Der entspannende Lavendelduft in der Handcreme, die Jeanette Brioche in ihre verkrampften Finger einmassierte, trug nicht das Geringste dazu bei, ihre blankliegenden Nerven zu beruhigen. Vor wenigen Stunden hatte Maddie Maddox, ihre Chefin im Corner Spa, eine Besprechung für sechs Uhr angesetzt. Unmittelbar nach Jeanettes letztem Termin mit einer Kundin. Maddie hatte nicht gesagt, worum es ging. Allerdings legte ihre verkniffene Miene nahe, dass es keine Feier sein würde, wie sie und ihre Freundinnen Dana Sue und Helen sie oft spontan organisierten.
Da Jeanette von Natur aus zu Besorgnis neigte und hinter jeder Ecke eine Katastrophe lauern sah, beschloss sie, es hinter sich zu bringen, obwohl es noch nicht ganz sechs war. Ihr Magen krampfte sich beklommen zusammen, als sie durch den Flur zu Maddies Büro ging.
Nachdem Jeanette an die nur angelehnte Tür geklopft hatte, trat sie mitten hinein in ein heilloses Chaos. Maddie hielt völlig zerzaust den zappelnden sechs Monate alten Cole im Arm und versuchte, ihn zu füttern. Gleichzeitig tobte die zweijährige Jessica Lynn ungestüm durchs Zimmer und warf alles in Sicht zu Boden. Maddies sonst so sortierte Ordner bildeten ein wildes Gewirr, Muster von ihren Lieferanten lagen überall verstreut. Eine Flasche Handlotion ohne Deckel war umgekippt.
»Hilf mir!«, sagte Maddie zu Jeanette, die sich prompt Jessica Lynn schnappte und die Kleine kitzelte, bis sie unkontrolliert lachte.
»Schlechter Tag?«, erkundigte sich Jeanette. Sie spürte, wie sich der Krampf in ihrem Magen lockerte, als ihr Jessica Lynn mit klebrigen, nach Handlotion mit Rosenduft riechenden Fingern die Wange tätschelte. Nur schien Jeanettes biologische Uhr umso lauter zu ticken, je mehr Zeit sie mit Jessica Lynn und Cole sowie Helens kleinem Mädchen verbrachte. Noch hatte der Wecker nicht geklingelt, aber sie spürte, dass er es bald würde, weil sie den Geruch von Babypuder allmählich ansprechender fand als die Kräuterdüfte im Spa.
»Schlechter Tag, schlechte Woche und höchstwahrscheinlich ein schlechter Monat«, antwortete Maddie.
Die müde Erwiderung bestätigte so ziemlich den Grund für ihre verdrossene Miene vorhin. Maddie hatte bereits drei Kinder gehabt, als sie vor wenigen Jahren Cal Maddox geheiratet hatte. Mittlerweile waren zwei weitere hinzugekommen. Ihr ältester Sohn Ty studierte an der Duke University und galt dort als der Star des Baseballteams. Kyle fand an der Highschool nach Maddies Scheidung von seinem Vater endlich sein inneres Gleichgewicht wieder. Und Katie war gerade neun Jahre alt geworden und hielt bislang wenig davon, eine große Schwester statt das Nesthäkchen der Familie zu sein.
Es stand außer Frage, dass Maddie schon im Privatleben alle Hände voll zu tun hatte. Quasi nebenher leitete sie auch noch das Corner Spa, einen florierenden Fitnessclub mit Wellnessangeboten für Frauen aus Serenity, South Carolina und darüber hinaus. Jeanette hatte keine Ahnung, wie ihre Chefin das alles stemmte. An den meisten Tagen gelang es ihr mit Bravour. An diesem hingegen sah sie völlig überfordert aus.
»Soll ich dem Wonneproppen hier eine Schönheitsbehandlung verpassen?«, fragte sie Maddie, während sich Jessica Lynn zu befreien versuchte.
