KAPITEL 4

Da viele von Jeanettes besten Kundinnen berufstätig waren und nur samstags zu Behandlungen kommen konnten, hatte sie selbst selten ein ganzes Wochenende für sich. Und so gefiel es ihr. Die Sonntage kamen ihr endlos vor, vor allem, wenn sie nicht in die Kirche ging. Dann zog sich der Tag mit zu vielen leeren Stunden hin.

Wie lang dauerte es schon, die Wäsche zu erledigen oder den Kühlschrank für die wenigen Mahlzeiten zu bevorraten, die sie zu Hause aß? In Serenity gab es kein Kino. Golf, Kajakfahren und andere Aktivitäten in der Stadt interessierten Jeanette nicht. Der einzige Nachteil am Leben in einer kleinen Gemeinde, nachdem sie davor mehrere Jahre in Charleston gewohnt hatte. Trotz aller anderen Reize und der wunderbaren Menschen gingen ihr die Ruhe und Beschaulichkeit von Serenity gelegentlich auf die Nerven. Vor allem, weil sie niemanden an der Seite hatte, mit dem sie ihr Leben teilen konnte.

Diesen Sonntag fand sie schlimmer als die meisten. Sie hatte entschieden zu viel Zeit, um über Weihnachten, ihre Familie und all die Gründe nachzudenken, warum der Feiertag für sie seine Bedeutung verloren hatte.

Gegen drei Uhr nachmittags wurde sie rastlos. Ihr Blick fiel auf das Telefon neben ihr. Unwillkürlich ging ihr durch den Kopf, wie lange sie schon nicht mehr mit ihren Eltern geredet hatte. Sie lebten keine zwei Stunden entfernt, trotzdem hatte Jeanette sie seit Monaten weder gesehen noch gesprochen. Nachdem sie von zu Hause ausgezogen war, hatte sie festgestellt, dass es keine Anrufe gab, wenn sie nicht von ihr ausgingen. Beinah so, als würden ihre Eltern sie vergessen, wenn Jeanette sie nicht daran erinnerte, dass es sie noch gab.

Impulsiv ergriff sie das Telefon und wählte, bevor sie es sich ausreden konnte. Es klingelte mehrmals, bis ihre Mutter ranging.

»Hi, Mama.«

»Jeanette, bist du das?«

Es überraschte sie nicht, dass sich ihre Mutter nicht sicher zu sein schien. »Ja, Mama, ich bin’s. Wie geht’s dir?«

»Ganz gut«, erwiderte sie, fügte jedoch nichts hinzu.

Trotz der kurz angebundenen Antwort bohrte Jeanette weiter. »Und Papa? Wie geht’s ihm?« Ihr Vater ging auf die siebzig zu, wirkte jedoch älter. Die Arbeit im Freien sah man ihm an der verwitterten Haut an. Und das von ihren Eltern stets »die Tragödie« genannte Ereignis hatte ihn vorzeitig altern lassen.

»Wie immer arbeitet er zu hart«, antwortete ihre Mutter. »Die Farm ist eigentlich zu viel für ihn, aber er kennt halt nichts anderes.«

»Hat er dieses Jahr jemanden als Hilfe eingestellt?« Jeanette war fest entschlossen, das Telefonat am Laufen zu halten, und hoffte, vielleicht sogar eine annähernd richtige Unterhaltung anzufachen.

»Für das Gemüse hatte er mehrere Tagelöhner, aber die meisten hat er inzwischen weggeschickt, weil nur noch die Kürbisse zu ernten sind. Die lädt er selbst auf und bringt sie samstags zum Markt.«

»Ist er da? Ich würde gern ein paar Worte mit ihm reden«, sagte Jeanette. Früher mal hatte ihr Vater sie so abgöttisch geliebt wie Cal die kleine Jessica Lynn. Das hatte sich innerhalb eines Wimpernschlags geändert. Und obwohl Jeanette den Grund auf intellektueller Ebene verstand, schmerzte die zwischen ihnen entstandene Kluft deshalb nicht weniger.

