KAPITEL 14

Fast eine Woche lang hatte Jeanette nur die Routine im Corner Spa heruntergespult. Sie war seit Tagen gereizt, schnauzte ihre Freundinnen an und brachte nur mühsam ein Mindestmaß an Höflichkeit für ihre Kundinnen auf. Das Schlimmste an ihrer untypischen Stimmung war, dass sie keine Ahnung hatte, was sie ausgelöst hatte. Normalerweise betrachtete sie sich als eine der ausgeglichensten Frauen, die sie kannte.

In einem Pullover gegen die Kälte in der Luft saß sie auf der Terrasse des Corner Spa und starrte missmutig in ein Glas Tee, das sie eigentlich gar nicht wollte, als Maddie, Helen und Dana Sue zu ihr kamen.

»Oh, oh«, murmelte sie und betrachtete die drei besorgt. »Stecke ich in Schwierigkeiten?«

»Sag du es uns«, erwiderte Maddie. »Du bist schon die ganze Woche nicht du selbst. Heute hast du sogar Emily Blanton beleidigt.«

Jeanette starrte Maddie entsetzt an. »Nein, hab ich nicht.« Sie rief sich das Gespräch mit Emily ins Gedächtnis. Dabei kam ihr nichts auch nur annähernd Beleidigendes in den Sinn. »Ehrlich, Maddie, ich bin mir sicher.«

»Du hast zu ihr gesagt, es macht nicht den geringsten Unterschied, welches Produkt sie kauft.« Maddies Lippen zuckten belustigt.

»Das ist keine Beleidigung.« Nach Rückhalt suchend sah Jeanette die anderen an. »Oder?«

Dana Sue kicherte. »Ist es schon, wenn man es so deutet, dass bei ihr rein gar nichts helfen kann.«

»Und natürlich hat sie es genau so aufgefasst«, sagte Maddie und setzte ein vollwertiges Grinsen auf.

Helen bedachte Jeanette mit einem mitfühlenden Blick. »Natürlich ist die Wahrheit wohl deine beste Verteidigung. Der Haut dieser Frau kann wirklich nichts helfen. Fünfzig Jahre lang hat sie sich in der Sonne förmlich gebraten, und jetzt hofft sie, dass irgendeine Creme Wunder wirkt.«

»Aber Emily ist ein Goldschatz«, sagte Jeanette. »Ich würde nie absichtlich ihre Gefühle verletzen.« Sie vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Echt nicht.«

»Wann hast du Tom zuletzt gesehen?«, erkundigte sich Dana Sue mit einer Unschuldsmiene.

»Heute vor einer Woche«, antwortete Jeanette und wusste nicht recht, worauf ihre Freundin hinauswollte. »Bei der Ausschusssitzung für Weihnachten. Danach waren wir eigentlich zum Mittagessen verabredet, aber Teresa hat angerufen und abgesagt.«

»Und seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen und nicht mehr mit ihm geredet?«, ließ Dana Sue nicht locker.

Jeanette schüttelte den Kopf.

»Na also, da haben wir’s schon«, sagte Maddie. »Tom hat dich verwirrt. Du bist total durcheinander.«

»Ich bin doch nicht wegen Tom McDonald durcheinander«, protestierte Jeanette, verärgert über die Andeutung, irgendein Mann könnte ihre Stimmung beeinträchtigen. Und schon gar nicht Tom. »Das kann gar nicht sein.«

Helen sah sie verwirrt an. »Warum kann es nicht sein?«

»Ist einfach so, und basta«, beharrte Jeanette.

»Das haben wir alle schon erlebt«, sagte Helen. »Sogar ich. Das muss dir nicht peinlich sein.«

»Es ist mir nicht peinlich, und ich bin nicht durcheinander, nur weil mich ein Mann nicht anruft«, entgegnete Jeanette.

»Okay, gehen wir einen Schritt zurück«, schlug Maddie vor. »Warum wär’s so schlimm, wenn Tom dir unter die Haut gegangen wäre? Soweit wir das beurteilen können, ist er doch ein toller Kerl.« Sie drehte sich den anderen zu. »Richtig?«

»Auf jeden Fall«, bestätigte Dana Sue. »Ronnie mag ihn auch. Er hält ihn für einen verlässlichen, aufrechten Mann.«

»Cal auch«, fügte Maddie hinzu.

»Na also«, sagte Helen. »Ein Gütesiegel von den süßen Magnolien und deren Männern!«

»Sollte nicht meine Meinung die sein, die zählt?«, konterte Jeanette gereizt.

