KAPITEL 10

Obwohl er Jeanette gesagt hatte, er würde sie anrufen, hatte Tom hundert Ausreden gefunden, es nicht zu tun. Dabei hatte sein Zögern nichts mit den Wünschen seiner Mutter zu tun. Vielmehr erschütterte ihn, wie heftig er auf ihren Angriff gegen eine ihm kaum bekannte Frau reagiert hatte. Tom war stinksauer gewesen. Er hatte den überwältigenden Drang verspürt, Jeanette zu beschützen, ihr zu Hilfe zu eilen. So hatte er noch nie zuvor bei einer Frau empfunden.

Nicht dass Jeanette seinen Schutz gebraucht hätte. Sie mochte wie ein verletzliches Waisenmädchen aussehen, hatte sich aber gegen eine Frau, die viele reiche und mächtige Menschen als imposant empfanden, mehr als nur behauptet. Allerdings war er nicht ganz sicher, ob sich Jeanette der möglichen Folgen bewusst war. Seine Mutter hatte einen breit gefächerten Freundeskreis und eine unschöne rachsüchtige Ader. Bei dem Vorfall im Chez Bella mochte sie im Unrecht gewesen sein, dennoch hatte er ihre Eitelkeit verletzt. Und das würde sie Jeanette in die Schuhe schieben, ganz gleich, wie lächerlich und haltlos die Behauptung war.

Tom glaubte zwar, seiner Mutter mit seiner Drohung die Hände ein wenig gebunden zu haben, aber das würde sie nicht ewig davon abhalten, Unruhe zu stiften. Erst recht nicht, wenn sie seinen Vater mit hineinzog. Zusammen wussten die beiden, wie man jemandem das Leben zur Hölle macht – das konnte er aus eigener Erfahrung bestätigen.

Aber der wahre Grund für seine Scheu vor dem Anruf bei ihr … war Angst. Wenn Jeanette ihn mit jenen großen braunen Augen ansah, verlagerte sich etwas in ihm. Er verlor die Konzentration, was ihm in seinen fünfunddreißig Lebensjahren noch nie passiert war. Das jagte ihm eine Heidenangst ein.

Indem er sich stets konsequent von heiratswilligen Gesellschaftsdamen ferngehalten hatte, war er frei und ungebunden geblieben. Stattdessen war er immer mit aggressiven, selbstsicheren Frauen wie Mary Vaughn ausgegangen – die eigentlich ein bisschen zu alt für ihn war, aber offensichtlich bereit, sich mit einer Affäre zu begnügen. Allmählich gingen ihm die Ausreden aus, um ihre Einladungen auszuschlagen. Zudem fand er es seltsam beunruhigend, dass er überhaupt das Gefühl hatte, sie ausschlagen zu müssen. Tom wusste, dass es an seinen Gefühlen für Jeanette lag. In der Vergangenheit hatte er sich nie an eine Frau binden lassen – schon gar nicht an eine, die behauptete, keinerlei Interesse an ihm zu haben. Mit kultivierten, aber anspruchslosen Frauen gestaltete es sich erheblich einfacher, der Karriere oberste Priorität einzuräumen.

Er hatte Jeanette bereits gesagt, dass er nicht vorhatte, den Rest seines Lebens in Serenity zu verbringen. Die Stadt war für ihn zu klein, zu provinziell. Aber der Posten des Gemeindedirektors stand zwei Stufen über dem davor im Bau- und Planungsamt einer Ortschaft, die kaum groß genug für eine Ampel war. Auch eine deutliche Stufe über dem des Finanzleiters, den er in einer anderen winzigen Gemeinde bekleidet hatte. Tom betrachtete Serenity lediglich als weiteres Sprungbrett.