»Eigentlich müsste Cal jeden Moment hier sein, um die beiden abzuholen«, antwortete Maddie. »Dann können wir zwei reden.«
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, trat ihr Ehemann ein, erfasste die Lage mit einem grinsenden Blick und nahm Jeanette die sich windende Jessica Lynn ab.
»Wie geht’s meinem Lieblingsmädchen?«, fragte er, warf die Kleine hoch, fing sie auf und drückte ihr einen lauten Schmatz auf die Wange, der sie freudig quieken ließ.
»Ich dachte, ich wäre dein Lieblingsmädchen«, brummelte Maddie gespielt verärgert.
Cal schien weder das zerzauste Haar seiner Frau noch ihr fehlendes Make-up oder die Flecken von Babynahrung auf ihrer Bluse zu bemerken. Er setzte seine zweijährige Tochter ab, beugte sich zu Maddie und küsste sie lang und innig. »Du bist meine Lieblingsfrau«, sagte er schließlich zu ihr. »Und das ist viel, viel besser.«
Neidisch beobachtete Jeanette, wie Maddie statt einer Antwort die Hand auf seine Wange legte und ihm in die Augen sah. Es war, als fühlten sich die beiden völlig allein im Raum. Dana Sue und Ronnie Sullivan sowie Helen Decatur und Erik Whitney waren genauso vernarrt ineinander. In ihren zweiunddreißig Jahren hatte Jeanette noch nie eine Liebe wie jene zwischen diesen Paaren erlebt. Kein Wunder, dass sich ihr jedes Mal in ihrer Nähe beinah ein sehnsüchtiges Seufzen entrang.
Tatsächlich wirkten sie alle so glücklich, dass sie Jeanette in Versuchung führten, noch einmal einer festen Beziehung eine Chance zu geben. Dem hatte sie seit mittlerweile drei Jahren abgeschworen – seit sie sich von dem Mann getrennt hatte, der eifersüchtig auf ihr Engagement für das Corner Spa gewesen war. Da Cal, Ronnie und Erik allesamt ihre Frauen nicht nur vergötterten, sondern auch deren jeweilige Karriere unterstützten, wusste Jeanette, dass es solche Männer sehr wohl zu finden gab. Sie hatte bisher nur noch nicht genug Glück gehabt.
Endlich löste Maddie mit rosigen Wangen den Blick von ihrem Ehemann. »Gerade noch die Kurve gekriegt, Coach Maddox«, sagte sie. Damit spielte sie auf Cals Job als Baseballtrainer der Highschool an. In jener Eigenschaft war er früher auch der Mentor ihres ältesten Sohns gewesen. »Würdest du jetzt die zwei Krümelmonster hier wegschaffen, damit ich ein vernünftiges Gespräch mit Jeanette führen kann?«
»Gern doch«, erwiderte Cal, setzte den kleinen Cole in seinen Kinderwagen und hob sich Jessica Lynn wieder in die Arme. »Soll ich vom Sullivan’s was zum Abendessen holen?«
Maddie nickte. »Ich hab schon angerufen. Dana Sue richtet die Bestellung für dich her. Du brauchst nur kurz in der Gasse zu parken und den Kopf in die Küche zu stecken. Sie oder Erik reichen dir das Essen raus.«
»Alles klar.« Grinsend salutierte Cal verspielt. »Bis später. Schönen Abend noch, Jeanette. Lass dich von ihr bloß zu nichts überreden.«
»Still und raus«, befahl Maddie, warf ihm einen strengen Blick zu und scheuchte ihn aus dem Büro.
Jeanette beäugte Maddie misstrauisch, als sie die Tür hinter ihrem Mann schloss. »Wozu willst du mich denn überreden?«
»Ach, hör nicht auf ihn«, gab Maddie zurück, obwohl ihre Miene ein wenig schuldbewusst blieb. »Ist keine große Sache.«
Was bedeutete, dass es sehr wohl eine war, folgerte Jeanette. Sie arbeitete bereits seit der Eröffnung des Betriebs mit Maddie zusammen und kannte sie inzwischen ziemlich gut. Mittlerweile lief der Laden wie geschmiert – nicht zuletzt dank Maddies Gabe, die Schwierigkeiten der ans Personal verteilten Aufgaben kleinzureden. Schönreden beherrschte sie meisterlich. Jeanette hatte gelernt, sich vor diesem abwiegelnden Ton in Acht zu nehmen.