»Na ja, sicher«, räumte Maddie ein. »Aber du müssest uns schon erklären, was das Problem ist, damit wir es verstehen. Du weißt, dass wir dir den Rücken stärken.«

Jeanette fand zwar nicht, dass sie verpflichtet war, irgendetwas zu erklären, aber da es sich um ihre Freundinnen handelte, versuchte sie es. »In Kurzzusammenfassung geht’s darum, dass ich am Ende hinter seiner Karriere die zweite Geige spielen würde. Sobald er die Chance auf einen besseren Job in einer größeren Stadt bekommt, ist er weg. Offensichtlich ist er endlich zur Vernunft gekommen und sieht wie ich ein, dass es sinnlos ist, etwas anzufangen, das absolut keine Zukunft hat.« Sie runzelte die Stirn, bevor sie hinzufügte: »Nebenbei ist da natürlich auch die Kleinigkeit, dass seine Mutter mich nicht ausstehen kann.«

Maddie schmunzelte. »Tom kommt mir nicht wie ein Mann vor, der seine Mutter entscheiden lässt, mit wem er zusammen sein darf und mit wem nicht.«

»Ja, das dachte ich auch«, erwiderte Jeanette grimmig. »Bis er ein Mittagessen abgesagt hat, um das er mich praktisch angefleht hatte.«

»Ruf ihn an«, riet Helen. »Bitte du ihn um ein Date.«

»Ganz sicher nicht«, protestierte Jeanette. »Es ist so am besten.«

»Dann erklär uns, warum du so unglücklich bist«, forderte Dana Sue sie auf.

Jeanette zögerte, bevor sie antwortete: »Es geht um das neue Haus. Der Papierkram für das Darlehen ist überwältigend. Ich hab das Gefühl, mich auf etwas einzulassen, ohne zu wissen, ob es klappen wird.«

»Fast wie bei einer Ehe«, kommentierte Maddie. »Im Leben gibt’s keine Garantien, Süße, weder bei Beziehungen noch bei Häusern. Man kann sich nur bemühen, eine fundierte Entscheidung zu treffen.«

Jeanette beugte sich vor und sah ihre Freundinnen eindringlich an. »Versteht ihr denn nicht? Das ist es ja gerade. Ich hab keine fundierte Entscheidung getroffen. Ich bin in diesen Garten gegangen und hab spontan beschlossen, dass ich ihn haben muss. Das Haus selbst war fast zweitrangig. Ich hab dieses Angebot total impulsiv abgegeben. Sonst mache ich nie etwas rein Impulsives.«

»Dann war es ohnehin längst überfällig«, meinte Maddie zu ihr. »Hör mal, wir alle kennen das Haus. Als Kinder sind wir dort ein und aus gegangen. Niemand von uns glaubt, dass du einen Fehler begangen hast. Wenn du deinen eigenen Instinkten nicht trauen kannst, dann vertrau unseren. Das Haus ist perfekt für dich.«

»Ihr wollt doch nur die Sicherheit, dass ich nicht aus dem Corner Spa abhaue«, entgegnete Jeanette. »Wenn’s darum geht, kann man euch nicht ganz trauen.«

»He.« Helen klang unüberhörbar gekränkt. »Wann sind wir je nicht ehrlich zu dir gewesen, auch wenn’s nicht in unserem Interesse war?«

Jeanette zuckte zusammen. »Tut mir leid. Da haben wir’s wieder. Ich platze neuerdings einfach mit allem heraus, was mir gerade in den Sinn kommt. Ihr seid die wunderbarsten, besten Freundinnen, die ich mir je wünschen könnte. Wirklich.«

»Na schön«, sagte Helen. »Bringen wir es auf den Punkt. Ich empfehle dir, Tom anzurufen und dich so bald wie möglich mit ihm zu treffen. Schlaf mit ihm. Das wird deine Stimmung heben, ganz zu schweigen davon, dass du danach wieder strahlen wirst.«

Jeanette lächelte trotz ihrer gedrückten Laune. »Sex als Therapie? Wenn du das verbreitest, macht es das Geschäft hier kaputt. Im Moment verlassen sich die Frauen auf uns, damit wir ihrer Haut einen jugendlichen, taufrischen Glanz verleihen. Wenn sie rausfinden, dass sie dieselbe Wirkung mit Sex erzielen, wer weiß, wann sie wiederkommen.«

Helen lachte. »Okay, dann behalten wir’s lieber für uns. An meiner Empfehlung für dich ändert das aber nichts. Und jetzt muss ich nach Hause zu meinem Mann. Das Gerede über Sex hat mich auf Gedanken gebracht.«

»Mich auch.« Dana Sue stand auf. »Vielleicht versuche ich, Ronnie im Lagerraum bei ihm im Laden zu überraschen. Wenn wir die Tür unversperrt lassen, kommt noch ein verruchter Risikofaktor dazu, der ganz schön antörnend sein kann.«

Maddie seufzte. »Cal und ich müssen dafür neuerdings Termine vereinbaren. Anders geht’s bei den vielen Kindern nicht mehr.« Sie errötete. »Wir schleichen uns dafür nachmittags ins Serenity Inn davon.«

Helen, Dana Sue und Jeanette starrten sie an, dann wurde Helens Miene nachdenklich.

