KAPITEL 18

Tom war krank vor Sorge um Jeanette. Jedes Mal, wenn er mit ihr sprach, kam sie ihm erschöpfter vor. Zu seiner Erleichterung würde sie an diesem Tag endlich nach Hause zurückkehren, diesmal dauerhaft. Zu Thanksgiving hatte sie ein paar Stunden in Serenity verbracht. Danach war sie prompt wieder nach Charleston aufgebrochen, um die Reha ihres Vaters zu überwachen, bis er sich sowohl körperlich als auch seelisch zu ihrer Zufriedenheit erholt hätte.

An diesem Morgen war Maddie losgefahren, um sie abzuholen, weil er nicht wegkonnte. Howard wollte den gesamten Ausschuss auf dem Hauptplatz haben, während die Weihnachtsdekoration angebracht wurde, obwohl die eigentliche Arbeit von Stadtbediensteten unter Ronnies Aufsicht durchgeführt wurde.

»Ich hab noch nie im Leben einen Baum geschmückt«, hatte Tom vergeblich versucht, sich davor zu drücken. »Und erst recht hab ich noch nie beleuchtete Schneeflocken auf Laternenmasten angebracht.«

Seine Worte fielen auf taube Ohren.

»Sie haben in einem Haus gewohnt, das jedes Jahr ein Bestandteil der Weihnachtstour in Charleston war«, hatte Howard ihm vor Augen gehalten. »Ich hab Fotos davon in der Zeitung gesehen. Irgendwas von der Erfahrung muss doch hängen geblieben sein.«

»Nein«, hatte Tom widersprochen.

»Was, wenn irgendein Problem auftritt? Als Gemeindedirektor ist es Ihre Pflicht, morgen dabei zu sein und sich darum zu kümmern, also basta«, hatte Howard entschieden. »Der Baum wird gleich morgen früh geliefert. Ich will Sie auf dem Hauptplatz haben, wenn er abgeladen wird.«

Und so stand Tom pünktlich um 7:00 Uhr draußen. Es war ein ungewöhnlich kalter Morgen, der eher an New York als an South Carolina erinnerte. Er konnte Atemwölkchen in der Luft sehen, und nicht mal sein dickster Pullover und schwerster Mantel konnten die Kälte von seinen Knochen fernhalten. Zum Glück hatte Ronnie eine riesige Thermoskanne mit Kaffee vom Sullivan’s mitgebracht. Der half ein wenig. Erik war extra früher ins Restaurant gefahren, um ihn für sie zu brauen.

»Siehst du so elend aus, weil du nicht hier sein willst, weil dir kalt ist oder weil du Jeanette vermisst?«, fragte Ronnie, als der Baum vom Lastwagen gehievt und in der Mitte des Platzes aufgestellt wurde. Als das Netz weggeschnitten wurde, entfalteten sich die Äste in voller üppiger Pracht. Ein beeindruckender Anblick, keine Frage. Zwar nicht wie der Baum vor dem Rockefeller Center oder im Weißen Haus, aber er würde in kein Gebäude der Stadt passen, so viel stand fest.

»Alles davon«, antwortete Tom. »Eigentlich hätte ich Jeanette heute Morgen abholen sollen.«

»Maddie ist durchaus in der Lage, sie wohlbehalten nach Hause zu bringen.«

»Darum geht’s doch nicht«, brummelte Tom.

Ronnie grinste. »Hast du gehofft, weitere Pluspunkte einzuheimsen? Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass dein Kontostand eh schon recht gut aussieht.«

Tom runzelte die Stirn. »Auch darum geht’s nicht.«

»Wie lang genau ist es her, dass du sie zuletzt gesehen hast?«

»Vier Tage«, erwiderte Tom. »Nach Thanksgiving bin ich an ein paar Tagen zur Reha-Klinik gefahren, aber seither hält mich Howard an der kurzen Leine. Man könnte meinen, Weihnachten in Serenity hängt davon ab, dass ich persönlich jede Kleinigkeit beaufsichtige. Eigentlich sollte ihm mehr daran liegen, dass die Schlaglöcher aufgefüllt werden und die Brücke nicht einstürzt.«