»Raus mit der Sprache«, verlangte Jeanette.
»Wenn ich’s mir recht überlege, ist es eigentlich viel zu schön draußen, um drinnen zu bleiben. Was hältst du davon, wenn wir uns süßen Tee holen und uns auf der Terrasse unterhalten?«, schlug Maddie vor und verließ das Büro bereits in Richtung des kleinen Cafés, das zum Spa gehörte.
Als Jeanette hinter ihr hertrabte, zog sich der beklommene Knoten in ihrem Magen wieder zusammen.
Nachdem sie sich im Schatten einer riesigen Sumpfeiche niedergelassen hatten, die sie vor dem Großteil der untergehenden Sonne abschirmte, trank Maddie einen ausgiebigen Schluck von ihrem Tee, seufzte zufrieden und schenkte Jeanette ein strahlendes Lächeln, das jedoch ein wenig gezwungen wirkte. »Wie läuft das Geschäft?«
Um ein Haar hätte Jeanette laut aufgelacht. »Die Antwort darauf kennst du wohl besser als ich. Komm schon, Maddie. Rück einfach raus damit. Was hast du auf dem Herzen?«
Maddie stellte ihren Tee behutsam auf dem Tisch ab und beugte sich mit ernster Miene vor. »Du weißt doch, dass ich in letzter Zeit alle Hände voll zu tun habe, oder?«
»Klar weiß ich das«, erwiderte Jeanette. Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, erschrak sie unverhofft. »Du kündigst doch nicht etwa, oder?«
»Himmel, nein«, entgegnete Maddie. »Das Corner Spa ist für mich genauso wichtig wie für Helen und Dana Sue. Ich bin stolz darauf, was wir hier geschaffen haben, und mit wir meine ich auch dich. Du hast großartige Arbeit bei den Wellnessangeboten geleistet. Ich hab nicht vor, von Bord zu gehen.«
»Gott sei Dank.« Mit einem erleichterten Seufzen lehnte sich Jeanette zurück. Sie hatte den Betrieb beide Male geleitet, während Maddie im Mutterschaftsurlaub gewesen war. Daher wusste sie, dass sie mit dem Tagesgeschäft zurechtkam, nur wollte sie es nicht. Die Verantwortung für den Wellnessbereich genügte ihr vollauf. Massagen, Gesichtsbehandlungen, Pediküre, Maniküre – dafür war sie ausgebildet worden, davon verstand sie etwas. Das Fitnessstudio, das sie persönlich als bessere Folterkammer betrachtete, überließ sie lieber den hervorragenden hauseigenen Personal Trainern. Und der Papierkram und das Marketing, die nötig waren, damit der Laden in der Region führend blieb, überstiegen ihren Horizont. Außerdem gefiel ihr der tägliche Umgang mit den Kundinnen. Maddie kam selten dazu, ihr Büro zu verlassen.
»Okay, zurück zum eigentlichen Thema«, sagte Maddie. »Was ich sagen wollte, ist, dass Jessica Lynn und Cole gerade sehr viel Aufmerksamkeit brauchen. Ganz zu schweigen davon, dass ich Kyle und Katie in der Spur halten muss. Außerdem bin ich immer noch mehr oder weniger frisch verheiratet.« Sie grinste. »Zumindest gibt Cal mir nach wie vor das Gefühl.«
»Ist nicht zu übersehen«, merkte Jeanette ironisch an.
»Kurzum, ich kann nicht frei über meine Zeit verfügen.«
»Okay«, sagte Jeanette verhalten.