»Ich frage mich, was Erik davon halten würde«, dachte sie laut nach. Sie sah Dana Sue an. »Wie viel Zeit hat er zwischen dem Ende des Mittagsansturms und dem Beginn der Vorbereitungen fürs Abendessen im Restaurant? So ungefähr eine Stunde?«

Sichtlich amüsiert nickte Dana Sue.

»Okay«, sagte Helen. »Das könnte uns morgen den Nachmittag versüßen.«

Maddie verzog das Gesicht. »Wir müssen einen Zeitplan ausarbeiten. Cal rastet aus, wenn wir auf dem Parkplatz beim Serenity Inn jemanden treffen, den wir kennen!«

»Lauft nur nicht Tom über den Weg und bringt ihn auf dumme Gedanken«, sagte Jeanette. »Davon hat er selbst genug. Oder hatte er.«

»Ruf ihn an«, wiederholte Helen.

»Heute noch«, fügte Maddie hinzu. »Und entschuldige dich bei Emily Blanton.«

Jeanette nickte wortlos. Sie hielt es für das Beste, wenn die anderen nicht wussten, was genau sie damit zustimmte. Mit Emily Blanton zu reden konnte sie verkraften. Tom anzurufen kam nicht in Frage. Außerdem würde sie ihn ja morgen früh bei dem Ausflug zur Beschaffung des Weihnachtsbaums für Serenity sehen. Dann könnte sie vielleicht herausfinden, was mit ihm los war, ohne dabei ihr Herz aufs Spiel zu setzen.

* * *

Tom drehte ein klein wenig am Rad, während er sich immer wieder fragte, ob Jeanette seine Abwesenheit überhaupt bemerkte. Er hatte beschlossen, Ronnies Rat eine Woche lang auszuprobieren. Die Woche war am Vortag abgelaufen.

Im Augenblick lief er auf dem Parkplatz vor dem Rathaus auf und ab, während er auf die Ankunft der übrigen Ausschussmitglieder wartete. Howard war für die Fahrt zu der Baumzucht vor ein paar Minuten mit einem nagelneuen Minivan aufgetaucht, der noch die Aufkleber des Händlers aufwies. Er war mit heruntergelassenen Fenstern eingetroffen und spielte in voller Lautstärke eine Weihnachts-CD ab. Tom graute beim Gedanken, mehrere Stunden mit all der Weihnachtsstimmung eingepfercht zu verbringen.

»Steigen Sie ein«, forderte Howard ihn vergnügt auf. »Sie können vorn bei mir mitfahren. Dann machen Sie den DJ und sorgen dafür, dass die Musik am Laufen bleibt. Ich hab ein Dutzend Weihnachts-CDs dabei. Damit sollten wir auskommen. Außerdem ein paar Thermoskannen mit heißer Schokolade und Becher. Bedienen Sie sich ruhig.«

Tom hielt den Kaffeebecher hoch, den er sich zuvor bei Wharton’s geholt hatte. »Ich hab’s nicht so mit heißer Schokolade. Ich hab Kaffee.«

Howard wirkte zwar enttäuscht, ritt aber nicht darauf herum. Als er Mary Vaughn auf den Parkplatz einbiegen sah, strahlte er übers ganze Gesicht. »Und die Nächste ist da. Hoffentlich kommen Ronnie und Jeanette auch bald, damit wir loskönnen. Ich freue mich schon riesig darauf.«

Tom entdeckte Jeanette, die mit schleppenden Schritten in ihre Richtung kam. Offensichtlich freute sie sich genauso wenig auf den Ausflug wie er. Ronnie schloss zu ihr auf und sagte zu ihr etwas, das sie zum Lachen brachte. Eifersucht durchzuckte Tom mit einer Intensität, die ihn verblüffte. Für den Bruchteil einer Sekunde fragte er sich, ob Ronnie Hintergedanken dabei hatte, ihm zu Zurückhaltung zu raten. Dann verwarf er den Gedanken als absurd. Ronnie war unsterblich in seine Frau verliebt. Das merkte jeder, der die beiden zusammen sah.