Zwei, höchstens drei Jahre, dann wäre er bereit für eine größere Stadt, vielleicht sogar für Charleston – was seine Eltern wohl vorzeitig ins Grab treiben würde. Sie waren immer noch erschüttert von seiner Entscheidung, eine Karriere in Kommunalverwaltungen anzustreben. Wenn er sich darauf versteifte, direkt vor ihren Nasen zu arbeiten, würden sie sich wahrscheinlich in Grund und Boden dafür schämen, dass sich ihr Sohn als Beamter verdingte, unabhängig davon, wie hoch seine Position wäre. Insbesondere sein Vater wollte für ihn die vermeintliche Macht, die mit einem gewählten Amt einherging.

»Kein McDonald hat je für einen Hungerlohn unter der Fuchtel eines planlosen Rats von Landeiern gearbeitet«, hatte sein Vater bei mehr als einer Gelegenheit geäußert. Und er war unerbittlich bei seinem beißenden Spott geblieben.

»Dann bin ich eben der Erste«, hatte Tom erwidert, fest entschlossen, sich nicht verbiegen zu lassen. »Mein Leben. Meine Entscheidung.«

»Tja, dann komm bloß nicht bei mir angekrochen, wenn du später mal arm wie eine Kirchenmaus endest«, hatte sein Vater erwidert.

»Fiele mir nicht im Traum ein.« Tom hatte bei den Worten ein Triumphgefühl darüber empfunden, dass er sich treu geblieben war, obwohl es so viel einfacher gewesen wäre, den Forderungen seines Vaters nachzugeben.

Bei solchen Gelegenheiten fragte er sich wirklich, ob er seine Laufbahn nicht doch nur aus Trotz gegenüber seiner Familie gewählt hatte. Tatsächlich jedoch gefiel es ihm, einer Gemeinde dabei zu helfen, sich neu zu definieren oder zu erfinden. Er hatte klare Vorstellungen davon, wie Wachstum und Entwicklung in Gemeinden verantwortungsbewusst gesteuert werden sollten.

Serenity hatte ihn angesprochen, weil der Ort an der Schwelle zu großen Veränderungen stand. Bisher hatte er sich seinen Kleinstadtcharme bewahrt. Dank unternehmerischer Visionäre wie den Frauen, die das Corner Spa eröffnet hatten, und Ronnie Sullivan, der mit seinem Baumarkt zur Wiederbelebung der Innenstadt beitrug, probierte Serenity Neues aus. Der Ort war nicht in Verzweiflung versunken wie so viele andere Kleinstädte, in denen das Wachstum aus dem Ruder lief und große Ketten die örtlichen Geschäfte in den Ruin trieben.

Ihm entging nicht die Ironie daran, dass ausgerechnet einer der Reize des Kleinstadtlebens in Serenity – die Weihnachtsfeierlichkeiten – derzeit das größte Ärgernis in seinem Leben darstellten. Und daran, dass eine Frau, die fast genauso wenig Interesse daran erkennen ließ wie er, seine ausgefeilten Pläne aus der Bahn werfen könnte.

»Verdammt«, murmelte er und warf seinen Stift quer durch den Raum. Wie immer überanalysierte er alles. Wenn er den Abend mit Jeanette verbringen wollte, vergeudete er Zeit, indem er sich in seinem Büro verschanzte. Mittlerweile war sie wahrscheinlich zu dem Schluss gelangt, er hätte es sich anders überlegt und sich auf die Seite seiner Mutter geschlagen. Und er wusste, dass ihr das überhaupt nicht schmecken würde.

Als er im Corner Spa anrief, war sie leider schon nach Hause gegangen. Ein Blick ins Telefonbuch förderte keine private Telefonnummer zutage. Was bedeutete, dass sie bewusst auf einen Eintrag verzichtet hatte. Er könnte eine ihrer Freundinnen anrufen und sie danach fragen. Nur würde er sich damit vermutlich eine Reihe ungebetener Ratschläge von den Frauen einhandeln, die Cal und jeder sonst im Ort die süßen Magnolien nannten. Süß, dachte er. Aufdringlich wäre treffender.