»Das Corner Spa gehört inzwischen zu den erfolgreichsten Betrieben der Stadt. Damit geht eine gewisse Verantwortung einher«, fuhr Maddie fort. »Wir müssen uns quasi als Gemeindevertreter hervortun.«
Jeanette nickte.
»Was bedeutet, dass sich jemand von uns bei Aktivitäten und Veranstaltungen der Stadt engagieren muss.« Sie sah Jeanette mit ernster Miene an. »Dabei reicht es nicht, nur einen Scheck auszustellen oder mitzumachen. Wir müssen eine führende Rolle einnehmen, in Ausschüssen und dergleichen.«
Jeanettes Augen weiteten sich, als ihr allmählich ein Licht aufging. »Oh, nein«, entfuhr es ihr. Der Knoten in ihrem Magen krampfte sich fester zusammen. »Du willst doch nicht etwa andeuten, was ich denke, oder?«
Maddie setzte eine Unschuldsmiene auf. »Keine Ahnung. Was denkst du denn?«
»Weihnachten.« Jeanette brachte das Wort kaum heraus, ohne dabei zu erschaudern.
Wie alle Feiertage wurde auch Weihnachten in Serenity mit großem Pomp begangen – Dekoration, die es mit jeder Inszenierung des Nussknackers aufnehmen konnte, die Ankunft des Weihnachtsmanns, Auftritte der örtlichen Chöre, Zuckerstangen und kleine Geschenke für jedes Kind im Ort. Die gesamte Stadt erstrahlte vor Lichtern, die Gartendekorationen reichten von geschmackvoll bis kitschig. Die Einwohner von Serenity liebten es. Alle begrüßten die Weihnachtszeit mit der kindlichen Begeisterung Fünfjähriger.
Alle außer Jeanette. Sie betrachtete Weihnachten als etwas, das sie über sich ergehen lassen musste, und die Feiertage als etwas, das es zu überleben galt. Nicht als eine Zeit der Freude, in der man feierte und sich gesellig mit Nachbarn traf. So war es bereits seit Jahren. Tatsächlich versuchte sie meistens, über die Feiertage Urlaub zu nehmen. Dann verbrachte sie die Zeit abgekapselt mit DVDs aller Filme, die sie im vergangenen Jahr verpasst hatte.
»Auf keinen Fall«, teilte sie Maddie mit. »Keine Chance. Ich lasse mich nicht für das Weihnachtsfest einspannen.«
»Komm schon, Jeanette. Bitte«, flehte Maddie. »Es sind nur ein paar Treffen, um sicherzustellen, dass die Lichterketten aufgehängt, die Bäume beleuchtet und die Kirchenchöre zum Singen eingeladen werden. Du lebst lang genug hier, um den Ablauf zu kennen. Und du gehörst zu den am besten organisierten Menschen, die ich kenne.«
»Und zu den wohl unwilligsten Menschen auf dem Planeten, die es machen wollen«, gab Jeanette mit ernster Miene zurück. »Glaub mir, Maddie, du willst mich nicht in der Nähe der Pläne der Stadt für die Weihnachtsfeiertage haben. Der Grinch ist nichts im Vergleich zu mir. Wenn’s nach mir ginge, würde Weihnachten gestrichen.«
Maddie wirkte aufrichtig erschüttert. »Warum? Wie kann man Weihnachten nicht lieben?«
»Ist bei mir einfach so, okay?«, erwiderte Jeanette verkniffen. »Das kann ich nicht für dich machen, Maddie. Geht einfach nicht. Alles andere, aber nicht das. Ich passe auf deine Kinder auf, übernehme hier zusätzliche Aufgaben, was immer du brauchst. Aber ich lasse mich nicht für das Fest einspannen.«
»Aber …«
»Ich mach’s nicht, Maddie. Basta.«
Und damit stand Jeanette zum ersten Mal in ihren drei Jahren im Corner Spa auf, kehrte ihrer Chefin den Rücken zu und ging davon. Maddie blieb mit fassungslos aufgeklapptem Mund zurück.