»Mary Vaughn, setz du dich doch nach vorn zu Howard«, schlug Tom vor, drehte sich um und half Jeanette, hinten einzusteigen. Er bedeutete Ronnie, die hinterste Rückbank zu nehmen, bevor er sich neben Jeanette setzte, die ihn misstrauisch beäugte.

Tom wartete, bis sie unterwegs waren und die Weihnachtsmusik wieder lauter dröhnte, bevor er sich an sie wandte. »Wie geht’s dir?«

»Okay. Dir?«

»Gut. War ’ne verrückte Woche.«

»Ja, für mich auch.«

Tom verkniff sich nur mühsam ein Seufzen. Das lief nicht gut. Sie ließ keinerlei Anzeichen erkennen, dass sie ihn vermisst hatte. Stattdessen wirkte sie eher distanzierter als je zuvor. An der Stelle beschloss er, Ronnies Rat zu verwerfen.

Er beugte sich zu ihr. »Du hast mir gefehlt«, sagte er mit leiser Stimme.

Röte stieg ihr in die Wangen, aber sie starrte weiter geradeaus.

»Ich dir auch?«, fragte er.

Damit erntete er zumindest einen Blick. »Nicht besonders«, behauptete sie, doch die zunehmende Röte ihrer Wangen strafte die Worte Lügen.

Von hinten hörte Tom ein kaum unterdrücktes leises Lachen. Er drehte sich um und bedachte Ronnie mit einem mürrischen Blick. »Hast du was gesagt?«

»Kein Wort«, heuchelte Ronnie Unschuld. »Ich dachte mir nur gerade, dass die Zeit schneller vergeht, wenn wir Weihnachtslieder singen.«

Vom Sitzgurt eingeschränkt drehte sich Jeanette unbeholfen um. »Bist du verrückt?«, fragte sie in vielsagendem Unterton.

»Tolle Idee!«, lobte Howard. »Genau das Richtige, um in Stimmung zu kommen. Mary Vaughn, sei so gut und sieh auf der CD-Hülle nach, welches Lied als Nächstes kommt, damit wir bereit sind.«

Tom stöhnte.

»›White Christmas‹«, verkündete Mary Vaughn beschwingt.

»Tja, ich bin sicher, den Text kennen wir alle«, sagte Howard. Als das Lied begann, stimmte er mit ein. Mit kurzer Verzögerung schlossen sich ihm erst Mary Vaughn und dann Ronnie an.

Tom und Jeanette wechselten einen Blick geteilten Leids.

»Kommt schon, ihr zwei«, sagte Howard mit einem Blick in den Innenspiegel. »Macht mit. Ich glaube, wir haben hier drin das Zeug zu einem netten kleinen Chor. Mary Vaughn hat mir erzählt, dass wir unsere Familientradition wiederaufleben lassen und am ersten Weihnachtsfeiertag zum Singen in ein Pflegeheim gehen. Vielleicht habt ihr ja alle Lust mitzukommen.«

»Da friert eher die Hölle zu«, murmelte Tom.

»Und Serenity auch«, fügte Jeanette so inbrünstig hinzu, dass er laut lachen musste.

»Tolle Idee, Howard«, sagte Ronnie enthusiastisch, wenngleich nur, um die beiden vor ihm zu ärgern. »Und vergesst nicht, dass wir euch alle im Sullivan’s zum Weihnachtsessen erwarten. Howard, geben Sie dieses Jahr wieder den Weihnachtsmann?«

»Na, und ob«, antwortete der Bürgermeister. »Das steht ganz oben auf meiner Liste für die Feiertage. Gleich nach meinem Auftritt als Weihnachtsmann am Eröffnungsabend der Feierlichkeiten.«

Jeanette rutschte auf dem Sitz tiefer. Tom griff nach ihrer Hand. Zum Teil, weil er sie einfach unbedingt berühren musste und es ihm die einzige angemessene Geste zu sein schien, teils als Solidaritätsbekundung. Zu seiner Erleichterung zog sie sich nicht zurück. Stattdessen seufzte sie kaum hörbar und begegnete seinem Blick. Er spürte, wie sein Herz beim Anblick des Verlangens in ihren Augen einen Schlag aussetzte.

Vielleicht hatte Ronnies alberner Plan ja doch funktioniert, folgerte er. Wenn er Jeanette dazu gebracht hatte, ihn auch nur für eine Minute zu vermissen und sich auch nur ein einziges Mal zu fragen, ob er das Interesse an ihr verloren hatte, dann war es die Folter einer ganzen Woche wert gewesen.