»Er ist draußen und arbeitet am Traktor.« Ihre Mutter bot nicht an, ihn zu holen. Mit leichter Verzögerung setzten ihre guten Manieren ein, und sie fügte hinzu: »Aber ich sage ihm, dass du angerufen hast.«

Jeanette konnte sich nur mühsam ein Seufzen verkneifen. Sie konnte sich nicht mal mehr erinnern, wann ihr Vater zuletzt mit ihr gesprochen hatte. Ihre Mutter hatte immer eine Ausrede dafür parat, warum er nicht ans Telefon kommen konnte. Einige, wie diese, hörten sich wahr an. Andere nicht. Manchmal hatte sie den Eindruck, dass er nach dem Tod ihres Bruders einfach mit überhaupt niemandem mehr reden wollte.

Sie zwang sich zu einem fröhlichen Ton. »Erzähl mir, was du so treibst, Mama. Backst du immer noch jede Woche für die Kirchenveranstaltungen?«

»Heute hab ich einen Kokosnusskuchen hingebracht«, sagte ihre Mutter. »Nächste Woche Schokolade. Den mögen alle am liebsten.«

»Ich auch«, sagte Jeanette. »Vielleicht komme ich bald mal zu Besuch, dann könntest du ja einen für mich backen.«

Ein weiteres unverkennbares Zögern folgte, bevor ihre Mutter erwiderte: »Gib uns einfach Bescheid, wann du kommst, Jeanette.«

Diesmal versuchte Jeanette gar nicht erst, ihr Seufzen zu unterdrücken. Sie hatte ausnahmsweise auf ein bisschen Herzlichkeit gehofft, auf irgendein Anzeichen, dass ihre Eltern sie vermissten und sehen wollten. Stattdessen klang ihre Mutter eher, als müsste sie gewarnt werden, bevor ihre Tochter bei ihr vor der Tür stehen würde. Oder vielleicht reagierte Jeanette auch nur zu sensibel auf die Nuancen in der Stimme ihrer Mutter. Mittlerweile rechnete sie mit Ablehnung und spürte sie in praktisch jedem Wort.

»Ich gebe rechtzeitig Bescheid, Mama«, versprach sie und fand sich damit ab, einen weiteren enttäuschenden Anruf zu beenden. »War schön, mit dir zu reden.«

»Gleichfalls«, gab ihre Mutter zurück.

Erst nach dem Auflegen wurde ihr klar, dass ihre Mutter keine einzige Frage darüber gestellt hatte, wie es ihr ging oder was sich in ihrem Leben abspielte. Das Desinteresse schmerzte, selbst nach all den Jahren. Sie erinnerte sich noch gut an die Zeit, als sie nach der Schule durch die Hintertür ins Haus gelaufen war, strotzend vor Neuigkeiten über ihren Tag. Damals hatte ihre Mutter stets Kekse und Milch auf den Tisch gestellt, bevor sie jedem einzelnen Wort gelauscht hatte. Sie schien diese Nachmittagsgespräche genauso zu genießen wie Jeanette. Mittlerweile brachten sie kaum noch ein fünfminütiges Gespräch zustande, das überwiegend einseitig verlief.

»Wenn ich noch eine Minute länger hier sitze, fange ich an, mich in Selbstmitleid zu suhlen«, murmelte Jeanette. Spontan schnappte sie sich ihre Handtasche und ging zur Tür.

Zwei Stunden später saß sie mit einem riesigen Eimer Popcorn, zuckerfreier Limonade und einer Packung M&Ms in einem Multiplexkino in Charleston. Der Film, ein stark beworbener Actionstreifen, traf ihren Geschmack nicht wirklich. Trotzdem besser, als an einem Sonntagnachmittag allein zu Hause zu sitzen und über ihre gestörte Beziehung zu ihren Eltern nachzudenken, ohne die geringsten Ahnung, wie sie sich kitten ließe.