»Du bist der Gemeindedirektor«, erinnerte Ronnie ihn mit belustigter Miene. »Er hat dich, damit du dich um all das kümmerst … und um das hier.«

Tom ignorierte die Bemerkung und konzentrierte sich auf den riesigen Baum, der bedenklich schwankte. »Wie um alles in der Welt soll das Ding sicher fixiert werden? Ich seh schon vor mir, wie unsere Haftpflichtprämie in die Höhe schießt, wenn der Baum umkippt und auf einen Haufen Kinder kracht.«

»Was für ein erbaulicher Gedanke«, merkte Ronnie sarkastisch an. »Du bist genau, was man für Weihnachtsfeierlichkeiten braucht – ein waschechter Grinch.«

»Glaub mir, das wiegen du, Howard und Mary Vaughn mehr als auf. Irgendjemand muss ja auch praktisch denken.«

Ronnie gab sich keine Mühe, seine Belustigung zu verbergen. »Und das von dem Mann, der aus eigener Tasche einen Weihnachtsbaum gekauft hat, weil sich Jeanette so darin verliebt hatte.«

Tom runzelte die Stirn. »Woher weißt du das?«

»Teresa hat mir erzählt, dass du dem Baumzüchter einen persönlichen Scheck ausgestellt hast, als die Rechnung eingetrudelt ist.«

»Die Frau hat ein entschieden zu loses Mundwerk. Ich sollte sie feuern.«

»Wirst du aber nicht«, prophezeite Ronnie. »Dafür erledigt sie ihren Job zu gut.«

»Stimmt«, räumte Tom ein, als sein Handy klingelte. Ein Blick auf die Anruferkennung offenbarte Jeanettes Nummer. Tom spürte, wie sich seine Schultern zum ersten Mal an diesem Morgen lockerten. »Hi«, meldete er sich leise. »Bist du schon unterwegs nach Hause?«

»Maddie holt mich in ein paar Minuten ab. Ich sollte in ungefähr einer Stunde da sein.«

»Essen wir zu Mittag zusammen?«

»Ich sollte wohl lieber direkt zur Arbeit.«

»Nicht, bevor du gegessen hast«, widersprach Tom. »Ich weiß, dass du dich lausig ernährst, seit du im Krankenhaus gewesen bist, und daran dürfte sich wohl kaum was geändert haben, seit dein Vater in der Reha ist.«

»Ich hab alles gegessen, was du mir gebracht hast«, rechtfertigte sie sich.

»Eine Mahlzeit alle paar Tage macht nicht viel her. Wir gehen ins Sullivan’s und lassen dich von Dana Sue aufpäppeln.«

»Bist du nicht dafür eingeteilt, die Installation der Weihnachtsdekoration zu beaufsichtigen?«

»Sogar Sträflingen steht eine Mittagspause zu«, erwiderte Tom. »Aber komm auf den Hauptplatz, sobald du hier bist. Dann kannst du mir sagen, was du von allem hier hältst. Eine Meinung mehr schadet nicht.«

»Ist der Baum da?«

»Er schwankt in diesem Augenblick vor sich hin«, bestätigte Tom.

»Ist er schön?«, fragte sie mit einer plötzlich sanften, wehmütigen Note in der Stimme.

»Der perfekte Baum«, sagte Tom. »Du musst ihn mit eigenen Augen sehen.«

»Ich bin bald da.«

Nach dem Ende des Telefonats steckte Tom das Handy weg und bemerkte den selbstgefälligen Ausdruck in Ronnies Gesicht. »Was?«, fragte er.

»Du bist hoffnungslos verloren«, sagte Ronnie. »Seit du hier bist, meckerst du ununterbrochen rum. Aber keine zwei Minuten am Telefon mit Jeanette, und schon wirst du weich.«

»Ich bin überhaupt nicht weich geworden«, protestierte Tom.

»Butterweich«, betonte Ronnie grinsend. »Ist schön zu sehen. Du bist jetzt offiziell Mitglied im Club.«

»Club?«

»Der Männer, die süße Magnolien lieben«, erklärte Ronnie. »Ein ziemlich exklusiver Haufen. Und lauter Glückspilze.«

Tom dachte darüber nach, welche Empfindungen Jeanette in ihm auslöste. Vielleicht war er ja doch ein wenig weich geworden. Um wenn er vollkommen ehrlich sein wollte, fühlte es sich zu seinem Erstaunen gar nicht mal so schlecht an.

