KAPITEL 13

Den gesamten Sonntag über klingelte Jeanettes Telefon in unregelmäßigen Abständen immer wieder, doch sie bemühte sich, es zu ignorieren. Schließlich entschied sie sich für einen ausgedehnten Spaziergang, um der Versuchung zu entfliehen ranzugehen. Durch die Anruferkennung wusste sie, dass die meisten Anrufe von Tom stammten, ein paar jedoch auch von Maddie, Helen und Dana Sue. Zweifellos wurden sie alle zunehmend frustrierter darüber, dass sie nicht in Erfahrung bringen konnten, warum sie Tom am Abend zuvor einfach so sitzen gelassen hatte.

Erst spät am Sonntagabend, als die Anrufe schließlich endeten, wurde ihr klar, dass sie das Unvermeidliche nur hinausgezögert hatte. Am nächsten Morgen würde sie sich Tom bei der Ausschusssitzung für die Weihnachtsfeierlichkeiten stellen müssen. Noch einmal konnte sie nicht schwänzen. Das wäre ein Maß an Feigheit, das sogar sie als inakzeptabel empfand.

Bevor sie zu Bett ging, legte sie als Schub für ihr Selbstvertrauen eines ihrer Lieblingsoutfits bereit. Sie redete sich ein, der knallrote Pullover wäre passend. In Wirklichkeit hatte sie ihn ausgewählt, weil er ihrem Teint schmeichelte. Sie kombinierte ihn mit einer grauen Hose und roten Schuhen, zu deren Kauf Helen sie überredet hatte. Obwohl es sich um keine der von Helen bevorzugten, sündteuren High Heels handelte, hatten sie mehr gekostet, als Jeanette normalerweise für ein gesamtes Outfit ausgab. Der Kauf der dazu passenden Handtasche hatte ihr Sodbrennen verursacht.

Als sie den Besprechungsraum im Rathaus betrat, fühlte sie sich selbstbewusst und sexy. Aber als sie das anerkennende Leuchten in Toms Augen bemerkte, wurde ihr klar, dass sie sich wohl besser für etwas Altbackenes hätte entscheiden sollen. Ihre Aufmachung brachte ihn eindeutig auf Ideen. Sie schluckte schwer, rang sich ein Lächeln für Tom ab und entschied sich für einen Platz auf der anderen Seite bei Ronnie.

»Du kannst dich nicht ewig vor ihm verstecken, Süße«, flüsterte Ronnie ihr ins Ohr. »Den Mann hat’s schwer erwischt.«

»Nein, hat es nicht«, widersprach sie mit Nachdruck. »Ich bin für ihn bloß eine Herausforderung, mehr nicht.«

Ronnie schmunzelte. »Wunschdenken. Hast du was gegen attraktive reiche Männer?«

»Überhaupt nicht«, versicherte sie ihm.

»Warum gehst du ihm dann aus dem Weg?«, fragte er.

»Tu ich doch gar nicht«, behauptete Jeanette.

»Sein halbes Dutzend zunehmend besorgterer Anrufe bei mir zu Hause gestern lässt was anderes vermuten.«

»Er hat bei euch angerufen?«, entfuhr es ihr bestürzt. »Tut mir so leid.«

»Er war völlig durcheinander, weil er dich nicht erreichen konnte. Und dass du bei Dana Sue auch nicht rangegangen bist, war wenig hilfreich. Ich musste mich ganz schön ins Zeug legen, um die beiden davon abzuhalten, nicht zu dir zu fahren und nach dir zu sehen. Aber ich kann dir sagen, wärst du nicht gerade hier reingekommen, wäre noch vor Mittag eine Suchmannschaft losgezogen, um dich aufzuspüren.«

»Tut mir leid«, wiederholte sie. »Ich wollte nie jemanden in mein Drama hineinziehen.« Nicht dass es ein großes Drama gab. Tatsächlich versuchte sie ja mühsam, eines zu verhindern.

»Dir muss nichts leidtun«, versicherte Ronnie ihr. »Ich hab ihnen gesagt, du brauchst wahrscheinlich nur Zeit zum Verarbeiten, dass du einen so großen Schritt gewagt hast. Der erste Hauskauf kann ganz schön beängstigend sein. Ist doch dein erster, oder?«

Jeanette nickte. »Und es ist so schnell gegangen, dass ich eine Heidenangst habe, es könnte ein Fehler gewesen sein. Heute Morgen hab ich bei der Bank angerufen, um einen Termin für die Kreditbeantragung zu vereinbaren. Aber ich hab aufgelegt, noch bevor sich jemand gemeldet hat.«

»Käuferreue, kalte Füße, wie man es auch nennen mag, das ist vollkommen normal«, beteuerte Ronnie. »Darüber kommst du hinweg. Und falls du irgendwas brauchst, hast du uns alle als Unterstützung.«