* * *
Tom McDonald war seit einer Stunde und fünfzehn Minuten Gemeindedirektor von Serenity, als Bürgermeister Howard Lewis sein Büro betrat. Der Mann ließ den fülligen Körper auf einen Stuhl plumpsen und sagte: »Reden wir über Weihnachten.«
Tom bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, der die Idee im Keim ersticken sollte. »Meinen Sie nicht, wir sollten uns eher auf das Budget konzentrieren, Howard? Darüber wird bei der nächsten Gemeinderatssitzung abgestimmt. Bis dahin muss ich Bescheid darüber wissen, wo die Prioritäten in Serenity liegen.«
»Ich kann Ihnen sagen, was oberste Priorität hat«, erwiderte Howard unbeirrt und entschlossen. »Weihnachten. Das begehen wir in Serenity ganz groß. Und es muss richtig gemacht werden, also müssen Sie sofort ein Treffen einberufen. Holen Sie die Leute von der Handelskammer und ein paar Unternehmer ins Boot. Ich gebe Ihnen Namen dafür.«
Während Tom überlegte, wie er am besten ablehnen könnte, wurde Howards Miene nachdenklich.
»Wissen Sie«, meinte der Bürgermeister schließlich, »wir könnten neue Dekoration für den Hauptplatz gebrauchen, weil wir inzwischen ein paar neue Geschäfte in der Stadt haben. Vielleicht diese großen beleuchteten Schneeflocken. Ich finde, dieses Jahr sollten die Feierlichkeiten wie in alten Zeiten im Zentrum stattfinden. Der Park ist zwar auch toll, aber der Hauptplatz vermittelt eher was von guter, altmodischer Weihnachtsstimmung, finden Sie nicht?«
Tom ignorierte die Frage. »Ist neue Dekoration im aktuellen Budget vorgesehen?«, fragte er, um sich mit einem praktischen Vorwand die Verlegenheit zu ersparen, seine Abneigung gegen Weihnachten zuzugeben.
»Glaub ich kaum«, antwortete Howard schulterzuckend. »Aber es lassen sich immer ein paar Dollar für Notfälle abzweigen. Ermessensfonds. Nennt man das nicht so?«
»Beleuchtete Schneeflocken qualifizieren sich wohl kaum als Notkauf.« Unwillkürlich fragte sich Tom, ob er während seiner Amtszeit in Serenity viele Diskussionen dieser Art führen würde. Falls ja, würde es eine frustrierende Erfahrung werden.
Howard wischte seine Einwände weg. »Sie finden bestimmt einen Weg. Hauptsache, Sie fangen gleich damit an.«
»Wir haben September, Howard«, merkte Tom an, dessen Unbehagen direkt proportional zur unerschütterlichen Entschlossenheit des Bürgermeisters wuchs.
Auch diese Erinnerung wischte Howard weg. »Und es dauert seine Zeit, alles zu organisieren, vor allem, wenn man auf Freiwillige angewiesen ist. Wissen Sie ja bestimmt. In Ihrem Lebenslauf steht alle mögliche Organisationserfahrung. Nutzen Sie die.«
»Da Sie so begeistert von dem Projekt zu sein scheinen, finde ich, Sie sollten es leiten«, sagte Tom und schaffte es nicht, einen verzweifelten Unterton aus der Stimme herauszuhalten. Wenn er noch eine Minute lang auch nur daran denken müsste, eine Weihnachtsfeier zu organisieren, würde ihm der Schweiß ausbrechen.
Er war in einem Haushalt aufgewachsen, in dem die Weihnachtsvorbereitungen kaum später begannen. Eigens beauftragte Dekorateure gestalteten jedes Zimmer im Erdgeschoss der Familienvilla in Charleston in ein durchgestyltes Weihnachtswunderland, bevor der Reigen der gesellschaftlichen Empfänge unmittelbar nach Thanksgiving begann. Und wehe, seine Schwestern oder er wollten eines der Päckchen unter den verschwenderisch geschmückten Bäumen auswickeln. Bei den meisten handelte es sich ohnehin nur um leere Kartons. Wie so vieles im Hause McDonald war auch das mehr Schein als Sein.
