auf Tom wohl auch«, fügte sie hinzu. »Er scheint sich sehr für dich aufzuopfern.«

»Tut er wirklich«, bestätigte Jeanette. Sie dachte an all die Stunden, die er bei ihr im Krankenhaus verbrachte, an die Freundlichkeit, die er ihrer Mutter entgegenbrachte, an das Essen, das er vom Sullivan’s und einigen der besten Restaurants in Charleston für sie holte. Vermutlich stand Howard kurz vor einem Anfall darüber, wie oft Tom im Rathaus fehlte, aber sofern er deswegen Druck ausübte, ließ Tom es sich Jeanette gegenüber nie anmerken.

»Nicht jeder Mann geht mit Krisen so gut um«, merkte Maddie an. »Auch etwas, worüber man nachdenken sollte, findest du nicht?«

Jeanette schmunzelte über den kruden Wink mit dem Zaunpfahl. »Ja, Maddie, dafür kriegt er Pluspunkte.«

»Fette Pluspunkte, hoffe ich doch.«

»Ich führe nicht Buch«, erwiderte Jeanette sarkastisch.

Maddie bückte sich und gab ihr einen Schmatz auf die Wange. »Solltest du vielleicht«, riet sie. »Wir sehen uns in ein paar Tagen. Ruf an, wenn du irgendwas brauchst.«

»Danke.«

»Vergiss nicht, dass Thanksgiving vor der Tür steht und du bei mir zu Hause erwartet wirst«, erinnerte Maddie sie. »Tom auch, sofern er da nicht bei seiner Familie ist. Die Einladung überlasse ich dir.«

Jeanette lachte. »Da du uns so dringend zusammenbringen willst, überrascht mich, dass du es mir überlässt.«

»Ich kann dein Leben nicht für dich führen. Ich kann dir nur den einen oder anderen Schubs geben«, erwiderte Maddie.

»Und das bringt dich förmlich um, oder?«, stichelte Jeanette.

»Du hast ja keine Ahnung.«

Jeanette schmunzelte nach wie vor, als sie ihrer Freundin nachschaute. Erst, als sie weg war, ernüchterte sie und ging für ein paar Minuten zu ihrem Vater hinein, der endlich in ein gewöhnliches Zimmer verlegt worden war. Durch diesen Beweis dafür, dass es ihm wirklich besser ging, hatte sich ihre Mutter überreden lassen, den ganzen Tag auf der Farm zu verbringen, statt nur für die Nacht nach Hause zu fahren.

Als Jeanette eintrat, starrte ihr Vater mit teilnahmsloser Miene auf den Fernseher. Es lief irgendeine Nachmittagstalkshow, die er sich zu Hause bestimmt nie ansah.

»Hallo, Papa«, grüßte sie ihn vergnügt und zog sich einen Stuhl neben das Bett.

Er erübrigte kaum Aufmerksamkeit für sie, bevor er den Blick wieder auf den Fernseher richtete.

Sie versuchte, sich von der ernüchternden Begrüßung seinerseits nicht entmutigen zu lassen. Ihr fiel auf, dass er mehr Farbe im Gesicht und sich sogar bemüht hatte, sich zu kämmen. Jemand hatte ihn auch rasiert, denn auf den eingefallenen Wangen prangte kein stoppeliger Bartschatten mehr.

»Der Arzt sagt, es geht dir schon viel besser. Wahrscheinlich kannst du in ein, zwei Tagen zur Reha. Dort bringen sie dich wieder auf die Beine.«

Das erregte seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich ihr mit finsterer Miene zu. »Ich gehe in keine Reha-Einrichtung. Deine Mutter kann sich sehr gut zu Hause um mich kümmern.«

»Nicht, wenn du nicht aus eigener Kraft gehen kannst«, widersprach Jeanette vehement. Auch mit ihrer Mutter war darüber eine harte Diskussion nötig gewesen, aber sie war fest entschlossen, nicht lockerzulassen. Der Arzt war darin ihrer Meinung. »Das schafft sie nicht, Papa. Sie ist nicht stark genug, um dich aufzuheben, wenn du fällst, oder um dir ins Bad zu helfen, geschweige denn, dich mehrmals am Tag die Treppe rauf und runter zu bringen.«

»Passt schon«, brummelte er. Dann huschte Wut über seine Züge, und er schlug mit der Faust auf einen seiner Gipse. »Das hätte nie passieren dürfen.«

»Wie konnte es das eigentlich?«, fragte sie. »Du bist sonst immer so vorsichtig.«

