KAPITEL 12

Tom konnte sich an keine Gelegenheit in seinem Leben erinnern, an dem ein Abend unangenehmer zu werden versprach. Er ahnte, dass sich alle Blicke auf sie drei heften würden, sobald sie das Sullivan’s betraten. Die Einheimischen würden gespannt darauf warten, wann der Zoff zwischen Mary Vaughn und Jeanette ausbrechen würde.

Immerhin hatte Mary Vaughn kaum ein Geheimnis aus ihrem Interesse an ihm gemacht. Und Jeanette hatte beim Footballspiel am vergangenen Abend auf der Tribüne in aller Öffentlichkeit gleichsam Anspruch auf ihn erhoben – auch wenn sie behauptete, ihn nicht wirklich zu wollen, jedenfalls nicht so wie er sie. Er vermutete, dass sie sich Illusionen über die eigenen Gefühle hingab, konnte es aber nicht beweisen. Zumindest noch nicht.

Natürlich konnte er hoffen, die Menschen in Serenity würden die Nasen nicht in die Angelegenheiten anderer stecken. Nur sprach alles, was er bisher beobachtet hatte, entschieden dagegen. Dafür musste er sich nur die süßen Magnolien, deren Ehemänner und seine eigene Sekretärin ansehen.

»Du scheinst dich nicht gerade auf das Essen zu freuen«, bemerkte Jeanette, als sie zum Sullivan’s fuhren.

»Wie kommst du nur darauf?«, fragte er.

»Weil du keine zwei Worte mehr von dir gegeben hast, seit wir Mary Vaughn zurückgelassen haben.«

»Meinst du nicht, das wird unheimlich schräg werden?«

»Doch«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Aber das sind wir ihr schuldig.«

Verwirrt starrte er sie an. Wie der Verstand dieser Frau funktionierte, gab ihm Rätsel auf. »Wieso das?«

»Sie will damit das Gesicht wahren und beweisen, wie wenig es sie stört, dass du sie zurückgewiesen und dich für mich entschieden hast. Was du natürlich nicht hast.«

»Oh doch«, widersprach er deutlich, damit kein Missverständnis aufkam. »Und ganz gleich, welche Absicht du gestern Abend verfolgt hast, dein Kuss im Stadion hat aller Welt gezeigt, dass du dich umgekehrt für mich entschieden hast.«

Sie errötete leicht. »Für den Kuss hatte ich meine Gründe. Interpretier nicht zu viel hinein.«

Er warf ihr einen unverhohlenen, skeptischen Blick zu, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. »Möchtest du mir das vielleicht erklären?«

»Nicht wirklich.«

»In dem Fall will ich einfach glauben, dass du Ansprüche geltend machen wolltest.«

»Ja, das würde deinem Ego so passen.«

»Wie sollte ich ohne gegenteiligen Beweis zu einem anderen Schluss kommen?«

»Weil ich dir was anderes gesagt habe.«

»Worte«, sagte er ihn höhnischem Tonfall. »Nichts als Worte.«

Jeanette sah ihn stirnrunzelnd an. »Weißt du, Tom, du musst nicht mit uns essen. Setz mich einfach beim Sullivan’s ab. Mary Vaughn und ich können auch gut ohne dich feiern.«

»Aber das würde wohl kaum beweisen, was für einen Blödsinn sie zu beweisen versucht, oder?«

»Nicht so deutlich, stimmt. Uns drei zusammen zu sehen würde Serenity vor Augen führen, dass es zwischen uns kein böses Blut gibt.«

»Dann ist es meine Pflicht mitzuspielen«, erklärte er feierlich. »Niemand soll behaupten, meine Mutter hätte mich nicht zu einem waschechten Gentleman erzogen. Ich bin bereit zu tun, was immer nötig ist, um die Ehre einer Dame zu schützen.«

»Du musst nicht gleich so übertreiben«, sagte Jeanette.

»Anscheinend schon.« Und sein Bauchgefühl warnte ihn, dass er es noch bereuen würde.

Im Sullivan’s ließ Jeanette ihn sitzen, sobald sie zu einem Tisch geführt worden waren. Nachdenklich starrte er ihr hinterher, als sie geradewegs auf die Küche zusteuerte. Vielleicht wollte sie nur die Neuigkeit verkündeten, dass sie einen Vorvertrag für einen Hauskauf unterschrieben hatte. Aber er vermutete, dass sie ihren Freunden zusätzlich die eine oder andere Kleinigkeit mitteilen würde.