Beim Verlassen des Kinos hörte sie eine vertraute Stimme. Als sie sich umdrehte, erblickte sie Maddies Sohn Kyle und einige seiner Freunde in Begleitung von Cal.

»War der Film nicht der totale Kracher?«, fragte Kyle sie enthusiastisch.

Cal ergriff das Wort und rettete sie davor, antworten zu müssen. »Irgendwie glaub ich, Jeanette wäre eine romantische Komödie lieber gewesen.«

Kyle schaute verwirrt drein. »Warum hat sie sich dann den Film angesehen?«

Cal sah ihr in die Augen. »Weiß nicht. Warum eigentlich, Jeanette?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich dachte mir halt, es würde temporeich und aufregend sein.«

Er bedachte sie mit einem wissenden Blick. »Was dich angesprochen hat, weil du dich von irgendwas ablenken wolltest?«

Jeanette sah ihn stirnrunzelnd an. »Du weißt schon, dass deine intuitiven Fragen manchmal fast genauso nervig sind wie die deiner Frau, oder?«

Cal lachte. »Was soll ich sagen? Maddie färbt auf mich ab. Übrigens, wir schauen unterwegs nach Hause zum Pizzaessen bei Rosalina’s vorbei. Maddie trifft sich dort mit uns. Willst du mitkommen? Würde noch ein bisschen Zeit totschlagen, falls dir danach ist.«

Der Vorschlag hatte durchaus einen gewissen Reiz, allerdings überwogen die Nachteile die Vorteile. »Und mich noch einem Verhör unterziehen? Lieber nicht.«

»He, soll das ein Scherz sein? Bei der Truppe hier plus Jessica Lynn und Cole können die Erwachsenen schon froh sein, wenn sie sich überhaupt gegenseitig hören. Komm schon, Jeanette. Ganz ohne Fragen. Ich sorge dafür.«

Sie grinste. »Wenn sich Maddie was in den Kopf gesetzt hat, lässt sie sich nicht aufhalten. Und in letzter Zeit scheint sie fest entschlossen zu sein, sich in mein Leben einzumischen.«

»Offensichtlich bist du nicht mit dem Knirpseffekt vertraut. Maddie ist ständig damit beschäftigt, Jessica Lynn hinterherzujagen. Da bleibt kaum Zeit für irgendwas anderes. Beim Essen geht’s nicht mehr annähernd so ruhig zu, wie du es vielleicht in Erinnerung hast. Schon gar nicht, wenn Kyles Freunde dabei sind.« Jeanette fiel auf, dass Cal damit rundum zufrieden, ja geradezu glücklich zu sein schien. Er hatte sich nahtlos in die Rolle des Stiefvaters für Maddies Kinder und des Vaters von zwei eigenen kleinen Wonneproppen gefügt.

Sein Versprechen und die Erinnerung an Jessica Lynns chaotischen letzten Besuch im Spa bewogen Jeanette zum Einlenken. Zum einen, weil man Popcorn wohl kaum als vollwertige Mahlzeit betrachten konnte. Zum anderen, weil sie die Aussicht auf gute Gesellschaft viel besser fand, als zerstreut in den Fernseher zu glotzen und dabei unablässig über das frustrierende Gespräch mit ihrer Mutter zu grübeln.