»Danke.«

Er musterte sie eingehend. »Ist abgesehen von der Angst vor einer Hypothek mit dreißig Jahren Laufzeit alles in Ordnung?«

Sie schenkte ihm ihr strahlendstes Lächeln. »Alles bestens.«

»Na schön, für mich ist das gut genug.« Er grinste. »Aber sei gewarnt. Tom oder meiner Frau könnte deine Zusicherung allein nicht reichen.«

Jeanette spähte zu Tom, der ihre Unterhaltung mit Ronnie aufmerksam beobachtete. »Ja, das ist mir bewusst.«

Einen Moment später rief Tom die Sitzung zur Ordnung und ging in Rekordzeit die Tagesordnung durch. Offensichtlich wollte er die Besprechung schnellstmöglich hinter sich bringen, sehr zu Howards Verdruss.

»Wo brennt’s denn, junger Mann?«, verlangte Howard zu erfahren, als Tom seinen Bericht abkürzte und eine Vertagung beantragte. »Ich dachte, wir könnten besprechen, wo wir dieses Jahr den Weihnachtsbaum für die Stadt herbekommen.«

Tom konnte sich nur mühsam ein Seufzen verkneifen. »Wo kommt er denn normalerweise her?«

»Meistens haben wir in der Umgebung einen gefunden«, antwortete Howard. »Bis vor kurzem hatten wir in der Nähe jede Menge Waldland. Aber allmählich machen sich die vielen Bauprojekte bemerkbar.« An der Stelle warf er Ronnie einen harten Blick zu, als wäre er allein für den Bauboom verantwortlich. »Ich denke, dieses Jahr müssen wir uns was anderes überlegen. In der Nähe von Columbia gibt’s eine Farm, die Weihnachtsbäume züchtet. Ich denke, wir sollten hinfahren und uns dort mal umsehen. Wird uns wahrscheinlich ein bisschen mehr kosten, dafür dürften wir dort eine bessere Auswahl vorfinden.«

»Okay, dann teile ich Sie dafür ein«, verkündete Tom. Als er die Sitzung damit für beendet erklären wollte, ergriff Howard erneut das Wort.

»Das ist eine Entscheidung für den gesamten Ausschuss«, protestierte Howard. Begeistert fügte er hinzu: »Ich sage, wir fahren alle nächstes Wochenende hin. Liegt zwar noch keine Kälte in der Luft, aber wir hören uns im Auto Weihnachtslieder an und nehmen heiße Schokolade mit, um in die richtige Stimmung zu kommen.« Mit strahlender Miene ließ er den Blick durch die Runde wandern. »Wir machen uns einen schönen Tag daraus.«

Jeanette und Tom stöhnten fast gleichzeitig auf.

»Am Samstag kann ich nicht«, sagte sie. »Da hab ich im Spa immer am meisten zu tun.«

»Mir passt der Samstag auch nicht«, meldete sich Mary Vaughn zu Wort. »An dem Tag hab ich in der Regel offene Hauspräsentationen. Und wenn nicht, bin ich zu Einzelterminen unterwegs. Dasselbe gilt für Sonntag.«

Howard sah Ronnie mit gerunzelter Stirn an. »Wahrscheinlich kriege ich jetzt gleich zu hören, dass am Samstag auch im Baumarkt zu viel Betrieb herrscht und Sie nicht wegkönnen.«

Ronnie zuckte mit den Schultern. »Tatsächlich ja.«

Howard schüttelte den Kopf. »Okay, dann eben an einem Wochentag. Passt es allen nächsten Dienstag? Das ist morgen in einer Woche, es ist also genügend Vorlaufzeit. Jeanette, können Sie das einrichten?«

Da sie wusste, dass ein Tag so schlecht wie der andere für etwas wäre, das sie so gar nicht tun wollte, nickte sie einfach. »Ich plane meine Termine um. Am Dienstag ist normalerweise nicht allzu viel Andrang.«

»Gut«, sagte Howard zufrieden. Er wandte sich an Tom. »Und hier spielt sich an einem Dienstag auch nicht viel ab, richtig? Keine großen Sitzungen.«

»Richtig«, räumte Tom sichtlich widerwillig ein.

»Dann also Dienstag«, hielt Howard erfreut fest. »Wir fahren um sieben Uhr morgens los. Dafür können wir das reguläre Treffen am Montag ausfallen lassen. Damit sollten dann alle glücklich sein.« Er wandte sich an Tom. »Jetzt können sie die Sitzung beenden, wenn Sie wollen.«

»Danke«, sagte Tom. »Sitzung vertagt. Jeanette, könntest du noch kurz bleiben, damit wir über die Verkaufsstandbetreiber reden können?«

»Ich muss ins Corner Spa«, entgegnete sie, weil sie unter keinen Umständen mit ihm allein sein wollte.