Ihn beschlich zunehmend das Gefühl, er könnte die nächsten fünfzig Jahre mit ihr verbringen und sie trotzdem nie völlig verstehen. Ihre Geheimnisse zu lüften würde ihm etwas bieten, worauf er sich freuen könnte. Und seine Vorfreude darauf fühlte sich erfrischend neu an. Noch nie zuvor hatte er eine Frau so faszinierend gefunden, dass er sich vorstellen konnte, mit ihr alt zu werden.

* * *

Mary Vaughn saß auf dem Parkplatz des Sullivan’s im Auto, peppte ihr bereits tadelloses Make-up auf und versuchte, den Mut zum Hineingehen zusammenzukratzen. Kaum hatte sie die Einladung an Jeanette und Tom ausgesprochen, hatte sie es schon bereut. Wenngleich sie reichlich Erfahrung darin hatte, so zu tun, als wäre ihre Welt in bester Ordnung, obwohl sie in Wirklichkeit um sie herum bröckelte, war sie nicht sicher, ob sie den für diesen Abend geplanten Auftritt über die Bühne bringen könnte. Dieser jüngste Rückschlag saß ihr noch ein wenig zu frisch in den Knochen.

»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, murmelte sie und stieg aus dem Auto. Sie würde keine Seele in Serenity merken lassen, wie sie sich dabei fühlte, dass ihr ein weiterer Mann vor der Nase weggeschnappt wurde. Natürlich hatte Tom ihr nie gehört, aber sie hatte ihn gewollt. Das wusste wahrscheinlich die ganze verdammte Stadt. Genau, wie immer alle gewusst hatten, was sich bei ihren Eltern abgespielt hatte. Und nie hatte jemand ein Wort darüber verloren, geschweige denn, dass jemand eingeschritten wäre, um ihre Mutter oder sie zu beschützen.

Als Einzelkind hatte Mary Vaughn von einer Meisterin gelernt, über ihre Probleme zu schweigen. Ihre Mutter hatte jahrelang wüste Beschimpfungen und körperliche Misshandlungen durch ihren alkoholkranken Ehemann ertragen, ohne je um Hilfe zu bitten. Als Mary Vaughn alt genug gewesen war, um sie darauf anzusprechen, hatte die Frau geleugnet, dass es irgendein Problem gab. Blaue Flecke hatte sie, weil sie tollpatschig war. Die erhobenen Stimmen »diskutierten« lediglich. Weil sich ihre Mutter standhaft weigerte anzuerkennen, was vor sich ging, musste auch Mary Vaughn darüber schweigen.

Sie redete sich immer ein, es wäre anders gelaufen, wenn ihr Vater jemals sie angegriffen hätte. Dann wäre ihre Mutter ihr zu Hilfe geeilt und hätte sie aus dem grauenhaften Umfeld herausgeholt. Tief in ihrem Inneren jedoch zweifelte sie daran. Zum Glück wurde die Theorie nie auf die Probe gestellt. Ihr Vater begnügte sich immer damit, seine Wut an Mary Vaughns Mutter auszulassen.

Sie selbst ging mit erhobenem Kinn zur Schule und ignorierte das Getuschel der Nachbarskinder, die regelmäßig sahen, wie ihr Vater von Serenitys verrufenster Kneipe nach Hause torkelte, bevor das unvermeidliche Geschrei nach seiner Ankunft folgte. Wenn mitfühlende, besorgte Betreuer helfen wollten, leugnete sie die Misshandlungen. Sie wurde genauso meisterhaft wie ihre Mutter darin, eine Lüge zu leben.

In Ronnie Sullivan verliebte sie sich nicht zuletzt deshalb, weil er neu in der Stadt war und sie nicht so mitleidig ansah wie andere in der Schule. Sonny heiratete sie, weil er sie trotz ihres schwierigen Hintergrunds liebte. Er behauptet sogar, sie dafür zu bewundern, dass sie sich über ihre Umstände erhob und fest entschlossen ihren eigenen Weg in der Welt finden wollte.

Zu dem Zeitpunkt waren ihre Eltern bereits verstorben – ihr Vater an Leberzirrhose, ihre Mutter an einem Herzinfarkt. Mary Vaughn trauerte um beide nicht wirklich. Eher um die Familie, die sie nie hatte.