»Wenn das so ist, treffen wir uns dort. Pizza klingt gut.«

Cal bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. »Ist ’ne lange Fahrt. Da bleibt viel Zeit, es sich anders zu überlegen. Muss ich Kyle und einen seiner Kumpel mit dir mitschicken, damit du auch wirklich kommst? Ich will nicht, dass du kneifst, sobald ich Maddie erst gesagt habe, dass du dabei bist.«

Sie runzelte die Stirn. »Ich werd’s mir nicht anders überlegen. Du musst mir keine Eskorte mitschicken.«

Zufrieden nickte er. »Dann bis bald.«

Jeanette sah ihm nach, als er mit den Jungs davonging, bevor sie den Weg zu ihrem Auto antrat. Sobald sie aus dem Parkhaus gerollt war, öffnete sie das Verdeck des Cabrios, legte eine CD ein und drehte die Musik voll auf. Als sie den Stadtrand von Serenity erreichte, hatte der Fahrtwind sie völlig zerzaust, aber ihre Stimmung hatte sich sprunghaft gebessert.

Zum Glück, denn der Erste, den sie beim Betreten von Rosalina’s sah, war der attraktive Fremde von der Veranda des Corner Spa … und er saß bei Maddie.

* * *

Tom hielt noch die Puppe, die Jessica Lynn Maddox ihm in den Arm gedrückt hatte. Als er aufschaute, sah er seine geheimnisvolle Fremde an der Tür stehen. Sie starrte durch den Raum direkt zu ihm, und einen Moment lang hatte er den Eindruck, sie würde die Flucht ergreifen.

Stattdessen stand Maddie Maddox auf, die ihm gegenübersaß, und eilte in die Richtung der Frau, dicht gefolgt von Jessica Lynn, die dabei »Jeanette, Jeanette« rief. Demnach schienen sie sich zu kennen. Er blieb allein am Tisch zurück und behielt nervös den in seiner Babyschale schlafenden Säugling im Auge. Zwar besaß er reichlich Erfahrung mit den Kindern seiner Schwestern, aber überwiegend, nachdem sie bereits aus den Windeln waren. Den Spruch, dass Säuglinge nicht so zerbrechlich waren, wie sie aussahen, hatte er nie geglaubt.

Als Maddie zum Tisch zurückkehrte und das Handgelenk der anderen Frau ziemlich fest zu halten schien, hatte sich Tom bereits erhoben.

»Jeanette, das ist Tom McDonald, der neue Gemeindedirektor von Serenity«, stellte Maddie vor und drückte Jeanettes Hand praktisch in seine. Instinktiv ergriff er sie. »Tom, das ist Jeanette Brioche. Sie leitet den Wellnessbereich im Corner Spa

»Hallo«, grüßte er und hielt ihre zarte Hand eine Spur zu lange. Mit ihrer weichen Haut verkörperte sie wandelnde Werbung für die Behandlungen des Corner Spa.

Obwohl leichter Argwohn in ihren dunklen Augen lag, lächelte sie und sagte: »Schön zu wissen, dass mein erster Eindruck nicht total daneben war.«

Er blinzelte. »Ach ja?«

»Ich hab zu Elliot, unserem Personal Trainer, gesagt, dass Sie vertrauenswürdig aussehen«, erklärte sie. »Obwohl Sie durch die Fenster gelinst und damit die Frauen erschreckt haben.«

Maddie sah ihn schockiert an. »Sie haben was?«

Tom zuckte zusammen. »Das hat anders gewirkt, als es war. Ich war auf der Suche nach einem Studio, in dem man vernünftig trainieren kann. Man hatte mir zwar gesagt, dass im Corner Spa nur Frauen Zutritt haben, aber ich wollte mich selbst davon überzeugen. Jeanette hat mich vor der Tür abgefangen und es mir unmissverständlich bestätigt.«

»Tut mir leid«, sagte Jeanette ohne Bedauern in der Stimme. »Hab nur die Regeln durchgesetzt.«

»Vielleicht können Sie und Cal sich ja zusammentun und was Ähnliches für die Männer in der Stadt auf die Beine stellen«, schlug Maddie vor. »Dann müsste ich nicht mehr so tun, als wüsste ich nicht, dass er sich spätabends reinschleicht.«

»Ob Sie mir das wohl auch erlauben würden?«, fragte Tom wehmütig.