* * *

Eigentlich hätte sich die Weihnachtsbaumfarm als Jeanettes schlimmster Alptraum erweisen müssen. Aber nach den ersten paar Minuten atmete sie tief den Tannenduft ein und erinnerte sich plötzlich an all die wundervollen Weihnachten ihrer Kindheit. Damals hatte es Plätzchen und Zuckerstangen gegeben, dazu einen hell erleuchteten Baum, verziert mit Weihnachtsschmuck und Popcornketten, beides von ihrem Bruder und ihr gebastelt.

Die Luft wurde doch noch gerade kalt genug, dass es sich nach Weihnachten anfühlte, und jeder Schritt über den Tannennadelteppich verströmte einen frischen, winterlichen Duft.

»Ist dir kalt?«, fragte Tom, näherte sich ihr von hinten und schloss die Arme um ihre Taille.

Jeanette gestattete sich einen kurzen Moment, in dem sie sich an ihn lehnte, bevor sie sich zurückzog. »Nein, das ist belebend.« Sie schaute zu ihm auf. »Riecht es hier draußen nicht wunderbar?«

»Es riecht nach dem Reinigungsmittel im Rathaus«, erwiderte er.

»Gar nicht. Es riecht genau so, wie es am Weihnachtsmorgen riechen sollte.«

Tom zuckte mit den Schultern. »Bei mir zu Hause hatten wir immer künstliche Bäume. Weil sie wochenlang halten mussten. Lebende waren dafür zu aufwändig, ganz zu schweigen von der Brandgefahr.«

Ungläubig starrte sie ihn an. »Ihr habt zu Hause nie einen lebenden Baum gehabt?«

Er schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich mich erinnern könnte. Die Dekorateure haben darauf bestanden, dass künstliche viel praktischer sind.«

»Dekorateure? Habt ihr den Baum nicht selbst aufgestellt?«

»Bäume«, korrigierte er. »In der Regel hatten wir ein halbes Dutzend, einen in jedem Zimmer unten. Zusätzlich natürlich immergrüne Zweige, auch künstlich. Die Dekorateure haben jedes Mal mehrere Wochen daran gearbeitet und unser Haus in eine Art Weihnachtsfreizeitpark verwandelt.«

»Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Was ist mit Weihnachtsschmuck? Hast du je welchen gebastelt?«

»Hin und wieder in der Schule. Ist aber nie auf einem unserer Bäume gelandet. Ich glaube, die Haushälterin hat den einen oder anderen aufbewahrt. Aber meine Mutter hat darauf bestanden, dass die offiziellen Bäume ein einheitliches Motiv haben müssen. Jedes Jahr ein anderes. Meine Schwestern und ich wurden davor gewarnt, Glasschmuck zu zerbrechen, sonst mussten wir ihn von unserem Taschengeld bezahlen.«

»Wie grauenhaft«, befand Jeanette. Das bestätigte von vorn bis hinten ihre Einschätzung von Mrs. McDonald als schwierige, fordernde Frau und Snob. »Hattet ihr keine besonderen Familientraditionen?«

»Nicht viele, abgesehen vom Kirchgang an Heiligabend. Ach ja, und den Reigen der Partys, der gleich nach Thanksgiving begonnen hat. Bei den meisten durften meine Schwestern und ich erst dabei sein, als wir älter waren und man sich darauf verlassen konnte, dass wir uns in Gesellschaft zivilisiert verhalten würden.«

»Aber Weihnachten sollte doch eine magische Zeit sein, gerade für Kinder«, protestierte Jeanette und bedauerte Tom. Auf einmal verstand sie seine ablehnende Haltung so viel besser. Ihre ging auf eine Tragödie zurück, die ihr eine geliebte Tradition entrissen hatte. Und Tom hatte nie erlebt, wie schön die Weihnachtsfeiertage sein konnten. Sie war sich nicht sicher, was schlimmer war.

Tom tat ihr Mitgefühl mit einem Schulterzucken ab. »So war es bei uns nun mal. Ich habe nie was anderes gekannt.«

»Jetzt ist mir klar, warum dir Weihnachtsfeiern nichts bedeuten«, sagte sie zu ihm.

»Was ist mit dir? Waren sie bei euch immer idyllisch?«

Jeanette zögerte, bevor sie antwortete. Dann wurde sie von Nostalgie beinah überwältigt und sagte leise: »Das waren sie, als ich klein war.«

Tom ging sofort auf ihre Formulierung ein. »Was ist passiert, dass es sich geändert hat?«

Sie öffnete den Mund … und schloss ihn wieder. Wenn sie die Worte ausspräche, würde die Freude verfliegen, die sie gerade inmitten all der wunderschönen Bäume empfand.