Und so wurde Sonny, der Sohn des angesehensten Bürgers der Stadt, erst allein ihre Familie, danach mit Rory Sue. Auch wenn es in ihrer Ehe mit Sonny an Leidenschaft mangelte, sie würde bei ihm immer sicher sein und seinen Respekt genießen, das hatte sie von Anfang an gewusst. Und durch seine Familie auch den Respekt der gesamten Stadt, obwohl sie verdammt hart dafür gearbeitet hatte, ihn sich aus eigener Kraft zu verdienen. Sie hatte sich damals gesagt, dass ihr Sicherheit und gegenseitiger Respekt mehr als genug wären. Und so war es für sie auch gewesen. Sonny hatte am Ende mehr gewollt.

Als er sie verlassen hatte, war sie wieder mal gezwungen gewesen, mit hoch erhobenem Kinn das Getuschel zu ignorieren. Aus dieser Erfahrung schöpfte sie, um wacker das Sullivan’s zu betreten und niemanden merken zu lassen, wie sehr ihr Herz schmerzte. Sie kam, um den Verkauf einer Immobilie zu feiern, und bei Gott, niemand würde einen anderen Eindruck erlangen.

Kein verräterischer Ton in ihrer Stimme und kein Stocken ihres Lächelns deuteten etwas anderes als reine Freude für Jeanette an, weil sie das Haus ihrer Träume bekommen hatte … und vielleicht auch den Mann, den Mary Vaughn gewollt hatte.

Als der Champagner eintraf, erhob sie das Glas. »Auf eine wunderbare Zukunft im neuen Zuhause«, toastete sie, bevor sie mit Jeanette und Tom anstieß. »Ich hoffe, ihr werdet dort glücklich.«

»Du weißt schon, dass es mein Haus ist, oder?«, merkte Jeanette ironisch an. »Tom sucht noch. Vielleicht fällt dir ja etwas ein, das ihm gefallen könnte.«

»Aber natürlich«, erwiderte Mary Vaughn und freute sich insgeheim. Was auch immer sich zwischen den beiden anbahnte, es war noch nicht so weit gediehen, dass sie zusammenziehen würden. Mit strahlender Miene sah sie Tom an. »Hat dir das Haus heute vom Stil her gefallen? Oder hättest du lieber was Neueres, Moderneres? Vielleicht etwas Beeindruckenderes, das deiner Stellung als Gemeindedirektor und als McDonald gerecht wird? Bestimmt bist du an ein großes Haus gewöhnt.«

»Eigentlich bin ich eher etwas gewöhnt, das kaum größer ist als mein Zimmer im Serenity Inn«, erwiderte Tom. »Ich verbringe so viel Zeit bei der Arbeit, dass ich zu Hause nur ein Zimmer zum Entspannen, einen Kühlschrank für das Nötigste und ein Schlafzimmer brauche.«

»Ich denke, wir finden schon mehr als das«, sagte Mary Vaughn. »Weißt du, ich wollte es vorhin nicht erwähnen, aber neulich hat mich deine Mutter angerufen.«

Toms Miene verfinsterte sich. »Ach ja?«, sagte er mit plötzlich frostiger Stimme.

»Anscheinend hat sie bei ihrem letzten Besuch eine meiner Broschüren mitgenommen und ein paar Häuser gesehen, die ihrer Meinung nach für dich geeignet sein könnten. Sie hat gesagt, sie würde sich nächste Woche melden und einen Termin vereinbaren, um sie sich anzusehen.«

»Wohl kaum«, entgegnete Tom. »Wenn sie noch mal anruft, sagst du ihr, dass du für mich arbeitest, nicht für sie.«

Mary Vaughn zuckte zusammen. Sie hatte bereits am Telefon gemerkt, dass Clarisse McDonald ihren eigenen Willen hatte. Die Frau würde sich nicht ohne Weiteres abspeisen lassen. »Ich glaube, sie will dir damit nur eine Last abnehmen«, meinte sie und hoffte, Tom so zu beschwichtigen. »Immerhin bist du unglaublich beschäftigt damit, dich bei deinem neuen Job einzuarbeiten. Und die Vorbereitungen der Weihnachtsfeierlichkeiten spannen dich zusätzlich ein.«