»Ich war mit den Gedanken woanders, das ist alles«, antwortete er abwehrend. »Höchstens ein paar Sekunden, und auf einmal war ich unten im Entwässerungsgraben an der Landstraße, mit dem Traktor auf mir.« Seine Augen wurden feucht. »Wahrscheinlich ist es bei Ben auch so gewesen. Inzwischen ist mir das klar. Ein winziger Moment kann ein Leben für immer verändern. Oder beenden.«

Als Jeanette nach seiner Hand griff, zog er sie weg. »Ich brauch dein Mitleid nicht.«

»Papa, ich bemitleide dich doch nicht«, gab sie empört zurück. »Ich hab dich lieb. Und es tut mir weh, dass du so leidest.«

»Ich hab keine Schmerzen«, sagte er schroff.

Obwohl sie ihm auch das nicht abkaufte, hatte sie nicht auf körperliche Schmerzen angespielt. »Ich meine damit, dass du immer noch so um Ben trauerst.«

»Na ja, klar tu ich das«, erwiderte er gereizt. »Er war mein Sohn.«

»Und du machst dir Vorwürfe, weil du ihn in der Nacht hast fahren lassen und die Straßen vereist waren«, sagte sie, als sie es plötzlich begriff. Warum war ihr der Gedanke vorher nie gekommen? »Papa, was passiert ist, war nicht deine Schuld. Die Straßen waren noch in Ordnung, als wir von zu Hause zur Kirche gefahren sind. Wir waren schon bei der Mitternachtsmette, als sie vereist sind.«

»Aber die Stufen waren rutschig, als wir die Kirche verlassen haben. Mir hätte klar sein müssen, dass die Straßen tückisch sein würden und dein Bruder nicht genug Erfahrung hatte, um damit zurechtzukommen. Ich hätte darauf bestehen müssen, dass er sein Auto bei der Kirche lässt und mit uns nach Hause fährt.«

»Papa, hör auf!« Dann erinnerte sie ihn: »Ben war schon weg, als wir draußen angekommen sind. Du hättest nichts tun können. Gar nichts!«

»Ich war sein Vater«, argumentierte er und wurde zunehmend aufgewühlter. »Es war meine Aufgabe, ihn zu beschützen.«

Diesmal schnappte sie sich seine Hand und hielt sie so fest, dass er sich nicht losreißen konnte. »Papa, du warst der beste Vater, den man haben konnte. Es war genauso ein Unfall wie deiner. Du musst damit abschließen.«

Betroffen schaute er zu ihr auf und sah ihr in die Augen. »Deine Mutter gibt immer noch mir die Schuld daran.«

»Nein, tut sie nicht«, widersprach Jeanette, bevor sie sich fragte, ob es stimmen könnte. War es möglich, dass ihre Mutter insgeheim all die Jahre die Schuld bei ihrem Vater gesehen hatte? Und dass er es gespürt hatte? War das mit ein Grund für die angespannte Atmosphäre zu Hause gewesen?

Ihr Vater wandte sich ab. »Du weißt gar nichts darüber.«

»Etwas weiß ich sehr wohl«, konterte sie leise. »Selbst wenn du auch nur ansatzweise verantwortlich dafür wärst, was Ben passiert ist – was ich absolut nicht glaube –, hast du den Preis dafür längst bezahlt. Du musst dir verzeihen. Und falls Mama die Schuld tatsächlich bei dir sieht, muss auch sie endlich nach vorn schauen.«

Ihre Worte wurden mit Schweigen quittiert. Schließlich jedoch fragte er kaum lauter als im Flüsterton: »Was ist mit dir?«

Verblüfft starrte sie ihn an. »Papa, ich hab nie die Schuld bei dir gesehen. Kein einziges Mal.«

Skeptisch musterte er sie. »Aber du bist so wütend gewesen. Du hältst dich seit Jahren von uns fern, abgesehen von Besuchen, bei denen du wie ein Kolibri hereinschneist und gleich wieder weg bist, so schnell, dass man kaum einen Blick auf dich erhascht.«

Jeanette hatte nicht damit gerechnet, in ein solches Gespräch hineingezogen zu werden, erst recht nicht zu diesem Zeitpunkt. Aber ihr Vater hatte eine seit Jahren fest verschlossene Tür geöffnet. »Ich hab mich ferngehalten, weil du und Mama so getan habt, als wäre ich nicht mehr wichtig. Euch hat nicht gereicht, dass ihr mich noch hattet. Für euch hat sich alles nur um den verlorenen Sohn gedreht.« Sie sah ihm in die Augen. »Und wag es keine Sekunde lang zu glauben, ich hätte Ben nicht geliebt. Es hat mir das Herz gebrochen, als er gestorben ist. Ich hätte genauso sehr Trost gebraucht wie du und Mama, nur war von euch niemand für mich da. Das hab ich auch verstanden, am Anfang jedenfalls. Nur hat es sich nie gebessert.«