* * *

Dana Sue umsorgte Jeanette, als wäre sie ein Jahr weg gewesen statt knapp drei Wochen. Jeanette hatte zwar nur einen Salat bestellt, doch Dana Sue hatte zusätzlich Hackbraten und Kartoffelpüree gebracht und darauf bestanden, dass sie jeden Bissen davon aß.

»Du hast Gewicht verloren, das zu verlieren du dir gar nicht leisten konntest«, argumentierte Dana Sue. »Schon klar, seit Annies Magersucht achte ich zwanghaft auf die Essgewohnheiten der Leute. Aber ohne ein bisschen mehr Fleisch auf den Knochen weht dich noch eine steife Brise davon.«

Jeanette drückte mitfühlend ihre Hand. Alle wussten, was sie mit ihrer Tochter durchgemacht hatte. Zum Glück studierte Annie mittlerweile und hatte ihre Essstörung im Griff. Das stand mit Sicherheit fest, weil die Betreuer im Wohnheim die Anweisung hatten, mit Argusaugen darauf zu achten, und Dana Sue fragte regelmäßig bei ihnen nach. Annie wusste, dass sie beobachtet wurde. Und obwohl sie gelegentlich über den Eingriff in ihre Privatsphäre grummelte, verstand sie zugleich, warum er nötig war – sowohl für ihre Gesundheit als auch für den Seelenfrieden ihrer Eltern.

»Dana Sue, hör auf, dir Sorgen zu machen. Ich hab nur ein paar Mahlzeiten verpasst«, beruhigte Jeanette sie. »Jetzt kehre ich ja zu meiner Routine zurück und werd in Nullkommanichts wieder zunehmen.«

»Wofür ich sorgen werde«, fügte Tom hinzu.

Dana Sue strahlte ihn an. »Gut. Ich sehe mal nach, ob Erik den Apfelkuchen schon aus dem Ofen geholt hat. Falls er fertig ist, bringe ich dir ein Stück mit Eiscreme obendrauf.«

»Dana Sue, ich bekomme keinen Bissen mehr runter«, protestierte Jeanette.

»Tom hilft dir. Oder?«, wandte sich Dana Sue an ihn.

»Auf jeden Fall.«

Jeanette drehte sich Tom zu, als die Restaurantbesitzerin in Richtung der Küche verschwand. »Wieso hast du zugesagt? Ich glaub, ich kann wirklich nicht mehr.«

»Willst du, dass sie sich Sorgen um dich macht?«

»Nein.«

»Na siehst du. Und ich kann’s auch nicht brauchen, mich um dich sorgen zu müssen. Immerhin habe ich eine Kleinstadt zu schmücken. Dabei kann ich mir keine Ablenkung durch die Angst leisten, der Wind könnte dich in den nächsten Bezirk verwehen.«

»So viel hab ich wohl kaum abgenommen«, gab Jeanette irritiert zurück.

Er berührte ihre Wange. »Nicht ganz, aber fast«, beharrte er mit ernster Miene. »Du hast mir gefehlt. Ich bin froh, dass du zurück bist.«

Sein eindringlicher, leidenschaftlicher Blick brachte sie schwer zum Schlucken. »Ich bin auch froh, zurück zu sein.«

»Läuft’s mit deinem Vater in der Reha gut?«

»Zumindest ist er heute Vormittag nicht gleich abgehauen, aber mehr kann ich vorläufig nicht sagen. Er ist immer noch unglücklich darüber, dort zu sein.«

»Wie steht’s zwischen euch beiden? Und zwischen dir und deiner Mutter?«

»Besser«, antwortete sie. »Der Arzt konnte meinen Vater tatsächlich davon überzeugen, es mit einem Antidepressivum zu versuchen. Man hätte meinen können, dass er gezwungen wird, Gift zu schlucken. Trotzdem hat er’s getan. Ist noch zu früh, um zu sagen, ob es etwas bewirken kann, aber ich halte die Daumen gedrückt. Der Arzt hat gesagt, dass vielleicht mehrere Medikamente ausprobiert werden müssen, um das beste für meinen Vater zu finden.« Sie schüttelte den Kopf. »So viel Zeit vergeudet. Er hätte schon viel früher Hilfe bekommen können. Aber weder meine Mutter noch ich haben erkannt, dass sein Kummer die Grenze zu Depressionen überschritten hatte.«