Er beugte sich vor. »Mary Vaughn, ich wäre dir sehr verbunden, wenn du meiner Mutter in Serenity keine Häuser zeigst. Außer sie hat vor, selbst in eines einzuziehen. Ich treffe meine eigene Entscheidung, wenn es so weit ist. Falls du damit ein Problem hast, suche ich mir einen anderen Makler. Dann kannst du meiner Mutter nach Herzenslust zeigen, was immer du willst.«

Offensichtlich war sie mitten in eine Familiendynamik hineingeraten, die sie nicht verstand. »Natürlich hab ich kein Problem damit, Tom«, steckte sie sofort zurück. Es wäre ein Volltreffer gewesen, jemanden von Clarisse McDonalds gesellschaftlicher Stellung als Kundin zu gewinnen, doch eine gute Beziehung zu Tom war ihr wichtiger. »Keine Sorge. Wenn sie wieder anruft, lasse ich mir eine Ausrede einfallen, um sie abzuwimmeln.«

»Danke.«

Mary Vaughn wandte sich an Jeanette. »Hast du schon jemanden für die Renovierungsarbeiten im Sinn, sobald das Haus offiziell dir gehört?«

Jeanette zuckte mit den Schultern. »Ich bin noch ganz benommen davon, dass ich heute tatsächlich einen Kaufvertrag für ein Haus unterschrieben habe. Ich denke, ich werde mit Ronnie reden. Er kennt die meisten Handwerker in der Stadt.«

»Und natürlich hab auch ich versprochen, ihr zu helfen«, warf Tom mit einem bedeutungsvollen Blick zu Jeanette ein.

»Ich meine, mich zu erinnern, dass ich dein Angebot abgelehnt habe«, konterte sie mit einem belustigten Blick. »Es hatte zu viele Haken und Ösen.«

»Über die können wir noch verhandeln«, sagte Tom. »Könnte unterhaltsam werden.«

Mary Vaughn lehnte sich zurück und konnte sich ein Seufzen kaum verkneifen. Gut, sie mochten nicht zusammenziehen, dennoch war da unbestreitbar etwas zwischen den beiden. Das Knistern in der Luft versengte sie förmlich.

Was stimmte nicht mit ihr? Im Vergleich zu Jeanette passte sie doch viel besser zu einem Mann wie Tom McDonald. Sie verstand etwas von Stil. Sie besaß Geld und gesellschaftliches Ansehen. Sie hatte hart dafür gearbeitet, sich ein Leben als gediegene, gebildete, erfolgreiche Frau aufzubauen, damit sie nie in einer miserablen Ehe gefangen sein würde wie ihre Mutter. Mary Vaughn war fest entschlossen gewesen, sich Möglichkeiten zu schaffen. Sonny mochte nicht ihre erste Wahl gewesen sein, aber er war ein anständiger Mann aus guter Familie. Er hatte sie einst vergöttert, trotzdem hatte er sie am Ende verlassen. In mancher Weise hatte Mary Vaughn das schwerer verkraftet als die erste Abfuhr von Ronnie Sullivan.

Offensichtlich war sie in Hinblick auf Männer mit einem fatalen Makel behaftet, konnte sich jedoch beim besten Willen nicht erklären, mit welchem. War sie zu forsch, zu selbstbewusst, zu unabhängig? Oder traf das Gegenteil zu? Empfand man sie als zu bedürftig?

Ironischerweise hatte sie sich immer so sehr auf Beziehungen mit Männern konzentriert, dass sie kaum Freundschaften mit Frauen pflegte. Deshalb gab es niemanden, den sie fragen konnte, was sie falsch anstellte. Bis zu diesem Tag hätte sie vielleicht mit dem Gedanken gespielt, Jeanette darauf anzusprechen, was nun natürlich nicht mehr in Frage kam. Es wäre zu demütigend, sich damit ausgerechnet an die Frau zu wenden, der Tom sichtlich verfallen war.

Aber eher früher als später würde sie es irgendwie herausfinden müssen, denn sie hatte es satt, die Abende zu Hause allein zu verbringen. Alles Geld und aller Erfolg der Welt konnten nicht aufwiegen, dass sie niemand Besonderen im Leben hatte, abgesehen von einer Tochter, die zu oft nicht gut auf sie zu sprechen war.