»Jeanette, was ist passiert?«, bohrte Tom nach.

Sie seufzte schwer, bevor sie stockend begann. »Ich … hatte einen älteren Bruder. Benjamin. Er war der Beste.« Jeanette schloss die Augen und stellte sich vor, er stünde groß und stolz in seinem Footballtrikot vor ihr, an jedem Arm eine bewundernde junge Frau. Die Worte flossen schneller aus ihr. »Er hatte sich für ein Sportstipendium an der University of South Carolina qualifiziert. Meine Eltern waren so stolz auf ihn. Beide hatten nie die Möglichkeit, ein College zu besuchen. Mein Vater ist Farmer. Er arbeitet heute noch auf demselben Hof wie sein Vater und Großvater vor ihm. Für Ben wollte er mehr.«

Tom nickte nur und lauschte, ohne sie zu unterbrechen.

Tränen quollen hervor und kullerten ihr über die Wangen. »Passiert ist es an Heiligabend«, sagte sie und verlor sich in der Erinnerung, die ihr Leben verändert hatte. »Ich war fünfzehn, Ben war gerade achtzehn geworden. Wir waren alle in der Kirche, aber Ben war mit dem eigenen Auto gefahren. Auf dem Weg zur Mitternachtsmette hatte er seine Freundin abgeholt. Als sie nach dem Gottesdienst gegangen sind, hat er noch zu uns gesagt, wir würden uns zu Hause sehen …« Sie verstummte und schluckte schwer unter der Flut der Erinnerungen an jene grauenhafte Nacht.

Tom berührte ihre Wange und sah sie mit sanftem, mitfühlendem Blick an. »Was ist passiert?«

»Er ist nie zu Hause angekommen«, antwortete sie. Wieder verstummte sie und atmete durch. Es dauerte einen Moment, bis sie fortfahren konnte. »Nachdem er seine Freundin abgesetzt hatte, ist er mit dem Auto auf Glatteis geraten. Die Polizei hat gesagt, er wäre wahrscheinlich zu schnell unterwegs gewesen. Jedenfalls ist der Wagen außer Kontrolle geraten und gegen einen Baum geprallt. Man hat uns gesagt, er wäre auf der Stelle tot gewesen.«

»Oh mein Gott, Jeanette, es tut mir so leid«, sagte Tom und wischte ihr die Tränen von den Wangen. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das für euch alle gewesen sein muss.«

»Wir haben danach nie wieder Weihnachten gefeiert.« Ein neuer Anflug von Bedauern fegte durch Jeanette hindurch. »Als ich im nächsten Jahr den Schmuck herausholen wollte, ist meine Mutter zusammengebrochen. Mein Vater hat ihn zurück auf den Dachboden gebracht. Ich habe es nie wieder versucht.«

»Kein Wunder, dass du die Weihnachtsfeiertage hasst«, sagte er. »Du hast so schreckliche Erinnerungen daran.«

»Ironischerweise hasse ich die Feiertage nicht, weil ich traurig bin«, startete sie einen Erklärungsversuch. »Jedenfalls nicht ganz. Eher deshalb, weil Bens Tod meine Eltern völlig verändert hat. Davor waren sie warmherzig, großzügig und aufgeschlossen. Mein Vater hatte hohe Erwartungen an meinen Bruder, aber mich hat er abgöttisch geliebt und verhätschelt. Danach war es so, als gäbe es mich gar nicht mehr. Ich hätte genauso gut zusammen mit Ben sterben können, denn egal, was ich getan habe, es hat sie alles völlig kalt gelassen.« Sie begegnete Toms Blick. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie einsam und abgekapselt man sich vorkommen kann, wenn man den Menschen, für die man eigentlich wichtig sein sollte, vollkommen egal ist.«

»Meine Eltern haben sich immer zu sehr in mein Leben eingemischt. Ich habe mich von ihnen erdrückt gefühlt. Sie haben mir all diese Erwartungen aufgebürdet, die rein gar nichts damit zu tun hatten, was ich wollte. Es hat nicht gereicht, dass ich in der Schule generell gut war, ich musste mich in den Fächern auszeichnen, die ich nach Meinung meines Vaters belegen sollte. Außerdem musste ich Zeit mit Mädchen verbringen, die meine Mutter geeignet für mich fand. Bis zu meinem Abschluss an der juristischen Fakultät habe ich mitgespielt. Danach habe ich mich auf die Füße gestellt. Von da an hat es nur noch Streit gegeben.« Er schüttelte den Kopf. »Also nein, ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, ignoriert zu werden. Aber es muss furchtbar wehgetan haben.«