»Nur zehn Minuten«, drängte er.

»Na schön«, gab sie sich geschlagen und folgte ihm in sein Büro.

Tom schloss die Tür hinter ihnen und verriegelte sie. Er deutete auf einen Stuhl, aber Jeanette blieb stehen. Er zuckte mit den Schultern.

»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte er sich sanft.

»Alles gut.«

»Du bist nicht aus irgendeinem Grund wütend auf mich?«

»Überhaupt nicht.«

Verwundert sah er sie an. »Könntest du mir dann vielleicht erklären, was am Samstagabend passiert ist? Und warum du gestern nicht auf meine Anrufe reagiert hast?«

Sofort ging Jeanette in die Defensive. »Ich bin am Samstagabend aufgebrochen, weil ich müde war. Und ans Telefon bin ich gestern nicht gegangen, weil ich mit niemandem reden wollte. Ich hatte eine Menge im Kopf.«

»Den Hauskauf?«

»Größtenteils.«

»Und der Rest? Hatte der etwas mit mir zu tun?«

»Warum gehst du automatisch davon aus, dass ich überhaupt an dich denke?«

Er zog eine Augenbraue hoch.

»Na gut, ja«, gab sie widerwillig zu. »Du warst ein Teil davon.« Sie begegnete seinem Blick. »Tom, du scheinst viel mehr zu wollen, als ich geben kann. Wir kennen uns kaum, und du willst dir ein Haus mit mir teilen. Vielleicht scherzt du nur …«

»Tu ich nicht«, fiel er ihr ruhig ins Wort.

Jeanette schauderte leicht. Wenn er solche Dinge von sich gab, verlor sie beinah den letzten Rest ihrer Entschlossenheit, auf Abstand zu bleiben. Sie hob die Hand, als wollte sie ihn zurückhalten. »Genau das meine ich. Es ist zu viel und zu früh.«

Darüber runzelte er die Stirn. »Würdest du dich wohl setzen, damit wir eine richtige Unterhaltung führen können? Ich hab das Gefühl, du bist schon mit einem Fuß zur Tür hinaus.«

»Ich hab dir doch gesagt, dass ich zur Arbeit muss.«

Er seufzte frustriert. »Dann geh mit mir essen. Reden wir in Ruhe darüber. Ich will nicht, dass du dich unwohl fühlst. Ist nur so, dass ich halt ein sehr entschlossener Mensch bin. Ich sehe keinen Sinn darin, Zeit zu verschwenden, wenn ich weiß, was ich will.«

»Und du willst mich?«, fragte sie ungläubig. »Komm schon. Das ist verrückt.«

Tom nickte. »Ich bin selbst ein wenig überrumpelt davon.«

»Was dich aber nicht bremst.«

Er zuckte mit den Schultern. »Dazu sehe ich keinen Grund. Ich habe mir immer Ziele gesetzt und mich dann ins Zeug gelegt, um sie zu verwirklichen. Von Hindernissen lasse ich mich dabei nicht aufhalten.«

»Also sind meine Gefühle für dich bloß ein Hindernis, das du überwinden musst?«

Er zuckte zusammen. »In gewisser Weise.«

»Tja, sag Bescheid, wenn du anerkennst, dass meine Gefühle ihre Berechtigung haben könnten, und du verstehst, dass ich’s ernst meine, wenn ich dir sage, dass ich Zeit brauche. Dann haben wir vielleicht etwas, worüber wir reden können.«

Damit ging sie zur unverschlossenen Tür zwischen seinem Büro und dem von Teresa und riss sie auf. Sie hatte es fast nach draußen geschafft, als Tom sie herumwirbelte und küsste – so heiß und leidenschaftlich, dass er ihr damit wacklige Knie bescheren und den Atem verschlagen wollte. Und das tat er auch.

»Ich hole dich zu Mittag im Corner Spa ab«, sagte er leise und ignorierte Teresa, die mit offenem Mund herüberstarrte. »Wir reden beim Mittagessen weiter.«

Jeanette sah ihn voll schierer Verzweiflung an. »Hast du auch nur ein Wort davon gehört, was ich gesagt habe?«

»Jedes einzelne«, versicherte er ihr. »Und der Kuss hat gerade dem meisten davon widersprochen. Den Rest klären wir, wenn wir uns später sehen. Und denk nicht mal dran, mich zu versetzen, denn ich finde dich auf jeden Fall, und wir werden dieses Gespräch führen.«

Bevor Jeanette die Fassung zurückerlangen konnte, kehrte er in sein Büro zurück und schloss die Tür.