»Du warst noch ein Kind, als es angefangen hat«, hielt Tom ihr vor Augen. »Und zuletzt warst du ja nicht mehr zu Hause. Deine Mutter wiederum ist sicher nicht die Erste, die nicht wusste, wie sie mit Depressionen eines geliebten Menschen umgehen soll. Vor allem konnte man sie ja so viel leichter auf Kummer schieben. Damit konnte sie was anfangen, weil sie es selbst durchgemacht hat.«

Jeanette lächelte darüber, wie er ihre Mutter in Schutz nahm. »Weißt du, sie mag dich. Das merke ich ihr an. Sie hat es bewundernswert gefunden, dass du immer wieder mit Essen aufgetaucht und bei mir geblieben bist.« Und das war nicht bloß ihre Interpretation der Reaktion ihrer Mutter. Nach den meisten von Toms Besuchen hatten sie über ihn geredet. Jeanette bedachte ihn mit einem Seitenblick. »Sie meint, du bist jemand für was Dauerhaftes.«

Er grinste. »Wirklich? Was ist mit dir? Was denkst du?«

»Ich denke, ich hab dich deutlich mehr vermisst, als ich für möglich gehalten hätte«, antwortete sie und sah ihm in die Augen. »Viel mehr.«

Er wirkte zögerlich. »Okay«, sagte er langsam. »Von wie viel sehr reden wir?«

Sie ließ den Blick fest auf ihn gerichtet, als sie verwegen sagte: »Du hast mich noch gar nicht geküsst.«

»Das lässt sich leicht beheben«, erwiderte er, nahm ihren Kopf in die Hände und senkte den Mund auf ihren.

Was als sanfter, zärtlicher Kuss begann, steigerte sich rasant zu einem atemlosen Zungentanz.

»Heiliger …«, murmelte er und löste sich mit benommenem Gesichtsausdruck von ihr. »Was ist in dich gefahren?«

Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. »Du, glaub ich.«

Sein Handy klingelte, aber er ignorierte es.

»Solltest du nicht rangehen?«, fragte sie, sichtlich belustigt von seinem benebelten Blick.

»Du machst dich gerade an mich ran«, erwiderte er und sah sie hoffnungsvoll an. »Glaube ich jedenfalls.«

»So ist es.«

»Und du willst, dass ich ans Telefon gehe?«

»Das wäre verantwortungsbewusst«, erinnerte sie ihn. »Immerhin bist du der Gemeindedirektor und heute für Weihnachten zuständig. Das ist wichtig.«

»Nicht im Vergleich zu dir«, erwiderte er und ließ das Telefon weiterhin klingeln.

Jeanette griff in seine Tasche und holte das Handy heraus. »Geh ran.«

Er nahm es ihr ab und schaltete es aus. »Also, worüber haben wir gerade geredet?«

»Weihnachten«, erwiderte sie.

»Verführung«, stellte er richtig.

»Ah ja«, sagte Jeanette. Dann seufzte sie. »Aber ich muss zur Arbeit.«

Tom wirkte verdutzt. »Arbeit? Du willst jetzt zur Arbeit?«

»Wollen trifft es nicht ganz, aber ich kann es nicht länger aufschieben.«

»Könntest du schon«, warf Dana Sue ein. Sie stand am Ende des Tischs mit einer Portion Kuchen in der Hand und beobachtete Tom und Jeanette amüsiert.

Jeanette sah sie mit stirnrunzelnder Miene an. »Wie lange bist du schon hier?«

Dana Sue grinste und hielt ihr den Teller mit Apfelkuchen hin. »Lang genug, dass der Kuchen allmählich kalt wird und das Eis zerrinnt«, sagte sie. »Mir hingegen ist bei eurem Anblick eher ein bisschen warm geworden.« Sie sah Jeanette in die Augen. »Ich kann Maddie anrufen und ihr sagen, dass du nach Hause musstest, um dich auszuruhen. Ach was, dass ich dir verordnet habe, nach Hause zu gehen und dich auszuruhen.«

»Mach das«, sagte Tom, ohne den Blick von Jeanette zu lösen.