Dennoch blieb er fest entschlossen, Jeanette aufzuspüren und den Abend mit ihr zu verbringen. Zu den Vorteilen seiner Tätigkeit im Rathaus gehörte, dass er Zugang zu digitalen Immobilienaufzeichnungen hatte. Er gab ihren Namen ein, erzielte jedoch keinen Treffer. Demnach musste sie zur Miete wohnen. Zwar gab es in Serenity kaum Wohnanlagen, aber sie konnte sich in praktisch jedem Haus eingemietet haben. Frustriert schaltete er den Computer aus. Was nun?

Es gab im Ort nur eine Handvoll Lokale, in denen sich die Leute am Freitagabend die Zeit vertrieben. Das Sullivan’s gehörte dazu. Rosalina’s ebenfalls. Es wäre kein großer Aufwand, in beiden nachzusehen.

Aber als er das Rathaus verließ, drangen Geräusche an seine Ohren, die wie ein leises Rumoren klangen. Als er in den Oktoberhimmel aufschaute, erblickte er in der Ferne helle Lichter. Football! An der Highschool musste gerade ein Spiel stattfinden. Da Cal als Trainer an der Highschool arbeitete – wenn auch für Baseball, nicht Football –, vermutete Tom, dass er dort nicht nur Cal und Maddie, sondern auch ihre Freunde antreffen könnte, vielleicht einschließlich Jeanette.

Kurzentschlossen fuhr er zur Highschool, musste jedoch mehrfach um den Block kreisen, bis er einen Parkplatz fand. Eine Mischung aus Jubel und Buhrufen begrüßte ihn, als er zurück zum Stadion eilte. Drinnen kaufte er sich einen Hotdog und eine Limonade, bevor er die Tribüne nach bekannten Gesichtern absuchte.

»He, Tom, hier oben!«

Er schaute auf und sah Cal winken. Maddie saß zusammen mit allen Kindern neben ihm, sogar mit dem Baby. Jeanette hatte am Ende der Reihe Jessica Lynn auf dem Schoß. Sie schaute bewusst nicht mal in seine Richtung. Beinah hätte Tom darüber gelächelt. Demnach war ihr durchaus aufgefallen, dass er sich nicht gemeldet hatte, und sie hatte die falschen Schlüsse daraus gezogen. Das bedeutete, ihr musste etwas an ihm liegen, zumindest ein bisschen. Damit würde er sich vorerst begnügen.

Tom eilte die Stufen hinauf und zwängte sich vor Cal, Maddie und den Kindern vorbei, damit er sich neben Jeanette setzen konnte.

»Ich dachte mir, dass ich dich hier finden könnte«, sagte er. Jessica Lynn griff dabei nach dem Würstchen in seinem Hotdog, packte es mit den kleinen Fäustchen und bekleckerte sich mit Senf.

Jeanette nahm es ihr ab und steckte es zurück in das Brötchen. »Den willst du vielleicht lieber nicht mehr essen«, meinte sie, während sie dem kleinen Mädchen die Hände und das Gesicht abwischte. Allerdings konnte sie gegen den Senf auf dem rosa T-Shirt nichts unternehmen.

Tom zuckte mit den Schultern, wickelte den Hotdog ein und legte ihn zu seinen Füßen ab.

»Ich hole mir später noch einen. Sind wir am Gewinnen?«

»Die Anzeigetafel ist da drüben«, gab sie barsch zurück und deutete mit dem Kopf zum Ende des Spielfelds.

»Bist du sauer auf mich?«

»Warum sollte ich sauer sein?«, fragte sie und mied seinen Blick.

»Weil ich gesagt habe, ich würde anrufen, und mich doch nicht gemeldet habe.«

»Ich hab nicht erwartungsvoll aufs Telefon gestarrt, falls du das denkst«, erwiderte sie.