»Puh!«, murmelte Teresa und fächelte sich mit dem Protokoll der letzten Ratssitzung Luft zu. »Ich hatte ja von dem Feuerwerk zwischen euch beiden beim Spiel am Freitagabend gehört – das hat schon am Samstagmorgen in der Stadt die Runde gemacht. Aber ich hatte ja keine Ahnung …« Sie schüttelte den Kopf.

»Teresa, ich flehe Sie an, erzählen Sie Grace Wharton nichts davon«, sagte Jeanette, weil sie genau wusste, dass Teresa in wenigen Stunden dort sein würde. Früher, wenn sie eine Kaffeepause einlegte. »Das würde nur Öl ins Feuer gießen. Mir ist klar, dass ich es angezettelt habe, indem ich ihn am Freitagabend beim Spiel geküsst habe. Aber das … na ja, das war impulsiv. Normalerweise mache ich so was nicht.«

»Schätzchen, niemand macht dir irgendwelche Vorwürfe«, beschwichtigte Teresa.

Jeanette schaute finster drein. »Das meine ich damit nicht. Ich hatte meine Gründe für den Kuss, aber er war ein Fehler. Ein gewaltiger Fehler! Mittlerweile ist mir klar, dass ich nicht Gegenstand der Gerüchteküche in der Stadt sein will. Und Tom scheint es zwar nicht zu scheren, trotzdem ist es auch für ihn nicht gut.«

Teresa bedachte sie mit einem enttäuschten Blick. »Du willst also, dass ich den Kuss, den ich gerade gesehen habe, für mich behalte?«

Jeanette nickte. »Bitte. Dafür kriegen Sie auch eine kostenlose Gesichtsbehandlung«, bot sie an.

»Du musst mein Schweigen ja echt sehr dringend wollen«, meinte Teresa mit wachsender Belustigung.

»Ich packe noch eine Massage drauf«, fügte Jeanette hinzu, der es nicht gelang, einen Hauch von Verzweiflung aus der Stimme herauszuhalten.

Teresa konnte nicht aufhören zu grinsen. Daraus folgerte Jeanette, dass sie ihren ursprünglichen Fehler nur noch verschlimmerte, indem sie diesen neuesten Kuss so groß aufbauschte.

»Also, Tom würde mir wohl das Fell über die Ohren ziehen, wenn ich eine so großzügige Bestechung von dir annehme. Also lehne ich die Gesichtsbehandlung und die Massage ab. Aber dass du es überhaupt angeboten hast …« Ihr Grinsen wurde breiter. »Das beweist mir, dass die Beziehung zwischen euch beiden allmählich richtig interessant wird. Ich behalte vorerst für mich, was ich gerade gesehen habe. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es sowieso nicht lange dauern wird, bis die ganze Stadt mitbekommt, was zwischen euch läuft. Solche Leidenschaft ist schwer zu verbergen.«

Genau davor fürchtete sich Jeanette. Es fiel ihr selbst zunehmend schwerer, sie zu leugnen.

* * *

Tom war recht zufrieden mit sich, als es an der Tür zum Besprechungsraum klopfte. Er öffnete sie und sah sich Ronnie gegenüber.

»Haben du und Jeanette euer Gespräch beendet?«, fragte er.

Tom nickte.

»Dann hast du ja vielleicht Zeit, dir einen Rat von jemandem anzuhören, der in Hinblick auf Frauen mehr als nur einen Fehler begangen hat.«

Da sein aktueller Plan bisher weniger Erfolg als erwartet erzielte, bedeutete er Ronnie, sich zu setzen. »Ich höre mir gern eine zweite Meinung an.«

»Nimm dich zurück«, sagte Ronnie kurz und bündig. »Ich hab vor der Sitzung mit Jeanette geredet. Sie hat zwar nicht viel darüber ausgepackt, was zwischen euch beiden läuft, aber etwas ist mir aufgefallen.«

»Ach ja?«

»Sie hat eine Heidenangst davor, was sie für dich empfindet.«

»Wenn ich ihr Freiraum lasse, zerdenkt sie alles nur hoffnungslos«, argumentierte Tom.

»Wenn du’s nicht tust, verlierst du sie«, konterte Ronnie. »Sie fühlt sich unter Druck gesetzt. Als ich Dana Sue zurückerobern wollte, hab ich sie auch heftig bedrängt. Damit hab ich nur erreicht, dass sie sich umso heftiger dagegen gewehrt hat. Sobald ich mit der Eröffnung meines Betriebs eingespannt war, hatte sie plötzlich Zeit. Da hat sie angefangen, mich zu vermissen. Sie hat die Füße zurück auf den Boden bekommen, hatte das Gefühl, wieder die Kontrolle zu haben. Manche Frauen brauchen das. Es macht ihnen Angst, wenn sie denken, sie hätten sie nicht. Vor allem, wenn sie in der Vergangenheit verletzt worden sind.«

Darin konnte Tom durchaus Weisheit erkennen. Natürlich kam ein Rückzug auch einem Zeitverlust gleich, und er hatte nicht ewig, um Jeanette davon zu überzeugen, dass zwischen ihnen etwas Besonderes entstand. Ein Teil von ihm wollte keine einzige Minute vergeuden.