»Aber …«, begann Jeanette.

»Tu’s«, betonte Tom.

Dana Sue sah Jeanette erwartungsvoll an. »Es liegt bei dir.«

Jeanette spürte, wie Toms Hand unter dem Tisch langsam ihren Oberschenkel hinaufwanderte. Sie schluckte schwer, als Hitze durch ihren Körper schoss. »Tu es«, murmelte sie, erhob sich vom Tisch und schleifte ihren Mantel hinter sich her. Im Augenblick war ihr so warm, dass sie nicht glaubte, ihn zu brauchen.

Dana Sue fächelte sich mit einer Stoffserviette Luft zu. »Tja, verdammt«, murmelte sie, als sie davongingen.

Jeanette warf einen grinsenden Blick über die Schulter. »Ruf unbedingt an, bevor du dich auf die Suche nach Ronnie machst.«

Dana Sue errötete. »Woher weißt du das?«

»Ich glaub, da liegt was in der Luft«, antwortete Jeanette. Was immer es sein mochte, ihr wurde davon geradezu schwindlig vor Vorfreude. Eines Tages würde sie darüber nachdenken müssen, warum sie so bereit war, mit einem Mann zu schlafen, mit dem sie wochenlang nicht mal ausgehen wollte. Vorerst wusste sie nur, dass es sich in dem Moment so richtig anfühlte, als wäre es unvermeidlich gewesen. Mit dem Rest ihrer widersprüchlichen Gefühle würde sie sich später auseinandersetzen.

* * *

Tom warf immer wieder Seitenblicke zu Jeanette, während er durch die Straßen von Serenity in Richtung ihrer Wohnung brauste. »Du überlegst es dir doch nicht anders, oder?«

Sie erwiderte seinen Blick mit ernster Miene. »Ich denke nicht.«

»Sei dir sicher«, bat er. »Sonst muss ich unter die kalte Dusche springen oder vielleicht in den See.«

»Im See würdest du dir eine Lungenentzündung holen«, sagte sie. »Das können wir nicht zulassen.«

Als er auf dem Parkplatz vor ihrem Haus zum Stehen kam, schaltete er den Motor aus und drehte sich ihr zu. »Jeanette, was hat sich geändert? Jedes Mal, wenn ich dich gebeten habe, mit mir auszugehen, hattest du irgendeine Ausrede. Und jetzt bist du auf einmal bereit, den Schritt ganz zu überspringen.«

Sie schmunzelte. »Willst du das jetzt echt hinterfragen?«

»Ich will nicht, aber ich hab das Gefühl, dass ich es muss. Liegt’s an Dankbarkeit, weil ich dir beigestanden habe, als dein Vater im Krankenhaus war?«

»Dafür war ich dir sogar sehr dankbar«, pflichtete sie ihm bei. »Aber nicht genug, um mit dir zu schlafen.«

Immer noch war er verwirrt. »Warum dann? Noch vor ein paar Wochen hast du behauptet, du würdest dich nicht mit mir einlassen.«

»Ich glaube, wir wissen beide, dass der Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt war«, erwiderte sie augenzwinkernd.

»Wirklich? Ich dachte, du wärst fest entschlossen, mich auf Abstand zu halten.«

»War ich auch«, räumte sie ein. »Nur hat dich das nie abgehalten.« Sie begegnete seinem Blick. »Du küsst unheimlich gut. Hat dir das schon mal jemand gesagt?«

»Gelegentlich«, antwortete Tom. Er hatte keine Ahnung, warum er das Bedürfnis verspürte, es zu Tode zu diskutieren, aber ein Bauchgefühl warnte ihn, dass sie aus den falschen Gründen hier waren und es am Ende nach hinten losgehen würde, wenn er die Stimmung ausnutzte, in der sie sich gerade befand. »Darum also geht’s? Dir gefällt, wie ich küsse?«

Langsam breitete sich ein Lächeln in ihren Zügen aus. »Oh, ja.«

Aus irgendeinem idiotischen Grund fand Tom das ärgerlich. »Ich glaube, ich muss dich beim Corner Spa absetzen und zurück zum Hauptplatz.«

Verwirrt starrte sie ihn an. »Warum? Was hab ich denn gesagt? Ich hab dir gerade ein Kompliment gemacht.«

»Nein, du hast mir gesagt, dass dich die Aussicht darauf anmacht, mit mir zu schlafen.«

»Das ist ein Kompliment«, betonte sie.