»Tut es immer noch.«

Entsetzen breitete sich in seinem Gesicht aus. »Ihr habt immer noch nicht Frieden geschlossen? Wie viele Jahre ist das jetzt her?«

»Fast zwanzig, aber geändert hat sich nichts. Vor ein paar Wochen habe ich zu Hause angerufen. Meine Mutter hat kaum meine Stimme erkannt. Als ich mit Papa reden wollte, hat sie mir als Ausrede aufgetischt, er wäre draußen. Sie hat nicht angeboten, ihn zurückrufen zu lassen. Ich weiß nicht mal, ob sie ihm ausgerichtet hat, dass ich angerufen habe. So ist das jedes Mal, wenn ich mich bei ihnen melde. Trotzdem versuche ich es immer wieder. Ich hoffe, sie werden sich irgendwann daran erinnern, dass sie ein zweites Kind haben, das noch lebt und sie braucht.«

Jeanette schauderte. Tom zog seine Jacke aus und wickelte sie darin ein. Sie versuchte gar nicht erst, ihm zu erklären, dass nichts eine Kälte vertreiben konnte, die tief aus ihrem Inneren stammte. Stattdessen ließ sie die äußere Wärme in ihren Körper sickern und atmete den Zitrusduft seines Rasierwassers ein. Das reichte zwar nicht, um die Erinnerungen loszuwerden, trotzdem empfand sie es als tröstlich.

* * *

Tom hätte Jeanettes Eltern am liebsten aufgesucht und zur Vernunft geschüttelt. Trotz aller Trauer hätten sie erkennen müssen, wie sehr ihre Tochter sie brauchte.

So durchwachsen die Beziehung zu seinen eigenen Eltern auch sein mochte, sie hatten wenigstens Kontakt. Und obwohl sie ständig zankten, wusste er, dass sie ihn liebten. Selbst dann, wenn er sich maßlos über sie ärgerte wie zuletzt über seine Mutter wegen ihres Verhaltens gegenüber Jeanette, konnte er sich nicht vorstellen, sie für immer aus seinem Leben zu streichen.

Wie konnten Jeanettes Eltern damit leben, dass sie ihre Tochter derart im Stich gelassen hatten? Da er keine Antworten hatte, begnügte er sich damit, sie den Rest des Tages aufmerksam im Auge zu behalten. Außerdem versuchte er, ihr immer wieder mal mit einer Geste oder einer Berührung zu vermitteln, dass es jemanden gab, dem etwas an ihr lag und der sie schätzte.

Tom glaubte, sie nun wesentlich besser zu verstehen. Er konnte nachvollziehen, warum sie so empfindlich auf jede Andeutung reagierte, sie könnte bei ihm nicht an erster Stelle stehen. Allerdings hatte er noch keine Ahnung, wie er den Eindruck ändern sollte, den er ihr vermittelt hatte. Irgendwann würde er Serenity verlassen. So sah sein Plan aus, und daran hatte er sich seit dem Tag gehalten, an dem er ihn gefasst hatte. Sich zu verlieben war darin nicht vorgesehen, jedenfalls nicht in den nächsten paar Jahren. Er hatte sich vorgestellt, sich dann eine Frau zu suchen, wenn er sein Ziel erreicht hätte, ein leitendes Amt in einer großen Stadt zu bekleiden. Dann wollte er sich Zeit für mehr als nur Arbeit nehmen, obwohl er sich noch nicht überlegt hatte, wie er es anstellen würde.

Doch aus heiterem Himmel war ihm Jeanette dazwischengekommen, eine Frau, die ihn in ihren Bann zog, in ihm den Wunsch erweckte, sie zu beschützen, und ihn vor lauter Lust ein wenig um den Verstand brachte. Wie um alles in der Welt sollte er damit umgehen, vor allem angesichts ihrer Probleme?

Im Augenblick stand sie vor dem Baum, den Howard für den Stadtpark ausgesucht hatte. Neben der hochaufragenden Kiefer nahm sie sich winzig aus. Sie schaute zur Spitze hinauf, so ehrfürchtig, als wäre es der erste Weihnachtsbaum, den sie zu Gesicht bekam. Vielleicht war er das in gewisser Weise auch. Nicht der allererste, aber der erste seit jenem schrecklichen Weihnachtstag, an dem ihre Welt mit dem Tod ihres Bruders in Scherben zersplittert war.

Tom stellte sich neben sie und ergriff ihre Hand. »Ist ja unheimlich groß«, meinte er kritisch.