»Wie lange?«, fragte er Ronnie.

Sein Freund schmunzelte über seine offensichtliche Ungeduld. »So lange es eben dauert.«

»Muss ich damit sofort anfangen? Ich soll sie in ein paar Stunden zum Mittagessen abholen.«

»Liegt ganz bei dir«, erwiderte Ronnie. »Aber es könnte gut sein abzusagen.«

Tom schüttelte den Kopf. »Und du hattest es bei Dana Sue auch so schwer?«

»Schwerer«, sagte Ronnie. »Ich hatte eine ganze Menge wiedergutzumachen. Und glaub mir, leicht hat sie es mir nicht gemacht. Ich kann dir versichern, dass ich persönlich erlebt habe, wie wertvoll Geduld und Beharrlichkeit sind.«

»Geduld und Beharrlichkeit?«, echote Tom nachdenklich. Mit Beharrlichkeit konnte er etwas anfangen. Geduld? Eher nicht seine Stärke. »Ich denke darüber nach.«

»Hoffentlich nimmst du’s mir nicht übel, dass ich mich eingemischt habe«, sagte Ronnie. »Und wenn dir die Decke auf den Kopf fällt, kannst du jederzeit Erik, Cal oder mich anrufen. Dann treffen wir uns zum Footballspielen, und du kannst Dampf ablassen. Dafür gibt’s nichts Besseres, als erst ordentlich zu schwitzen und danach ein paar Bier zu kippen.«

»Stimmt«, pflichtete Tom ihm bei. Außer vielleicht einen leidenschaftlichen Akt der Liebe mit der Frau, die ihm so unter die Haut gegangen war.

* * *

Mary Vaughn war überraschend nervös wegen des bevorstehenden Essens mit Sonny. Es hing viel davon ab, wie dieser Abend verlaufen würde. Wenn ihnen kein richtig guter Plan einfiele, würde es schwer werden, Rory Sue weiterhin die Bitte abzuschlagen, die Feiertage in Aspen verbringen zu dürfen. Noch schlimmer, als ihre Tochter nicht zu Hause zu haben, wäre es, wenn sie die ganze Zeit nur Trübsal bliese, als hätte ihre Mutter ihr Leben ruiniert.

Sonnys Spitze darüber, dass sie bei der Arbeit oft die Zeit übersah und sich verspätete, hatte sie sich zu Herzen genommen. Da sie ihm unbedingt beweisen wollte, dass sie auch pünktlich sein konnte, hatte sie ihren Termin abgesagt und traf bereits fünfzehn Minuten früher im Sullivan’s ein. Seine Verblüffung, als er hereinkam und sie bereits am Tisch sitzen sah, erfüllte sie mit großer Befriedigung.

Dann bückte er sich und drückte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Nun, wenn das mal nicht eine erfreuliche Überraschung ist«, kommentierte er. »Hat dein Termin abgesagt?«

Kurz ärgerte sie die Andeutung, dass sie sonst nicht pünktlich gewesen wäre, dann jedoch zuckte sie reumütig mit den Schultern. »Ich habe selbst abgesagt. Weil ich dir was beweisen wollte.«

»Schatz, du musst mir nichts beweisen. Du bist, wie du bist. Das habe ich schon vor langer Zeit akzeptiert.«

Sie lauschte aufmerksam, ob in seinem Tonfall ein Hauch von Gehässigkeit mitschwang, aber er klang eher amüsiert oder resigniert als sonst etwas.

»Tja, ich bin dabei, ein neues Kapitel aufzuschlagen«, ließ sie ihn wissen. »Ich habe vor, künftig mehr Rücksicht auf die Zeit anderer zu nehmen.«

Davon wirkte Sonny nicht restlos überzeugt. Er sah sich nach einer Kellnerin um. »Willst du einen Drink, Mary Vaughn? Vielleicht Wein?«

»Nur ein Glas«, sagte sie. »Hier haben sie einen feinen roten Zinfandel.«

Als die Kellnerin kam, bestellte er den Wein für sie und ein Bier für sich selbst. Mary Vaughn schüttelte den Kopf. So sehr sie sich bemüht hatte, ihn auf den Geschmack von Wein zu bringen, Sonny hatte immer Bier bevorzugt. In gewisser Weise fand sie bewundernswert, dass er daran festhielt, was er wirklich mochte – statt wie sie Eindruck zu schinden versuchte, indem er sich edlen Wein bestellte. Wie alle Jugendlichen hatte früher auch sie Bier probiert, doch sie hatte seit Jahren keines mehr getrunken. Ihre Abneigung dagegen rührte von ihrem Vater her, der entschieden zu viel davon in sich hineingeschüttet hatte.