»Das glaub ich sofort«, sagte er. »Trotzdem tut’s mir leid. Ich hatte eine Menge im Kopf.«

»Zum Beispiel, ob du mit einer Frau gesehen werden willst, die deine Mutter von Angesicht zu Angesicht beleidigt hat?«

Er grinste. »Nein, das hatte nichts damit zu tun.«

Endlich begegnete sie seinem Blick. »Was dann?«

»Ich hab mich gefragt, ob du anfängst, mir zu viel zu bedeuten«, gestand er offenherzig. Und da, dachte er, als ihn ein Anflug von Hitze durchzuckte, haben wir das Problem. Ein Blick in ihre Augen, und er geriet völlig aus der Spur. So sehr ihm das Gefühl widerstrebte, er schien nicht verhindern zu können, dass er immer wiederkam und sich mehr davon holte. »Können wir irgendwohin gehen und reden?«

»Ich bin mit Freunden bei einem Footballspiel«, wies sie ihn auf das Offensichtliche hin.

»Und doch hast du nicht mal gewusst, wie es steht«, konterte er und konnte sich kaum ein Lachen verkneifen. So hartnäckig sie sich gegen ihn sträubte, er war überzeugt davon, dass sie sich von ihm ebenso angezogen fühlte wie er sich von ihr. Am Ende würde sie davor genauso kapitulieren müssen, wie er es bereits getan hatte.

»Ich hab sehr wohl gewusst, wie es steht«, widersprach sie. »Ich wollte es dir bloß nicht sagen. Tatsächlich war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt mit dir reden wollte.«

»Und jetzt?«

»Mit der Bemerkung, dass ich dir vielleicht zu viel bedeute, hast du fast die Kurve gekriegt.«

»Fast? Was willst du denn noch hören?«

»Dass deine Mutter nach Sibirien abgeschoben worden ist«, schlug sie vor.

Er grinste. »Dazu ist es nicht gekommen. Aber ich hab ihr gesagt, dass ich mir von ihr kein weiteres Wort gegen dich anhöre.«

Darüber wirkte Jeanette überrascht. »Wirklich? Und hast du’s ernst gemeint?«

»Ich bin davongegangen und hab sie auf dem Parkplatz vom Sullivan’s sitzen gelassen, als sie das letzte Wort haben wollte.«

Jeanettes Züge hellten sich auf. »Danke.«

»Gern geschehen. Können wir jetzt irgendwohin gehen und reden?«

Ein beunruhigendes Funkeln trat in ihre Augen. »Na schön, aber vorher muss ich noch was machen.«

»Ach ja?«

Zu seiner Verblüffung legte sie ihm eine Hand in den Nacken und drückte ihm einen Kuss auf den Mund, der seinen Puls in die Höhe schnellen ließ und in seinem Kopf mehr Feuerwerkskörper explodieren ließ, als bei einem Sieg der Serenity High gezündet wurden.

Als sie sich schließlich zurückzog, starrte er sie benommen an. »Wofür war das?«

Sie musterte ihn mit einem selbstgefälligen Lächeln. »Erklär ich dir irgendwann«, versprach sie. Dann setzte sie ein schelmisches Grinsen auf. »Oder auch nicht.«

An der Stelle bemerkte Tom, dass Cal, Maddie und die Hälfte der Leute auf der Tribüne wie gebannt zu Jeanette und ihm starrten. So schnell, wie sich die Mühlen der Gerüchteküche Serenitys drehten, würde bereits morgen früh die ganze Stadt über diesen Kuss und darüber reden, wie Jeanette in aller Öffentlichkeit ihren Anspruch auf ihn erhoben hatte. Ihn verblüffte, dass Jeanette dazu bereit gewesen war.

»Ich glaube, es sehen gerade mehr Leute uns zu als dem Spiel«, meinte er zu ihr und achtete aufmerksam auf ihre Reaktion.