Er sah sie mit verkniffener Miene an, als er den Zündschlüssel drehte und den Motor startete. »Wie würdest du dich fühlen, wenn ich dir sage, dass mich an dir nur dein Körper interessiert?«

Mit vor Bestürzung offenem Mund starrte sie ihn an. »Das hab ich doch nicht gesagt«, protestierte sie.

»Wirklich nicht?«

Sie zögerte so lange, dass er praktisch sehen konnte, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten. »Ich dachte, du würdest dich freuen«, murmelte sie. »Weil du bekommen würdest, was du willst.«

Er verengte die Augen zu Schlitzen. »Was genau denkst du denn, dass ich will?«

»Sex. Etwas Zwangloses, um dir die Zeit zu vertreiben, während du in Serenity lebst.«

Ihre Worte ernüchterten ihn eiskalt. »Verdammt, Jeanette, glaubst du wirklich, dass ich so wenig von dir halte? Gott weiß, dass ich mit dir schlafen möchte. Wollte ich schon, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Aber ich hab bereits damals gewusst, dass es zwischen uns um mehr gehen würde.«

Verwirrt musterte sie ihn. »Du hast gesagt … Ich dachte … Tom, du wirst hier nicht bleiben. Das hast du selbst gesagt. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das akzeptieren konnte, aber jetzt habe ich es. Ich kann damit umgehen.«

Ihre Bereitschaft, sich mit so wenig zu begnügen, ließ ihn noch wütender werden – auf sie, auf ihn selbst, er wusste es nicht genau. »Du kannst also mit etwas Zwanglosem leben?«

Sie nickte, obwohl sie dabei elend aussah.

»Wenn du das glaubst, kennst du nicht nur mich nicht, sondern nicht mal dich selbst«, sagte er und legte den Rückwärtsgang ein. Er musste weg von ihr, bevor sein Verlangen nach ihr sein Anstandsempfinden überwältigen könnte.

Bis er vor dem Corner Spa anhielt, sagte er kein Wort mehr. Dann drehte er sich ihr zu. »Für mich geht’s hier nicht nur um Sex, Jeanette. Gott steh mir bei, ich bin dabei, mich in dich zu verlieben. Sag Bescheid, wenn du auch dort ankommst.«

Einen Moment lang starrte sie ihn fassungslos an, dann flüchtete sie förmlich aus dem Auto. Er schaute ihr nach, bevor er seufzte. Na, das ist ja mal gut gelaufen, dachte er sarkastisch. Und als Nächstes musste er sich mit einem Haufen fröhlicher Weihnachtsfanatiker herumschlagen. Ho ho ho.

* * *

Jeanette schwirrte noch der Kopf von Toms Worten, als sie sich auf Autopilot den Weg ins Spa bahnte. Sie steckte den Kopf in Maddies Büro.

»Margaritas heute Abend bei mir, okay?«, sagte sie mit einem geradezu verzweifelten Unterton.

»Warum bist du hier?«, fragte Maddie und musterte sie besorgt. »Egal. Soll ich die anderen anrufen?«

Jeanette nickte. »Bitte.« Sie glaubte nicht, dass sie im Augenblick all die zu erwartenden Fragen verkraften könnte – vor allem von Dana Sue. Wenn sie den Nachmittag überstehen wollte, ohne zusammenzubrechen, musste sie sich das ersparen.

»Willst du jetzt gleich reden?«, fragte Maddie.

Jeanette schüttelte den Kopf. »Heute Abend, okay?«

»Wir sind um sieben Uhr da«, versprach Maddie.

So handhabten die süßen Magnolien das. Wenn es einer von ihnen schlecht ging, eilten die anderen zu Hilfe. Sie boten dann ein offenes Ohr, Rat und Unterstützung, unabhängig davon, ob darum gebeten wurde oder nicht. Jeanette freute sich auf ihre unaufgeforderten Meinungen, weil sie im Moment keine eigene hatte. Sie stand noch unter Schock. Tom glaubte, sie zu lieben? Er hatte es ausgesprochen. Tatsächlich hatte er es ihr praktisch ins Gesicht geschleudert.