Nach einem weiteren Schluck Champagner bremste sich Mary Vaughn. Das Letzte, was sie brauchte, war Alkohol, der sie noch tiefer in Trübsinn versinken lassen würde. Unattraktiver als eine schlechte Verliererin war nur eine Verliererin, die sich in Selbstmitleid suhlte. Eine solche Frau wollte Mary Vaughn nicht sein. Sie war eine Überlebenskünstlerin, verdammt! Ganz gleich, was geschehen mochte, sie würde sich nicht gestatten, das je zu vergessen.

* * *

Jeanette, Tom und Mary Vaughn aßen gerade die letzten Bissen eines Stücks Schokoladenkuchen, das sie sich geteilt hatten, als Helen und Maddie mit ihren Ehemännern und Kindern eintrafen. Gleichzeitig kam Dana Sue mit einer weiteren Flasche Champagner, einer Flasche Kindersekt und Gläsern für alle aus der Küche. Erik und Karen folgten ihr dicht auf den Fuß. Nur Minuten danach schneite Elliot mit Karens Kindern herein.

»Was ist denn hier los?«, fragte Jeanette und starrte verdattert in die Runde. »Was machst ihr alle hier?«

»Du hast ein Haus gekauft!«, rief Maddie aus. »Das ist ein Grund zum Feiern. Nicht nur für dich, auch für uns. Immerhin bedeutet es, dass du uns nicht verlässt.«

»Woher wisst ihr von dem Haus?«, fragte Jeanette.

»Hast du echt gedacht, Dana Sue würde uns nicht sofort anrufen, als du ihr erzählt hast, das Nancy Yates dein Angebot angenommen hat?«, fragte Helen ironisch. »Sie, Maddie und ich hatten eine Heidenangst, du könntest eines Tages die Koffer packen und Serenity verlassen. Immerhin hast du vorher in Charleston und sogar mal in Paris gelebt. Wir dachten uns, Serenity würde dich nicht ewig halten können.«

»Aber es ist ja noch gar nichts endgültig«, protestierte Jeanette. »Ich hab bisher nicht mal den Kredit beantragt. Das kann ich erst am Montag.«

»Oh bitte, natürlich bekommst du den Kredit«, sagte Helen. »Nenn einfach uns alle als Referenz. Ich kann dir jetzt schon sagen, dass der Kredit so gut wie unter Dach und Fach ist.«

»Also qualifiziert es sich eindeutig als große Neuigkeit«, rechtfertigte sich Dana Sue. »So was muss man Freundinnen mitteilen.« Bei den Worten bedachte sie Mary Vaughn mit einem Blick, der sehr knapp an der Andeutung vorbeischrammte, sie wäre ein unerwünschter Eindringling.

Jeanette sah das kurze Aufblitzen von Schmerz in Mary Vaughns Augen, bezweifelte jedoch, dass es sonst irgendjemandem auffiel – dafür überspielte sie es zu schnell. Die Maklerin stand mit ihrem einstudierten Lächeln im Gesicht auf.

»Dann lasse ich euch jetzt mal feiern«, verkündete Mary Vaughn und griff nach ihrer Handtasche.

»Nein«, sagte Jeanette mit einem warnenden Blick zu Dana Sue. »Du musst bleiben. Zumindest für ein Glas Champagner.«

»Ich weiß nicht recht.« Mary Vaughn warf ihrerseits einen zweifelnden Blick zu Dana Sue.

»Bleib«, sagte Dana Sue, die Jeanettes Wink offenbar verstanden hatte. Das Wort mochte nicht übertrieben warmherzig ausgesprochen worden sein, dennoch genügte es, damit sich Mary Vaughn wieder setzte. Obwohl sie sich diesmal auf der Stuhlkante niederließ und fluchtbereit wirkte.

Die meisten anderen Gäste hatten das Lokal bereits verlassen, und Ronnie half Dana Sue, ein paar Tische zusammenzustellen. Maddies Kinder Kyle und Katie erhielten den Auftrag zu verhindern, dass Jessica Lynn und Karens Sohn das Restaurant verwüsteten. Die Babys schliefen friedlich in ihren Schalen.