»Genau«, erwiderte sie und wirkte dabei überraschend zufrieden. »Jetzt können wir gehen.«

Tom hatte immer noch keine Ahnung, was sie damit bezweckt hatte, aber vielleicht spielte es keine Rolle. Warum einen Kuss in Frage stellen, der seine Welt gerade so herrlich auf den Kopf gestellt hatte? Er stand auf und folgte ihr.

Im Vorbeigehen übergab sie Jessica Lynn an Cal. »Gute Nacht«, verabschiedete sie sich. »Danke für die Einladung.«

»War schön, dass du kommen konntest«, gab Cal mit einem breiten Grinsen im Gesicht zurück.

Maddie starrte ihre Freundin nur mit einem Blick an, der erahnen ließ, dass sie gleich am Samstagmorgen eine Menge Fragen an Jeanette haben würde.

Tom wusste nicht wirklich, was gerade passiert war. Aber was auch immer in Jeanettes Kopf vorging, es war vielversprechender als alles, was sie bisher gesagt oder getan hatte. Früher mal hätte dieser kleine Sieg vielleicht gereicht, um ihn zufriedenzustellen, sein Ego zu reparieren und ihn weiterziehen zu lassen. Bei Jeanette konnte er es stattdessen kaum erwarten zu sehen, wohin dieser Kuss noch führen würde.

* * *

Obwohl es vermutlich völlig daneben gewesen war, verspürte Jeanette immense Befriedigung über die öffentliche Bekundung ihrer Zuneigung zu Tom. Das sollte Mary Vaughn den Wind aus den Segeln nehmen und etwaige Gerüchte über Toms Sexualität im Keim ersticken. Jeanette fand, es war das Mindeste, was sie für einen Mann tun konnte, der sich für sie gegen seine eigene Mutter gestellt hatte. Davon fühlte sie sich immer noch ein wenig überwältigt. Es konnte ihm nicht leichtgefallen sein.

»Wohin möchtest du gern?«, erkundigte er sich, während er zu seinem Auto vorausging.

»Ich weiß ja nicht, wie’s bei dir aussieht, aber ich bin am Verhungern«, erwiderte sie.

»Sullivan’s?«

Sie schüttelte den Kopf. »Da sind Dana Sue und Erik«, sagte sie bedeutungsvoll.

»Stimmt.« Tom begriff auf Anhieb. »Aufdringlich.«

»Genau.«

»Wie wär’s mit Rosalina’s?«

»Viel besser. Und wir werden vor den Zuschauern vom Spiel dort sein. Also dürfen wir das Lokal so ziemlich für uns allein haben.«

»Ach was. Willst du ungestört sein, weil du vorhast, mich noch mal zu küssen?«

»Nein, weil du gesagt hast, dass du reden willst.«

»Küssen klingt interessanter.«

»Ich hab schon befürchtet, dass ich dir damit einen falschen Eindruck vermitteln könnte«, sagte sie.

»Welchen falschen Eindruck genau könnte ein Kuss denn vermitteln, der heiß genug war, um ein ganzes Dorf in Alaska zu wärmen?«

Jeanette versuchte zu verbergen, wie sehr seine Einschätzung sie freute. »Der falsche Eindruck in dem Fall ist, dass es regelmäßig mehr davon geben wird.«

Er seufzte dramatisch. »Ich hab schon befürchtet, dass du das meinst. Das wirft natürlich die Frage auf, warum du es bei all den möglichen Folgen überhaupt gemacht hast. Also, dass ich eine falsche Vorstellung kriegen könnte, dass die Leute reden könnten und so weiter.«

»Ist wahrscheinlich am besten, wenn wir das nicht vertiefen«, erwiderte sie und dachte dabei erneut an Mary Vaughns irrige Einschätzung. Vielleicht würde er das genauso lachhaft finden wie sie, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls wollte sie nicht für mögliches böses Blut zwischen den beiden verantwortlich sein. Schließlich würden sie in ihren jeweiligen Eigenschaften als Gemeindedirektor und Präsidentin der Handelskammer auch künftig zusammenarbeiten müssen.