Ihre erste Kundin arbeitete sie routinemäßig ab, nickte an den richtigen Stellen, streute gelegentlich eine Frage ein, war jedoch nicht wirklich bei der Sache. Der Termin verlief einigermaßen gut, da die Kundin neu war und nicht mehr als eine gute Gesichtsbehandlung erwartete. Die Frau ging glücklich, mit strahlender Haut und einer Einkaufstüte voller teurer Produkte.

Leider hatte sie Mary Vaughn als Nächste. Sie warf einen Blick auf Jeanette und runzelte die Stirn.

»Du siehst furchtbar aus«, sagte sie taktlos.

Trotz ihrer Stimmung lächelte Jeanette. »Oh, schönen Dank auch.«

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Mary Vaughn. »Ist wohl verständlich nach allem, was du mit deinem Vater durchgemacht hast. Aber ich hab gehört, es geht ihm inzwischen besser.«

»Ja, danke.«

Jeanette konzentrierte sich darauf, mit einem Reiniger sämtliche Spuren von Make-up aus Mary Vaughns Gesicht zu entfernen.

»Hattest du Gelegenheit zu sehen, wie die Dekoration angebracht wird?«, fragte Mary Vaughn.

»Ich hab einen kurzen Blick darauf geworfen, bevor ich zum Mittagessen gegangen bin.«

»Mit Tom.« Mary Vaughn begegnete im Spiegel Jeanettes Blick. »Ich hab euch beide zusammen weggehen gesehen. Und ich muss sagen, dabei hast du wesentlich glücklicher gewirkt als jetzt. Ist etwas passiert? Ihr habt euch doch nicht etwa gestritten, oder?«

»Zwischen Tom und mir ist alles gut«, erwiderte Jeanette und hoffte, damit nicht hoffnungslos zu lügen. Sie hatten vielleicht so unterschiedliche Vorstellungen, dass sie genauso gut in getrennten Welten leben könnten, davon abgesehen jedoch war alles in Ordnung. Wirklich. »Erzähl mir, wie es mit den Vorbereitungen für die Festlichkeiten vorangeht. Ist schon alles so weit?«

Mary Vaughn schien zwar lieber das Thema von Jeanettes und Toms Beziehung vertiefen zu wollen, schließlich jedoch lenkte sie ein. »Die Chöre waren sich eine Zeit lang uneinig. Alle wollten ›Stille Nacht‹ singen, aber ich glaube, es ist mir gelungen, die Chorleiter davon zu überzeugen, dass es noch viele andere bekannte Weihnachtslieder zur Auswahl gibt. Ehrlich, es war, als müsste man sich mit Superstar-Diven herumschlagen. Am liebsten hätte ich ihnen gesagt, sie sollen einfach ihre blöden Gesangbücher herausholen und etwas aussuchen, bevor ich es für sie tue.«

»Das hätte die weihnachtliche Gesinnung von gutem Willen und Miteinander aber ziemlich ruiniert«, meinte Jeanette belustigt.

»Du sagst es.«

»Wie läuft es mit Sonny? Rauft ihr zwei euch für Rory Sue über die Feiertage zusammen?«

Ein feuchter Glanz trat in Mary Vaughns Augen, und Jeanette erkannte, dass sie kurz vor dem Weinen stand. »Was ist? Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte sie.

Mary Vaughn winkte die Frage ab. »Nein, hast du nicht. Es ist nur so, dass wir uns gerade richtig gut verstehen.«

»Und ist das schlecht?«

»Schon, wenn man geschieden ist und der Ex-Mann ein neues Kapitel aufgeschlagen hat.«

»Ein neues Kapitel? Du meinst, er ist mit einer anderen zusammen?«

Mit elender Miene nickte Mary Vaughn. »Ich hatte auch keine Ahnung, bis ich die beiden gestern Abend im Sullivan’s zusammen gesehen habe«, vertraute sie Jeanette an. »Sie arbeitet für ihn. Früher als Buchhalterin oder Sekretärin oder so, aber vor kurzem ist sie in den Verkauf befördert worden. So, wie Sonny sie angesehen hat, glaube ich zu wissen, wie sie für die Beförderung gesorgt hat.«

»Mary Vaughn!«

»Na ja, genau so gehen manche Frauen vor«, erwiderte die Immobilienmaklerin.