Es schien unmöglich zu sein, die Verbitterung aus ihrer Stimme zu verbannen. »Weißt du noch, wie wir jeden Geburtstag gefeiert und zu Weihnachten immer ein bisschen übertrieben haben, als Ben noch am Leben war?«

Ihr Vater nickte, hörte ihr ausnahmsweise wirklich zu.

»Nach Bens Tod hat’s für mich nie wieder auch nur eine Geburtstagstorte gegeben«, sagte sie. Mittlerweile liefen ihr Tränen über die Wangen. Zornig wischte Jeanette sie weg. »Ihr habt mir nicht mehr erlaubt, einen Weihnachtsbaum aufzustellen, geschweige denn Weihnachtsmusik im Haus zu spielen. Im ersten Jahr konnte ich das verstehen. Wirklich. Aber es ist so weitergegangen, Jahr für Jahr, bis ich die Highschool abgeschlossen habe. Nicht mal das haben wir gefeiert. Es hat sich angefühlt, als wäre ich unsichtbar – als wäre ich zusammen mit Ben gestorben.«

Die Tränen strömten unkontrolliert, und sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Es tut mir leid. Ich hätte das nicht gerade jetzt herauslassen dürfen. Du sollst dich doch erholen.«

Sie spürte, wie die Hand ihres Vaters ihr Haar streichelte. Zuerst so zart, dass sie dachte, sie würde es sich nur einbilden.

»Ich hatte keine Ahnung«, flüsterte er mit erstickter Stimme. »Überhaupt keine. Ich war so in meinen Schmerz versunken, dass ich nie einen Gedanken daran verloren habe, was ich dir und deiner Mutter damit angetan habe.«

Jeanette spürte, dass sich ihr gerade eine Gelegenheit bot, die sich vielleicht nicht wiederholen würde. Sie schaute auf und sah ihm in die Augen. »Papa, kannst du was für mich tun? Nur eine Sache?«

»Was immer du willst.«

»Sag dem Arzt, wie du dich seit Bens Tod fühlst, damit er dir helfen kann.«

Argwöhnisch verengte er die Augen zu Schlitzen. »Mir wie helfen?«

»Keine Ahnung, was er empfehlen wird«, gestand sie. »Aber was immer es ist, du musst mir versprechen, dass du es machst. Nicht nur mir zuliebe, auch für dich selbst. Versprich es mir, ja?«

Sturheit und Stolz traten in seine Züge. Eine gefühlte Ewigkeit dachte sie, er würde sich sträuben. Dann jedoch streichelte er wieder ihr Haar, und sein Blick wurde traurig. »Ich rede mit ihm«, sagte er.

Ein Zugeständnis, aber sie brauchte mehr. Halbe Sachen reichten dabei nicht. »Und wirst du auch auf ihn hören?«, bohrte sie nach.

Er wandte sich von ihr ab und griff nach dem Wasserkrug auf dem Nachttisch neben dem Bett. Als er sich ein Glas einschenkte, zitterte seine Hand.

»Papa«, sagte sie. »Bitte.«

Er trank einen Schluck Wasser, bevor er sie mit verkniffener Miene ansah. »Willst du mir damit in den Ohren liegen, bis ich ja sage?«

»Und ob«, bestätigte sie.

»Na schön, ich werde ihm zuhören«, sagte er.

Diesmal war sie skeptisch. Sie spürte, dass sie ihm versehentlich ein Schlupfloch gelassen hatte. »Lass es mich umformulieren.« Plötzlich fühlte sich ihr Herz leichter. »Du wirst tun, was er sagt.«

»Ich werde ihm zuhören«, wiederholte er.

»Papa!«

»Schon gut«, lenkte er schließlich ein. »Dir zuliebe werd ich seinen Rat befolgen.«

Jeanette bückte sich und bettete den Kopf auf seine Brust. »Danke, Papa.«

Unbeholfen legte er die Arme um sie. »Ich hab dich lieb, mein Schatz. Hab ich wirklich. Und es tut mir so leid, dass ich’s nicht annähernd oft genug gesagt habe.«

»Jetzt hast du’s ja gesagt«, flüsterte sie mit überquellendem Herzen.