Als Jeanette und Tom bei Rosalina’s eintrafen, hatten sie das kleine, familiengeführte italienische Restaurant tatsächlich für sich allein. Jeanette liebte die Gerüche – Knoblauch, Tomaten, Teig. Die Aromen empfand sie als genauso beruhigend wie einige der Kräuterdüfte, die sie im Spa verwendete.

»Eine große Pizza mit Champignons, Oliven und grünem Paprika?«, fragte Tom, nachdem sie sich hingesetzt hatten.

Überrascht musterte sie ihn. »Das weißt du noch von damals, als wir mit Maddie und Cal hier waren?«

»Ich achte auf wichtige Kleinigkeiten, Jeanette«, erklärte er feierlich.

Sie war beeindruckt. »Was glaubst du, noch über mich zu wissen?«

»Lass uns bestellen, dann erzähl ich’s dir«, schlug er vor, winkte die Kellnerin heran und bestellte die Pizza und die Getränke. Er sah Jeanette an. »Keinen Salat, richtig?«

»Das Gemüse auf der Pizza reicht«, erwiderte sie.

»Ich komme gleich mit den Getränken zurück«, kündigte Kristi Marcella an, die hübsche, dunkelhaarige Tochter der Besitzer. Mittlerweile besuchte Kristi das Community College, trotzdem half sie an den Wochenenden nach wie vor im Restaurant aus. »Die Pizza dauert ungefähr fünfzehn Minuten.«

»Danke«, sagte Jeanette, bevor sie Tom mit einem neugierigen Blick bedachte. »Okay, schieß los.«

Sein Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. »Mal sehen … Du riechst nach Lavendel. Du bist verrückt nach Orangen-Preiselbeer-Milchbrötchen und dem Apfel-Brotpudding vom Sullivan’s. Meist bist du zurückhaltend und umgänglich, aber du kannst ganz schön abgehen, wenn dir jemand Unrecht tut. Und davon, dich mit mir einzulassen, hält dich irgendwas ab, das du noch nicht mal deinen besten Freundinnen erklärt hast.«

Den letzten Eindruck wollte sie korrigieren, aber er legte ihr einen Finger an die Lippen.

»Ich weiß, was du gesagt hast. Aber es geht nicht darum, dass ich angekündigt habe, ich würde irgendwann von hier weggehen«, sagte er. »Es reicht tiefer als das.«

Erschüttert von seiner Erkenntnis lehnte sie sich auf dem Stuhl zurück.

»Wie war das?«, fragte er.

»Ziemlich gut«, gestand sie ihm zu. »Vor allem für jemanden, der mich kaum kennt.«

»Das finde ich übrigens faszinierend«, sagte er. »Sogar Menschen, die dir nahestehen und dich viel länger kennen als ich, wissen nur, was du sie sehen lassen willst. Einen Teil deiner Vergangenheit versteckst du, und offensichtlich enthält er etwas Bedeutendes. Etwas, das geprägt hat, wer du bist.«

Jeanette wusste nicht recht, was sie davon halten sollte, wie gut er sie zu deuten vermochte. »Nicht so, wie du es meinst«, argumentierte sie. »Es gibt einfach Dinge, über die ich nicht gern rede, an die ich mich nicht gern erinnere.«

»Wenn es dir zu schwer fällt, darüber zu reden, und sie zu verstörend sind, um sich daran zu erinnern, dann sind sie wichtig«, sagte er. »Ich bin mir nicht sicher, ob es gesund ist, solche Dinge in sich hineinzufressen. Die Last wird leichter, wenn man sie mit jemandem teilt. Und dafür hättest du ja einige ziemlich gute Freundinnen.«

»Wo ist Ihre Couch, Dr. McDonald?«, fragte sie zynisch. »Ich hatte ja keine Ahnung, dass ich heute Abend psychoanalysiert werde.«

Zu ihrer Erleichterung steckte er sofort zurück. Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.