Jeanette musterte sie eingehend. »Warum stört dich das eigentlich? Ihr zwei seid doch schon lange geschieden.«

»Ich weiß.« Mary Vaughn seufzte. »Aber seit wir neuerdings wieder miteinander reden und Zeit miteinander verbringen, frage ich mich, ob das nicht vielleicht ein Fehler war. Die Scheidung, meine ich.«

»Du hast Gefühle für Sonny?«, fragte Jeanette ungläubig.

»Ja«, gestand Mary Vaughn. »Ist das nicht ein Schocker? Und bitte erzähl niemandem was davon. Das wäre zu demütigend. Jahrelang waren wir erst zusammen, dann geheiratet. Und auf einmal, nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit geschieden sind, wird mir klar, was für ein toller Kerl er ist. Ich meine, ich hab immer gewusst, dass er großartig ist. Nur merke ich gerade, wie gut wir zusammenpassen. Wir haben unsere gemeinsame Vorgeschichte, deshalb müssen wir nicht jede Kleinigkeit erklären. Er versteht mich. Er versteht wirklich alles an mir. Weißt du, wie selten das ist?«

Jeanette bedachte sie mit einem eindringlichen Blick. »Weißt du es?«

»Jetzt schon. Keine Ahnung, warum ich so lang gebraucht habe, um es herauszufinden. Vielleicht musste ich ihn erst verlieren – nicht durch die Scheidung, sondern an eine andere Frau –, bevor ich es erkennen konnte.«

»Willst du ihn zurück?«

Mary Vaughn nickte. »Ich glaube, das will ich.«

Jeanette hörte Unsicherheit in ihrer Stimme und ging darauf ein. »Hör mal, ich bin wohl die Letzte, die jemandem Beziehungsratschläge erteilen sollte, vor allem heute. Aber du klingst mir nicht hundertprozentig sicher, ob du Sonny zurückhaben willst. Bis du das nicht bist, solltest du nicht versuchen, diese neue Beziehung zu zerbrechen, die er deiner Meinung nach hat. Versuch nicht, selbst etwas mit ihm anzufangen.«

»Ich weiß, dass du recht hast. Ich hab ihm öfter wehgetan, als du dir vorstellen kannst. Das darf ich nicht noch mal.« Sie drehte den Kopf und sah Jeanette an. »Aber wie soll ich es mit Sicherheit wissen, wenn wir es nicht noch mal versuchen?«

»Vielleicht liefert dir die Zeit, die ihr über die Feiertage miteinander verbringt, die Antworten, die du brauchst«, schlug Jeanette vor.

»Mich zurückzulehnen und abzuwarten, ist nicht mein Stil«, entgegnete Mary Vaughn. »Ich bevorzuge den direkten Ansatz.«

»Ist natürlich deine Entscheidung«, sagte Jeanette. Dabei dachte sie daran, wie gut der direkte Ansatz bei ihr vorhin funktioniert hatte. Katastrophal. »Aber riskieren solltest du es nur, wenn du für eine Abfuhr gewappnet bist.«

»Süße, ich bin schon öfter abgewiesen worden, als du dir vorstellen kannst. Ist für mich praktisch ein Lebensstil.«

»Dann ist es vielleicht an der Zeit, einen anderen Weg einzuschlagen«, meinte Jeanette. »Versuch doch mal den Ansatz mit Abwarten.«

»Ich werd drüber nachdenken«, versprach Mary Vaughn. Dann trat ein besorgniserregendes Funkeln in ihre Augen. »Aber ich lasse nicht zu, dass mir dieses kleine Flittchen in der Zwischenzeit den Mann wegnimmt.«

Bei der leidenschaftlichen Erklärung ihrer Freundin musste sich Jeanette ein Lächeln verkneifen. Welche Beziehung Sonny zu dieser anderen Frau auch unterhielt, sie war zum Scheitern verurteilt.