Ihm wurde bewusst, dass Howard ihn mit skeptischem Blick musterte. »Haben Sie was gegen Weihnachten?«, erkundigte sich der Bürgermeister.
»In religiöser Hinsicht nicht das Geringste«, antwortete Tom schnell. »Mir geht es nur darum, dass es keine effektive Nutzung meiner Zeit ist, Dekoration und dergleichen zu organisieren. Dann ist da noch das heikle Thema religiöser Darstellungen auf öffentlichem Gelände. Trennung von Kirche und Staat und so. Damit müssen wir vorsichtig sein. Dagegen gehen die Gerichte heutzutage streng vor.«
»Unsinn«, widersprach Howard. »Wir sind hier in Serenity. Niemand hat Einwände gegen Weihnachten.« Er stand auf. »Ich will vor der Ratssitzung nächsten Donnerstag einen Fortschrittsbericht darüber von Ihnen sehen. Verstanden?«
Tom konnte kaum dem Drang widerstehen, die Augen zu schließen und um Geduld zu beten. »Verstanden«, gab er kurz angebunden zurück.
Ihn die Feier organisieren zu lassen, dachte er mürrisch, war ungefähr so, als betraute man den Grinch damit.
* * *
Wäre Jeanette dem Alkohol zugetan gewesen, hätte ihr Gespräch mit Maddie sie direkt in die nächstgelegene Kneipe gejagt. Stattdessen flüchtete sie zu Sullivan’s und einer doppelten Portion von Dana Sues berühmtem Apfel-Brotpudding mit Zimteis. Die Bestellung – oder eine Meldung der Kellnerin über ihre miese Stimmung – lockte prompt Dana Sue aus der Küche.
Die Besitzerin des erfolgreichsten gehobenen Restaurants von Serenity, gleichzeitig Miteigentümerin des Corner Spa, stellte eine große Dessertschale vor Jeanette ab und nahm ihr gegenüber Platz.
»Was ist los?«, fragte sie mit besorgter Miene.
Jeanette zuckte zusammen. Sie hätte wissen müssen, dass es ein Fehler war herzukommen. Alle süßen Magnolien – so nannten sich Maddie, Dana Sue und Helen – waren entschieden zu intuitiv, ganz zu schweigen von neugierig und zudringlich. »Wie kommst du drauf, dass irgendwas nicht stimmt?«, gab sie zurück und machte sich über den Brotpudding her.
»Zunächst mal bestellst du so gut wie nie ein Dessert, und schon gar keine doppelte Portion. Und dann ist da noch der grimmige Ausdruck in deinem Gesicht.« Dana Sue musterte sie. »Außerdem hat Maddie angerufen und mir erzählt, dass du aufgebracht über ein Gespräch zwischen euch beiden bist. Sie hatte so eine Ahnung, dass du hier aufschlagen könntest.«
»Gibt’s eigentlich irgendwas, worüber ihr drei euch nicht austauscht?«, fragte Jeanette gereizt, bevor sie sich einen weiteren Löffel hausgemachtes Zimteis einverleibte, das auf dem warmen Dessert schmolz. Wäre sie in normalerer Stimmung gewesen, die Kombination von zarten Äpfeln und cremigem Speiseeis hätte sie in Verzückung versetzt.