Sie musterte Sonny aufmerksam, als er sich mit der Kellnerin unterhielt, der Tochter eines seiner Verkäufer. Er war braungebrannt. Um die Winkel seiner dunkelblauen Augen breiteten sich strahlenkranzförmig feine Linien aus. Im hellbraunen Haar prangten mehr silbrige Strähnen als bei ihrer letzten Begegnung. Er trug eine marineblaue Hose, ein hellblaues Seidenhemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine gelockerte Designerkrawatte. Die Krawatte kannte sie, weil sie Rory Sue letztes Jahr zu Weihnachten geholfen hatte, sie auszusuchen. Mary Vaughn fragte sich, ob Sonny sie deshalb an diesem Tag trug, oder ob er sich überhaupt daran erinnerte, woher er sie hatte. Wie dem auch sein mochte, insgesamt sah er gut aus. Besser als im letzten Jahr ihrer Ehe. Da hatte er durch die ständige Anspannung die meiste Zeit gehetzt und unglücklich gewirkt. Was Mary Vaughn damals viel zu spät erkannt hatte.

»Gib uns noch ein paar Minuten«, sagte er zur Kellnerin. »Wir müssen erst in die Speisekarte schauen.« Er wandte sich an Mary Vaughn. »Oder hast du’s eilig?«

»Nein, gar nicht«, erwiderte sie und entspannte sich letztlich. Halb hatte sie nämlich befürchtet, er würde darauf drängen, zur Sache zu kommen, damit er so schnell wie möglich zurück zum Autohaus könnte. Sie lächelte ihn an. »Du siehst gut aus, Sonny. Ausgeruht. Spielst du viel Golf?«

»Ein paar Mal die Woche«, erwiderte er. Dann musterte er sie. »Was ist mit dir? Arbeitest du immer noch zu viel?«

»Meistens schon. Vor allem, da Rory Sue ja weg ist.«

»Gibt’s einen neuen Mann in deinem Leben?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich dachte, zwischen dir und dem neuen Gemeindedirektor könnte sich was anbahnen«, sagte er. »Zumindest war das vor kurzem ein heißes Gerücht bei Wharton’s

»Falsch informiert«, erwiderte sie knapp. »Was ist mit dir? Gehst du mit jemandem aus?«

Er schmunzelte. »Sieh uns nur an. Stellen uns gegenseitig zivilisierte Fragen über das Liebesleben des anderen. Wer hätte gedacht, dass wir je an dem Punkt landen würden?«

Sie begegnete seinem Blick. »Bevor wir irgendetwas anderes geworden sind, waren wir Freunde«, erinnerte sie ihn. Dann fügte sie wehmütig hinzu: »Manchmal fehlt mir das mehr als alles andere – wie wir stundenlang über alles Mögliche in unserem Leben geredet haben.«

Überrascht sah er sie an. »Wirklich?«

Sie nickte. »Verrückt, oder?«

Er legte die Hand auf ihre. »Gar nicht. Mir fehlt das auch, Mary Vaughn. Das Problem ist nur, dass damit eine Menge Gepäck einhergeht. Meist ist es schwer, daran vorbeizusehen, wie es geendet hat.«

»Ich weiß«, gestand sie. Weil es nichts brachte, in der Vergangenheit zu schwelgen, fragte sie: »Was machen wir jetzt mit Weihnachten?«

»Feiern?«, gab er mit einem verwirrten Blick zurück.

Leicht genervt schüttelte sie den Kopf. »Wieso dachte ich nur, du könntest dabei eine Hilfe sein?«

»Komm schon, Mary Vaughn. In so was bin ich nicht gut. Die Feiertage hast immer du gestaltet. Ich war nur mit an Bord. Was wäre deiner Meinung nach nötig, um Rory Sue glücklich zu machen? Ich könnte ihr endlich das neue Cabrio schenken, das sie sich schon lange wünscht.«

»Auf keinen Fall«, entgegnete Mary Vaughn sofort. »Hier geht’s nicht darum, sie zu bestechen. Wir haben vereinbart, dass sie das Cabrio bekommt, wenn sie das College abschließt. Bis dahin reicht das Auto, das sie hat.«

Er zuckte mit den Schultern, widersprach jedoch nicht. »Dann bin ich ratlos.«

»Ich weiß, was sie sich mehr als alles andere wünscht«, überwand sich Mary Vaughn zu sagen. »Sie will, dass wir alle so zusammen sind wie früher.«