»Okay, jetzt erzähl uns, wie’s dazu gekommen ist«, verlangte Maddie von Jeanette. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass du dir überhaupt Häuser ansiehst.«

»Hab ich eigentlich auch nicht«, erwiderte Jeanette. »Tom war auf der Suche. Ich hab ihn heute nach der Arbeit nur dabei begleitet. Und das Haus hab ich ihm direkt vor der Nase weggeschnappt.«

»Hat mir das Herz gebrochen«, behauptete er mit einem theatralischen Seufzen. »Dabei war ich so verliebt in das Haus.«

Jeanette warf ihm einen strengen Blick zu. »Ach was, warst du nicht. Ich hab dein Gesicht bemerkt, als du den ganzen Chintz im Wohnzimmer gesehen hast.«

Er grinste. »Na ja, all die Blumen waren schon ein wenig überwältigend, aber die Möbel kommen ja raus.« Er wandte sich an Mary Vaughn. »Sie kommen doch raus, oder?«

»Was interessiert’s dich?«, fragte Jeanette. »Du musst doch nicht damit leben.«

»He«, protestierte er. »Ich dachte, wir hätten eine Abmachung.«

Helen bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. »Was für eine Abmachung?« Sie drehte sich zu Jeanette. »Bitte sag, dass du keine Vereinbarung mit ihm geschlossen hast, ohne mich vorher drüberschauen zu lassen. Ich bin noch ein bisschen irritiert, dass du den Vertrag für das Haus nicht vor der Unterschrift mit mir besprochen hast.«

»Beim Haus musste ich schnell handeln«, erklärte Jeanette. »Es hat noch andere Bieter gegeben. Um den endgültigen Abschluss kannst du dich für mich kümmern, versprochen. Von jetzt an überlasse ich dir jedes Detail. Von solchen Dingen hab ich eh keine Ahnung.«

»Aber was ist mit dieser Abmachung, von der Tom redet?«, hakte Helen hartnäckig nach. »Worum geht’s da?«

Jeanette warf ihm einen mürrischen Blick zu. »Er hält sich für unterhaltsam. Tom hat die verrückte Idee, ein Zimmer bei mir zu mieten. Im Gegenzug will er mir beim Renovieren helfen.«

»Ist ein guter Deal«, betonte Tom.

Ronnie sah ihn mit einem Blick an, aus dem Belustigung und vielleicht ein Hauch von Bewunderung für seinen Einfallsreichtum sprach. »Netter Plan, aber ich muss einfach fragen. Weißt du überhaupt, wie man einen Hammer hält?«

»Ich kann viel, das im Haus nützlich wäre«, sagte Tom.

»Aber auch irgendetwas, das mit Renovieren zu tun hat?«, fragte Cal und handelte sich dafür einen kräftigen Rempler in die Rippen von Maddie ein. Fragend sah er sie an. »Was hab ich denn gesagt?«

»Du bringst Tom und Jeanette in Verlegenheit«, klärte Maddie ihn auf.

»War doch eine berechtigte Frage«, protestierte er und schaute hilfesuchend zu Ronnie, Elliot und Erik. »Oder nicht?«

»Auf jeden Fall«, stärkte Ronnie ihm den Rücken. »Nur nicht besonders geschickt.«

Tom wandte sich an Ronnie. »Kannst dich gern davon überzeugen. Lass mich einfach mit ein paar deiner Werkzeuge loslegen.«

Jeanette verdrehte die Augen. »Mir egal, ob du die Zustimmung der Jungs hier kriegst oder mir ein Diplom von der Berufsschule zeigst, du ziehst nicht bei mir ein. Ich hab vor, einen qualifizierten Handwerker zu beauftragen. Ronnie, kannst du mir jemanden empfehlen?«

»Nenn mir eine Zeit, dann komme ich vorbei, schaue mir an, was du brauchst, und helfe dir, den richtigen dafür zu finden«, antwortete er.

»Verräter«, raunte Tom.

Ronnie grinste. »Ich geh mit einer der Frauen hier nach Hause. Wenn’s hart auf hart kommt, halte ich mich an sie.«

»Was ist nur daraus geworden, dass Männer immer zusammenhalten?«, klagte Tom.

»Solche Männer sind offensichtlich nicht mit süßen Magnolien verheiratet«, sagte Cal, der sich immer noch die Stelle rieb, an der Maddie ihn gestupst hatte.