»Nein, er ist perfekt«, widersprach Jeanette. »Howard hat recht. Das ist der richtige. So einen hab ich noch nie gesehen. Ich kann ihn mir jetzt schon mit Hunderten von funkelnden Lichtern vorstellen. Das wird unglaublich.«

»Kostet bestimmt ein Vermögen«, malte er nach wie vor den Teufel an die Wand.

Jeanette sah ihn stirnrunzelnd an. »Dann treib das Geld dafür auf«, sagte sie in einem Ton, der geradezu gruselig an den von Howard erinnerte. »Tom, wir müssen diesen Baum haben.«

Er sah ihr in die Augen. »So viel bedeutet dir das?«

Sie streckte die Hand aus und berührte ehrfürchtig die dicken Zweige. »Ja.«

»Dann kratzen wir das Geld dafür irgendwie zusammen. Aber wenn sich die Leute darüber beschweren, dass Schlaglöcher nicht aufgefüllt werden, schicke ich sie zu dir und Howard.«

In dem Moment kam Howard zurück, gefolgt von Ronnie und Mary Vaughn. Der Bürgermeister schaute verdrossen drein. »Der Mann will einen Wucherpreis dafür«, klagte er. »Wir müssen uns vielleicht mit einem kleineren begnügen.«

»Nein«, protestierte Jeanette. »Haben Sie ihm gesagt, dass er für den Hauptplatz am Stadtpark ist?«

»Natürlich«, erwiderte Howard. »Ich hab ihm sogar von den Chören, den Kindern und dem Weihnachtsmann erzählt. Aber unter dem Strich ist er ein beinharter Geschäftsmann. Daraus kann ich ihm jetzt nicht wirklich einen Vorwurf machen, trotzdem ist es enttäuschend.«

»Wir kriegen diesen Baum«, verkündete Tom entschlossen.

Ungläubig sah Howard ihn an. »Sie haben doch das Preislimit festgelegt.«

Tom zuckte mit den Schultern. »Ich kratze irgendwo ein paar Dollar mehr zusammen.«

»Wir reden hier nicht von ein paar Dollar mehr«, warf Ronnie ein. »Eher ein paar Hundert.«

Tom ließ den Blick über die Runde der tristen Mienen wandern. »Sind sich alle einig, dass wir genau diesen Baum wollen?«

»Ja«, sagte Mary Vaughn mit demselben Funkeln in den Augen wie Jeanette. »So einen prächtigen hatten wir noch nie.«

»Dann genehmige ich den Kauf«, sagte Tom. »Herr Bürgermeister, sind wir uns einig?«

»Sie können das Geld im Budget auftreiben?«

»Ich werde das Geld auftreiben«, bestätigte Tom. Notfalls aus eigener Tasche. Was auch immer dieses Strahlen zurück in Jeanettes Augen zaubern konnte, war ihm jeden Cent wert. Und damit es darin bliebe, würde er sich vielleicht sogar dazu überreden lassen, persönlich beim Schmücken dieses Monstrums mitzuhelfen – wenngleich er sich schwor, schon aus Prinzip darüber zu murren.

Jeanette warf die Arme um ihn und drückte ihm überschwänglich einen Kuss auf die Wange.

Tom grinste. Kein übler Anreiz, fand er. »Wo ist der Besitzer?«, fragte er. »Lassen wir ein ›Verkauft‹-Schild an den Baum pappen und vereinbaren wir die Lieferung.«

»Ich kümmere mich darum«, bot Howard mit strahlender Miene an. »Ich wusste doch, dass Sie nicht der Grinch sind, als der Sie sich ausgeben.«

»Doch, bin ich!«, rief Tom ihm hinterher.

»Ach, gib’s auf«, sagte Jeanette. »Das kauft dir jetzt keiner mehr ab. Du hast nachgegeben und den perfekten Baum gekauft.«

»Kein Baum ist perfekt. Wahrscheinlich ist er asymmetrisch«, brummelte Tom zum Versuch, seinen Ruf als Grinch wiederherzustellen. »Und der Stamm ist vermutlich so krumm wie ein alter Spazierstock. Hat das irgendjemand überprüft?«

Ronnie lachte. »Zu spät, Kumpel. Du bist der Held des Tages, ob du willst oder nicht.«

»Meiner jedenfalls«, pflichtete Jeanette ihm bei und sah Tom mit überraschender Leidenschaft in den Augen an.

Wer hätte das gedacht?, ging es Tom durch den Kopf. Er hatte sich auf gestohlene Küsse verlassen, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Dabei wäre dafür nur ein sündteurer Weihnachtsbaum nötig gewesen.