»Wir haben auch unsere Geheimnisse«, versicherte Dana Sue ihr. »Aber wir sind immer prompt zur Stelle, wenn eine von uns Unterstützung braucht. Und du bist mittlerweile eine von uns. Das weißt du schon, oder?«
»Nein, bin ich nicht«, widersprach Jeanette, obwohl ihre Augen dabei leicht feucht wurden. »Ich bin nicht hier aufgewachsen. Ihr drei kennt euch schon ein Leben lang. Ihr macht praktisch seit einer Ewigkeit alles zusammen. Als Außenseiterin kann ich keine süße Magnolie sein.«
»Um Himmels willen, es ist ja nicht so, als hätten wir irgendwelche Statuten darüber. Du bist eine, wenn wir es sagen«, entgegnete Dana Sue. »Das bedeutet, dass es uns zusteht, uns um dich zu sorgen und uns in dein Leben einzumischen. Also erzähl mir, was mit Maddie passiert ist.«
»Sie hat’s dir nicht gesagt?«
»Sie hat nur erwähnt, dass es irgendwas mit Weihnachten zu tun hat. Hat offen gestanden nicht viel Sinn für mich ergeben. Niemand kriegt Stress wegen Weihnachten.« Ihr Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. »Außer, man schiebt die Einkäufe bis Heiligabend vor sich her. Aber daran kann’s auch nicht liegen. Wir haben erst September.«
»Mit Weihnachtseinkäufen hat es definitiv nichts zu tun«, bestätigte Jeanette. Wenn es nur möglich gewesen wäre, hätte sie das Thema an der Stelle abgewürgt. Doch Dana Sues bohrender Blick teilt ihr mit, dass es dazu nicht kommen würde. Jeanette seufzte resigniert. »Sie will mich im Weihnachtskomitee der Stadt haben.«
»Okay«, sagte Dana Sue langsam. »Ich sehe das Problem nicht. Hast du keine Zeit dafür?«
»Die könnte ich mir nehmen, wenn ich wollte«, räumte Jeanette widerwillig ein. »Aber ich will eben nicht.«
»Wieso nicht?«
»Ist einfach so. Reicht das nicht als Grund?« Sie stopfte sich einen weiteren Löffel Brotpudding in den Mund. Damit hatte sie bereits mehr gegessen, als sie sollte. Von dem ganzen Zucker wurde ihr allmählich ein wenig flau.
»Wenn’s dir so widerstrebt, in dem Ausschuss mitzuarbeiten, weiß ich genau, dass Maddie dich nicht zwingen wird«, beruhigte Dana Sue. »Aber vielleicht solltest du ihr erklären, warum.«
Jeanette schüttelte den Kopf. Für eine Erklärung müsste sie entschieden zu viele schmerzhafte Erinnerungen ans Licht zerren. »Darüber will ich nicht reden. Können wir es dabei belassen?«
Dana Sue musterte sie mitfühlend. »Du weißt, dass Maddie eine Glucke ist. Wenn sie die Geschichte dahinter nicht kennt, wird sie sich Sorgen machen und dich so lange nerven, bis sie weiß, was los ist. Mein Rat wäre, es einfach hinter dich zu bringen und damit herauszurücken.«
»Nein«, entgegnete Jeanette rundheraus. »Ihr habt mich für das Spa eingestellt. Von Weihnachten war dabei nie die Rede. Wenn das ein so großes Problem ist, gehöre ich vielleicht nicht hierher.«
»Das ist doch lächerlich!«, stieß Dana Sue mit entsetzter Miene hervor. »Natürlich gehörst du hierher. Wir lieben dich wie eine Schwester. Du wirst sicher nicht gehen, nur weil du nicht im Ausschuss fürs Weihnachtsfest der Stadt mitarbeiten willst. Maddie wird schon was einfallen. Vielleicht kann Elliot es übernehmen. Oder irgendjemand sonst im Spa.«
Bei der Erwähnung des erstklassigen Personal Trainers hellten sich Jeanettes Züge auf. »Elliot wäre gut. Seit er mit Karen zusammen ist, wird er bei praktisch jedem Feiertag im Kalender total rührselig.« Die Idee gefiel ihr. »Außerdem würde er sich bestens für die anfallenden körperlichen Tätigkeiten eignen. Auf Leitern klettern, Sachen aufhängen, so was alles. Ganz zu schweigen davon, was für eine Augenweide er ist. Wenn er dabei ist, werden sich sämtliche Frauen in der Stadt sofort freiwillig für den Ausschuss melden.«
»Gute Argumente«, meinte Dana Sue grinsend. »Solltest du bei Maddie unbedingt anbringen. Also, was hältst du davon, wenn ich dir jetzt was Richtiges zu essen bringe? Der Wels ist heute Abend besonders gut.«
Jeanette schüttelte den Kopf und schob die halb leere Schale mit Brotpudding von sich. »Ich bin voll.«
»Und fühlst du dich besser?«, fragte Dana Sue.