Jeanette beobachtete während des Wortwechsels Mary Vaughn und bemerkte den wehmütigen Ausdruck in ihren Augen. Ausnahmsweise schien er nicht speziell Ronnie zu gelten, sondern der gesamten Gruppe. Jeanette war froh, darauf bestanden zu haben, dass sie mit einbezogen wurde. Nicht zum ersten Mal drängte sich ihr der Eindruck auf, dass sich Mary Vaughn trotz all ihres Erfolgs einsam fühlte. Jeanette spürte, dass sie unbedingt dazugehören wollte, aber nicht recht wusste, wie sie es anstellen sollte, vor allem angesichts ihrer Vorgeschichte mit Dana Sue und Ronnie.

Die frischgebackene Hausbesitzerin ließ den Blick in die Runde wandern. »Das ist so nett von euch allen. Ich glaube, ich lebe vor allem deshalb so gern in Serenity, weil ich hier so gute Freunde gefunden habe. Es ist, als wäre man von einer Familie umgeben.«

»Familie kann überbewertet sein«, kommentierte Mary Vaughn verbittert. Dann schaute sie überrascht und verlegen über die eigene Wortmeldung drein.

»Amen«, sagte Tom und warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. »Wie heißt es so schön? Freunde sucht man sich aus, die Familie nicht.«

»Genau deshalb schätze ich mich glücklich, dass ich euch alle gefunden habe«, sagte Jeanette. »Ich denke, wir sollten noch mal anstoßen, diesmal auf die Freundschaft.«

»Darauf trinke ich gern«, sagte Maddie.

»Ganz meine Rede«, stimmte Helen ihr zu, genau wie Dana Sue, Karen und sogar die Männer.

Karens Augen wirkten feucht. »Ich kann bezeugen, wie wichtig ihr alle in meinem Leben seid. Ihr habt mir geholfen, es in den Griff zu kriegen.« Ihr Blick heftete sich auf Elliot. »Ihr und natürlich Elliot.«

»Natürlich«, kam von Maddie. »Habt ihr zwei eigentlich schon einen Hochzeitstermin?«

»Ich dränge ja darauf durchzubrennen«, sagte Elliot. »Aber Karen und meine Familie scheinen sich eine große kirchliche Trauung zu wünschen. Dafür müssen wir warten, bis Karens erste Ehe annulliert ist. Der Priester sagt, das könnte ein paar Monate dauern. Ich übe mich in Geduld.«

»Was nicht seine Stärke ist«, kommentierte Karen und verschränkte die Finger mit seinen. »Aber ich will diesmal alles richtig machen. Es soll ja für immer sein.«

Jeanette konnte sich nur mühsam ein Seufzen verkneifen. Es war herzergreifend gewesen, die sich entwickelnde Romanze zwischen den beiden zu beobachten. Elliot hatte sich praktisch vom ersten Treffen an voll und ganz auf sie eingelassen. Nur hatten Karens Vergangenheit mit einem Mann, der sie und ihre Kinder sitzen gelassen hatte, und die Vorbehalte von Elliots Familie gegen eine Geschiedene die Situation verkompliziert. Aber er hatte sich von den Hindernissen nie beirren lassen. Endlich fanden die beiden zu dem Glück, das sie verdienten.

Tom schien Jeanettes unterschwelligen Neid zu spüren. Er griff unter dem Tisch nach ihrer Hand und drückte sie. Sie sah ihm in die Augen und erkannte darin ein tiefes Verständnis, das ihr elektrisierend durch den Leib fuhr. Erschrocken zuckte sie zurück. Damit hatte er bereits zum zweiten Mal dieses warme, wohlige Gefühl in ihr ausgelöst. Anziehungskraft war eine Sache, aber sie durfte sich nicht gestatten, sich in ihn zu verlieben, nicht mal ein bisschen. Das würde sie nicht. Trotz des Flirtens, trotz des unbestreitbaren Knisterns zwischen ihnen – oder vielleicht gerade deswegen – durfte sie weder ihm noch sich selbst trauen.

Es spielte keine Rolle, wie gut er mit ihren Freunden auskam. Es spielte keine Rolle, dass er einfühlsam und freundlich war. Es zählte nur, dass er am Ende seine Karriere über sie stellen und sie verlassen würde. Das hatte er selbst gesagt.