Sonny runzelte die Stirn. »Was um alles in der Welt willst du damit andeuten, Mary Vaughn? Dass wir wieder heiraten sollen, nur um unsere Tochter glücklich zu machen, obwohl wir uns dabei elend fühlen würden?«

Seine spontane und beleidigende Reaktion brachte sie zum Erröten. »Nein, natürlich nicht«, erwiderte sie abwehrend. »Ich will damit nur sagen, wir könnten vielleicht unsere Differenzen beiseiteschieben und über die Feiertage etwas gemeinsam unternehmen.«

Sein Gesichtsausdruck entspannte sich. »Was zum Beispiel?«

Ihr kam der Plan des Ausschusses in den Sinn, einen Weihnachtsbaum für die Stadt zu besorgen. »Wir könnten zusammen losziehen und einen Weihnachtsbaum fällen«, schlug sie vor. »Weißt du noch, wie sehr Rory Sue das immer geliebt hat? Für sie war es das Schönste an Weihnachten.«

»Schon möglich«, meinte er zweifelnd. »Meinst du, das reicht?«

»Nein, natürlich nicht«, sagte sie ungeduldig. »Aber es wäre ein Anfang. An einem Tag könnten wir zum Shoppen nach Charleston fahren. Die Geschäfte werden alle festlich geschmückt sein.«

»Und überfüllt«, prophezeite Sonny düster.

»Ach, jetzt sei nicht so ein Miesepeter. Das gehört mit dazu. Auf dem Heimweg könnten wir für heiße Schokolade und Kekse bei Lydias Bäckerei anhalten. Wie früher, als Rory Sue noch klein war.« Sie bedachte ihn mit einem wehmütigen Blick. »Wünschst du dir nicht auch, sie wäre noch jung genug, um an den Weihnachtsmann zu glauben? Manchmal hole ich all die Fotos von ihr von damals heraus. Sie war das hübscheste kleine Mädchen auf der Welt, oder?«

»Das war sie«, pflichtete Sonny ihr bei. »Ist sie übrigens immer noch.«

Da er allmählich nostalgischer und zugänglicher klang, lächelte sie ihn an. »Wenn du mit zum Shoppen kommst, kannst du die Tüten tragen, und ich bezahle. Klingt das fair?«

Er schüttelte den Kopf. »Du hast eine seltsame Vorstellung davon, was fair ist. Das weißt du schon, oder?«, meinte er mit nachgiebiger Belustigung in den Augen. »Sonst noch große Ideen?«

Sie dachte an vergangene Weihnachtsfeiertage und daran zurück, was sie zu etwas Besonderem gemacht hatte. »Wir sollten wie früher an Heiligabend zusammen die Kirche besuchen, bei mir zu Hause ein großes Essen veranstalten und dann drüben im Pflegeheim Weihnachtslieder singen. Lässt sich das mit deinen Plänen vereinbaren?«

»Ja«, räumte er ein, klang jedoch nicht begeistert von dem Plan. »Ist mein Vater dabei auch vorgesehen?«

»Natürlich. Rory Sue würde ihn unbedingt dabeihaben wollen. Da deine Mutter nicht mehr lebt und deine Brüder übers Land verstreut sind, würde es ihm auch guttun, mal wieder ein richtiges Familienweihnachten zu erleben. Findest du nicht?«

»Denke schon«, sagte Sonny. Er bedachte sie mit einem skeptischen Blick. »Und du glaubst wirklich, es wird Rory Sue glücklich machen, wenn wir ein paar Tage vortäuschen, dass wir miteinander auskommen?«

»Wir müssen nichts vortäuschen«, gab sie zurück. »Wir hatten früher immer viel Spaß zusammen, Sonny. Ich kann mich gut daran erinnern, dass wir ständig gelacht haben. Das kriegen wir doch sicher noch mal für ein paar Tage zusammen hin.«

»Ich weiß nicht recht, Mary Vaughn.« Seine Miene wirkte besorgt. »Was, wenn Rory Sue dadurch einen falschen Eindruck bekommt? Du weißt ja, wie sie ist. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, fragt sie mich, wann ich dir noch eine Chance gebe. Was, wenn sie das glaubt und sich Hoffnungen macht?«

»Ich erkläre ihr, dass wir es tun, um ihr ein schönes Weihnachtsfest zu ermöglichen«, versprach Mary Vaughn. »Vielleicht sollten wir auch einen Tag der offenen Tür einplanen. Das war eine unserer Traditionen.« Plötzlich verfiel sie in Nostalgie. »Das habe ich geliebt. Das Haus hat dabei immer nach Tannengrün und Keksen geduftet, die Lichter haben drinnen wie draußen gefunkelt, und alle unsere Bekannten haben vorbeigeschaut. Das fehlt mir.«