»Hundert Prozent besser«, bestätigte Jeanette. »Danke, Dana Sue.«
»Jederzeit«, erwiderte sie und erhob sich vom Tisch. »Aber bevor du eine endgültige Entscheidung über die Sache mit dem Ausschuss triffst, solltest du vielleicht noch etwas bedenken.«
Jeanette erstarrte. Sie hatte gedacht, die Sache wäre abgehakt. Sie würde zu Maddie gehen, Elliot für die Aufgabe vorschlagen, und damit hätte es sich. Argwöhnisch beäugte sie Dana Sue. »Ach ja?«
»Der neue Gemeindedirektor leitet den Ausschuss.«
»Und?«
»Er war neulich Abend mit dem Bürgermeister hier«, sagte Dana Sue. »Der Mann ist ein richtiger Schnuckel.« Sie grinste. »Und wie ich höre, ist er Single.«
Sofort verengte Jeanette die Augen zu Schlitzen. »Darum geht’s also? Du und Maddie wollen mich verkuppeln?«
»Fiele uns nicht im Traum ein«, entgegnete Dana Sue mit einer Unschuldsmiene. »Ich berichte dir nur, was ich weiß, damit du eine fundierte Entscheidung treffen kannst.«
»Die hab ich schon getroffen«, gab Jeanette mit Nachdruck zurück. »Und ich suche keinen Mann. Du hast mir damit bloß einen Grund mehr geliefert, die Finger davon zu lassen.«
Dana Sue lächelte wissend. »Ich meine, mich zu erinnern, dass Maddie haargenau dasselbe gesagt hat, kurz bevor sie mit Cal vor den Traualtar getreten ist. Und Helen hat vor der Hochzeit mit Erik sogar noch heftiger protestiert. Und ich erst – oh Mann, was hab ich wild entschlossen behauptet, keinerlei Interesse mehr an Ronnie zu haben. Und sieh uns jetzt an.«
Jeanette erbleichte. »Aber mir ist es ernst.«
Dana Sue schmunzelte. »War es uns auch, Süße. War es uns auch.«
Nach all den Fehlern, die Jeanette bei der Wahl ihrer Männer schon begangen hatte, war ihr Leben in letzter Zeit erfrischend ruhig verlaufen. Friedlich. Und so gefiel es ihr. Tat es wirklich. Gut, vielleicht beneidete sie Maddie, Dana Sue und Helen um ihre grundsoliden Beziehungen. Aber Männer wie ihre waren rar gesät. Und Jeanette wusste aus Erfahrung, dass sie diese Sorte leider nicht anzog.
Sie bedachte Dana Sue mit einem strengen Blick. »Halt dich aus meinem Liebesleben raus.«
»Ich wusste gar nicht, dass du eines hast«, gab Dana Sue zurück.
»Genau das meine ich. Und so soll es auch bleiben.«
»Berühmte letzte Worte«, kommentierte Dana Sue, als sie ging.
»Ich mein’s ernst«, rief Jeanette ihr nach. »Wirklich.«
Dana Sue winkte nur. Obwohl Jeanette ihr Gesicht nicht sehen konnte, wusste sie, dass die Frau grinste. In dem Moment beschloss sie, damit anzufangen, Margaritas zu trinken wie der Rest der süßen Magnolien. So könnte sie bei der nächsten Krise schnurstracks in eine Bar steuern, statt in ein Hornissennest aus weisen Ratschlägen und gutgemeinter Einmischung zu stechen.