»Keine Couch«, sagte er übertrieben bedauernd. »Und kein Haus, in das ich sie stellen könnte.«

Jeanette war dankbar für den Themenwechsel und die Ankunft der Kellnerin mit dem Essen. Sie nutzte den Moment, um die Gedanken zu sammeln, bevor sie fragte: »Wo wohnst du eigentlich? Immer noch im Serenity Inn?«

Tom nickte.

»Die Zimmer dort sind winzig. Ich hab dort auch gewohnt, als ich ursprünglich hergezogen bin, aber ich konnte es kaum erwarten, eine größere Bleibe zu finden.« Sie legte ein Stück der dampfenden Pizza auf ihren Teller, atmete tief und genüsslich ein, dann pustete sie zum Abkühlen darauf.

Toms Blick schien auf ihren Mund geheftet zu sein. Die Intensität seiner Faszination von ihren Lippen fühlte sich beunruhigend an.

»Tom«, sagte sie erst leise, dann mit mehr Nachdruck: »Tom!«

»Hm?« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Hab mich ablenken lassen.«

»Ist mir aufgefallen«, erwiderte sie belustigt.

»Worüber haben wir gerade geredet?«

»Du hast gesagt, dass du im Serenity Inn wohnst, und ich hab darauf erwidert, dass ich dort auch untergeschlüpft war, als ich hergezogen bin«, erinnerte sie ihn. »Hast du vor, dort zu bleiben? Immerhin hast du deutlich zum Ausdruck gebracht, dass du nicht vorhast, allzu lange in Serenity zu leben. Warum also mühsam ein Haus suchen?«

Er runzelte die Stirn. »Tatsächlich suche ich sehr wohl nach einem Haus.«

»Mary Vaughn würde dir bestimmt nur zu gern dabei helfen«, sagte Jeanette.

»Hat sie mir schon angeboten«, erwiderte er in einem Ton, der durchklingen ließ, dass ihm nicht gefiel, was sie ihm sonst noch bieten wollte. »Aber ich denke, ich finde allein etwas.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Es sei denn, du möchtest mir helfen.«

Zu ihrer Überraschung ertappte sie sich dabei zu antworten: »Morgen am späten Nachmittag hätte ich ein paar Stunden Zeit, wenn du wirklich eine zweite Meinung willst.«

Er wirkte über das Angebot genauso verblüfft, wie sie es selbst war. »Bist du sicher?«

»Ja. Warum nicht?«, sagte sie unbekümmert. Was konnten ein paar Stunden schon schaden? Sie würden ja durch Serenity fahren, nicht irgendwo für ein langes, intimes Gespräch parken. Außerdem spielte sie selbst mit dem Gedanken, aus ihrer Mietwohnung auszuziehen und ein Haus zu kaufen. Es wäre die perfekte Gelegenheit, sich anzusehen, was der Markt zu bieten hatte.

»Soll ich dich im Spa abholen?«, fragte er.

»Ja. Spart Zeit, wenn ich nach der Arbeit nicht vorher nach Hause muss.«

»Wann soll ich dort sein?«

»Meine letzte Kundin wird um Viertel vor vier fertig. Ich kann um vier Uhr bereit sein. Allzu viel Zeit bleibt uns dann zwar nicht, trotzdem sollten wir uns zumindest ein paar verfügbare Häuser ansehen können.«

»Ich sehe mir die Unterlagen an und suche die interessantesten heraus«, sagte er. »Das spart auch Zeit.«

»Gute Idee.«

»Okay, dann haben wir ein Date«, meinte er.

Jeanette spürte, dass er das Wort bewusst gewählt hatte, ließ es ihm aber durchgehen.