Er schien zu spüren, dass sich ihr Rückzug nicht nur darauf beschränkte, die Hand von seiner zu lösen, und sah ihr in die Augen. »Alles in Ordnung?«

Jeanette rang sich ein Lächeln ab. »Es ist nur gerade knapp geworden«, antwortete sie. »Aber jetzt geht’s mir wieder gut.«

»Sollte ich wissen, was das bedeutet?«

Sie schüttelte den Kopf, dann stand sie auf. »Vielen Dank euch allen, dass ihr heute Abend hergekommen seid«, sagte sie und mied Toms Blick. »Aber ich glaube, für mich wird es jetzt Zeit. Ich bin geschlaucht. Mary Vaughn, wie sieht’s aus? Kannst du mich nach Hause fahren?«

Tom runzelte die Stirn. »Das kann ich machen.«

Zu Jeanettes Erleichterung stand Mary Vaughn sofort wieder auf den Beinen. »Ich fahre dich, Jeanette. Unterwegs können wir noch ein paar Dinge besprechen, okay?«

»Gern. Gute Nacht allerseits.«

Damit verließ sie fluchtartig das Sullivan’s und traf eine volle Minute vor Mary Vaughn beim Auto ein.

»Verrätst du mir, was das sollte?«, fragte Mary Vaughn, als sie das Fahrzeug entriegelte.

Jeanette schüttelte den Kopf.

»Da drin sind haufenweise Leute, die dich gern nach Hause gefahren hätten. Warum ich?«

»Weil ich dachte, du bist vielleicht die Einzige, die mich nicht mit tausend Fragen bombardiert«, gestand Jeanette reumütig. »Hab ich mich geirrt?«

Mary Vaughn schmunzelte. »Oh, ich hab schon Fragen«, erwiderte sie. »Aber ich kann sie für mich behalten.«

»Das wüsste ich sehr zu schätzen«, sagte Jeanette und lehnte sich seufzend auf dem Sitz zurück. »Übrigens, wie geht’s dir? Es war doch nicht zu unangenehm für dich, oder? Also nicht nur das Essen, sondern der gesamte Abend, meine ich.«

»Tatsächlich war es nicht halb so schlimm, wie ich befürchtet hatte«, antwortete Mary Vaughn. »Weißt du eigentlich, wie glücklich du dich schätzen kannst, solche Freunde zu haben?«

Jeanette nickte. »Weiß ich. Und ich danke Gott jeden Tag dafür.«

Als sie vor der kleinen Wohnanlage anhielten, in der Mary Vaughn schon einmal außerhalb der Öffnungszeiten des Corner Spa eine Hautcreme abgeholt hatte, drehte sie sich Jeanette zu. »Meinst du … wir könnten vielleicht mal zusammen Mittagessen gehen? Oder ins Kino? Schon klar, es kommt dir wahrscheinlich komisch vor, weil du ja weißt, dass ich an Tom interessiert war, aber der Zug ist eindeutig abgefahren. Du sollst nur wissen, dass zwischen uns kein böses Blut herrscht. Ich wäre gern deine Freundin, sofern es dich in keine unangenehme Lage mit Dana Sue und den anderen bringt.«

Jeanette dachte an den wehmütigen Ausdruck in Mary Vaughns Augen vorhin zurück. Mit Einsamkeit kannte sie sich nur zu gut aus. »Es kann wohl kaum jemand was dagegen haben, wenn wir mal zusammen zu Mittag essen. Ich hab meinen Terminkalender nicht in der Handtasche. Was hältst du davon, wenn wir bei deinem nächsten Besuch im Spa etwas ausmachen?«

»Das wäre toll«, sagte Mary Vaughn. »Danke für den Kauf heute. Falls irgendwelche Fragen auftauchen, wenn du bei der Bank den Kredit beantragst, gib einfach Bescheid. Sonst sehen wir uns irgendwann die Woche im Spa. Und ich erledige den Papierkram im Eiltempo, damit das Haus so schnell wie möglich endgültig dir gehört.«

Impulsiv beugte sich Jeanette zu ihr und umarmte sie kurz. »Gute Nacht. Bis bald.«

Der leichte Schimmer von Tränen, den sie in Mary Vaughns Augen sah, überraschte sie. Der Anblick verriet ihr, dass die Entscheidung richtig gewesen war, die Maklerin an dem Abend in die Gruppe einzubeziehen. Jeanette spürte, dass Mary Vaughn unter dem polierten Äußeren und dem forschen, so entschlossenen Auftreten genauso viele Unsicherheiten plagten wie alle anderen. Was sie vor diesem Abend nie vermutet hätte.