Überrascht sah er sie an. »Warum hast du damit aufgehört?«

»Ohne dich wäre es nicht dasselbe gewesen«, gab sie zu. Außerdem hatte sie eine Heidenangst gehabt, es würde niemand kommen, weil sich die meisten Leute nach der Scheidung auf Sonnys Seite gestellt hätten. Viele hatten gedacht, sie hätte die Ehe beendet, und Sonny hatte sie in dem Glauben gelassen. Vermutlich wollte er sie so galant das Gesicht wahren lassen. Nur hatte es ironischerweise viele Leute, die zu Sonny hielten, gegen sie aufgebracht. Mary Vaughn fragte sich, ob es anders gewesen wäre, wenn sie die Wahrheit gekannt hätten – dass er sie verlassen hatte.

Als sie aufschaute, stellte sie fest, dass Sonny sie mit skeptischer Miene musterte.

»Mary Vaughn, du bist glücklich, oder?«

»Natürlich bin ich das«, log sie wie gedruckt. Weil sie nicht auf die deprimierende Einsamkeit ihres Lebens eingehen wollte, strahlte sie ihn an. »Nur bin ich am Verhungern. Lass uns bestellen. Ich denke, ich nehme die Schweinekoteletts. Was ist mit dir?«

»Schweinekoteletts klingen gut«, sagte er, hörte sich dabei jedoch seltsam zerstreut an. »Ich winke Becky wieder her.« Er gab der Kellnerin ein Zeichen und bestellte dann bei ihr. »Außerdem nehme ich noch ein Bier.« Er warf einen Blick auf Mary Vaughns halbvolles Weinglas. »Willst du noch eins?«

Sie schüttelte den Kopf und beschloss, ausnahmsweise auf jeglichen Schein zu verzichten. »Weißt du was? Bring mir auch ein Bier.«

Sonny starrte sie an, als Becky davonging. »Du willst ein Bier?«

Sie nickte, dann beugte sie sich vor. »Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«

»Sicher.« Er wirkte neugierig.

»Ich hab Wein nie wirklich gemocht.«

Verdattert sah er sie an. »Wieso in Herrgottsnamen hast du dann immer demonstrativ Wein getrunken?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Weil ich dachte, ich sollte es«, gestand sie. »Ich dachte, ich wirke dadurch kultivierter, weltgewandter.«

Sonny schüttelte den Kopf. »Schatz, für mich bist du immer die kultivierteste Frau gewesen, die ich kenne. Dafür hat es keinen Wein gebraucht.« Sein Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. »Es hat an deinem Vater gelegen, nicht wahr? Er hat Bier getrunken, und du wolltest nie irgendwas tun, das den Eindruck erweckt hätte, ihr könntet euch ähnlich sein.«

Bei seiner Erkenntnis wurden ihre Augen feucht. »Verdammt, Sonny Lewis«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Du hast mich schon immer besser gekannt als irgendjemand sonst.«

Abrupt stand sie auf und eilte zur Damentoilette, bevor jemand mitbekommen konnte, wie sie sich die Augen aus dem Kopf heulte.

Sie brauchte zehn Minuten, um die Fassung zurückzuerlangen und den von ihren Tränen angerichteten Schaden zu beheben.

Als sie die Toiletten verließ, stand Sonny wartend davor.

»Noch eine Minute, dann wäre ich zu dir reingekommen«, sagte er. »Geht’s dir gut? Ich wollte dich nicht so aufregen.«

»Es hat nicht daran gelegen, was du gesagt hast«, erwiderte sie offenherzig. »Sondern daran, dass du gewusst hast, was in mir vorgeht.« Sie begegnete seinem Blick. »Das fehlt mir, Sonny. Ich schwöre bei Gott.«

Einen Augenblick schien er zu erstarren. Dann warnte er sie: »Du solltest echt aufhören, so was zu sagen, Süße. Sonst verdrehst du mir noch den Kopf.«

»Und wäre das so schrecklich?«, fragte sie, bevor sie sich bremsen konnte.

Er ergriff ihre Hand und drückte sie. »Die Antwort kennst du«, erwiderte er. Als sie ihm in die Augen sah, erkannte sie darin Bedauern.

Der Anblick erfüllte sie mit Gram darüber, dass sie einst so sorglos mit dem Herzen dieses Mannes umgegangen war. Und er ließ sie den Entschluss fassen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um Wiedergutmachung zu leisten. Für ihre Ehe mochte es zu spät sein, aber vielleicht könnten sie noch irgendwie die Freundschaft retten, die einst zwischen ihnen bestanden hatte.