»Da wir gerade vom Wohnen reden«, fuhr Tom fort. »Mir ist heute Abend klar geworden, dass ich keine Ahnung habe, wo du wohnst und wie ich dich erreichen kann, außer im Corner Spa. Weil ich deine Nummer im Telefonbuch nicht finden konnte, hab ich mein Glück einfach bei dem Footballspiel versucht.«

Jeanette ignorierte die unausgesprochene Frage nach ihrer Adresse und Telefonnummer. »Du warst tatsächlich dort, weil du nach mir gesucht hast? Ich dachte, Cal hätte dich vielleicht eingeladen, weil Maddie ihn dazu gezwungen hat. Bei so was kann sie unheimlich verschlagen sein.«

»Habe ich schon gemerkt, aber nein. War eine spontane Entscheidung, nachdem ich dich bei der Arbeit nicht mehr erreichen konnte.« Er musterte sie. »Gibst du mir deine Nummer zu Hause oder deine Handynummer? Oder hast du vor zu tun, was du kannst, um die Geheimnisvolle zu bleiben?«

Sie wog die Frage ab, dann grinste sie. »Die Geheimnisvolle zu geben scheint für mich ja recht gut zu funktionieren, wenn du durch die Stadt hetzt, um mich zu finden«, meinte sie.

»Ein Anruf wäre schneller und lohnender«, argumentierte er.

»Für dich vielleicht. Aber mir gefällt irgendwie das Wissen, dass du dir mehr Mühe geben musst.«

»Deine perverse Ader ist eine echte Herausforderung«, meinte er.

»Ohne Herausforderungen im Leben würdest du dich im Nu langweilen«, mutmaßte sie. »Die meisten Frauen verfallen dir wahrscheinlich gleich bei der ersten Begegnung. Immerhin bist du attraktiv, witzig, reich. Insgesamt ein ziemlich guter Fang.«

»Aber du bist nicht interessiert?«, folgerte er mit einem schelmischen Funkeln in den Augen.

»Interessiert vielleicht«, räumte sie ein. »Aber am Haken? Nein. Du wirst dir schon mehr Mühe geben müssen, um mich an Land zu ziehen.«

»Vorsicht, Jeanette«, warnte er. »Ich hab dir schon mal gesagt, dass ich bei Herausforderungen und Mutproben gern ein bisschen übermütig werde. Bist du sicher, dass du dafür gewappnet bist?«

Etwas in seinem Ton und in dem elektrisierenden Knistern in der Luft um sie beide herum ließ Jeanette unbesonnen werden. Sie sah ihm unverwandt ins Gesicht. »Zeig ruhig, was du draufhast.«

Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, trat ein gefährliches Funkeln in seine Augen. Da wusste sie, dass sie die Grenze von der Sicherheit ihrer Komfortzone zu einer von Risiken gespickten Lage überschritten hatte. Und dennoch verspürte sie kein Bedauern darüber.

Dieses berauschende Schwindelgefühl im Kopf und das Flattern im Magen hatten ihr gefehlt. Jeanette wollte, dass es noch ein wenig länger anhielt. Dana Sue hatte recht. Mit Vorsicht blieb sie vielleicht in Sicherheit, aber es war kein richtiges Leben. Es lag viel zu lange zurück, dass sie sich zuletzt so gefühlt hatte, weil ein Mann sie so ansah wie Tom gerade. Gut, es wäre nicht für die Ewigkeit – na und? Sie hatte schon öfter ein gebrochenes Herz überlebt, als sie zählen wollte. Daher wusste sie, dass sie es konnte.

Als Tom nach ihrer Hand griff, sie an seine Lippen hob und ihre Knöchel wie ein Gentleman in einem der alten Schwarz-Weiß-Filme küsste, die sie so liebte, seufzte sie und ließ zu, dass sie sich ein klein wenig verliebte. Jeanette schlug alle Warnungen vor einer drohenden Katastrophe in den Wind – darunter das beunruhigende Bild von seiner Mutter, dem alten Drachen. In Gedanken betete sie, dass es diesmal gut gehen und ihr Herz intakt bleiben würde.