»Auf keinen Fall«, ergriff Jeanette in so scharfem Ton das Wort, dass sie einen überraschten Blick von Maddie erntete. »Ich meine, Cal ist eine Sache. Er ist mit einer der Eigentümerinnen verheiratet. Aber wenn wir es Ihnen erlauben, dauert’s nicht lang, bis der Nächste fragt, und bevor wir wissen, wie uns geschieht, haben wir keinen exklusiven Ort für Frauen mehr.«

Er schmunzelte über ihre forsch vorgetragene Erklärung. »Einen Moment lang dachte ich, Sie hätten was gegen mich persönlich.«

»Wie könnte ich?«, gab sie zurück. »Ich kenne Sie ja gar nicht.«

»Das ließe sich ändern«, schlug er vor und bekam die Genugtuung, dass sie errötete.

»Eher nicht«, entgegnete sie knapp, obwohl sie bei einem weiteren scharfen Blick von Maddie hinzufügte: »Aber danke.«

Kurz musterte Tom sie noch, dann zog er den Stuhl neben seinem heraus. Bevor sich Jeanette setzen konnte, worauf er gehofft hatte, kletterte Jessica Lynn darauf und zupfte an seinem Ärmel. »Ich hab Hunger«, verkündete sie. »Wo ist meine Puppe?«

»Hier«, sagte er, hob sie vom Sitz seines Stuhls auf und reichte sie ihr. Er fand sich damit ab, dass Jeanette woanders sitzen würde – wahrscheinlich so weit weg von ihm wie möglich –, bückte sich und vertraute Jessica Lynn an: »Ich bin auch am Verhungern.«

»Geht mir genauso«, steuerte Jeanette bei und überraschte ihn damit.

»Dann sollten wir schon mal bestellen«, schlug Maddie vor. »Cal wird jeden Moment mit den Jungs hier sein.«

»Wo ist Katie?«, fragte Jeanette.

»Bei einer Freundin. Theoretisch machen sie zusammen Hausaufgaben. Aber da die Grahams einen Pool haben, bin ich skeptisch.«

Tom musterte Maddie neugierig. Den merklichen Altersunterschied zwischen ihr und ihrem Mann – wahrscheinlich gut und gern zehn Jahre – hatte Tom bereits verdaut. Aber es klang so, als hätten die beiden zudem eine große Familie. Und Cal war etwa in seinem Alter – Anfang bis Mitte dreißig. »Wie viele Kinder haben Sie?«

»Fünf«, antwortete Maddie. Sie deutete auf Jessica Lynn und Cole. »Die beiden von Cal, drei weitere aus meiner ersten Ehe. Ty studiert im zweiten Jahr an der Duke. Katie ist wie erwähnt heute Abend bei einer Freundin, und Kyle wird jeden Moment mit Cal hier sein.«

»Und Sie leiten das Spa in Vollzeit?«, fragte Tom beeindruckt.

»Noch dazu hervorragend«, fügte Jeanette hinzu. »Frauen sind spitze im Multitasking.«

Tom runzelte die Stirn über den herausfordernden Ton in ihrer Stimme. »Ist mir bewusst. Ich versuche nur herauszufinden, wer in Serenity was macht.«

Nach einem verwirrten Blick zu Jeanette, der spätere Fragen erahnen ließ, sagte Maddie: »Tja, es dürfte Sie freuen zu hören, dass Jeanette selbst ein Organisationstalent ist. Sie wird uns im Ausschuss für die Weihnachtsfeierlichkeiten vertreten. Haben Sie den Vorsitz?«

»Ja«, bestätigte Tom. Plötzlich erschien ihm die Aufgabe, die Weihnachtsfeier der Stadt zu planen, nicht mehr so abstoßend wie zuvor. Zwar fand er nach wie vor, er könnte seine Zeit effektiver nutzen, aber wenn er dadurch mit Jeanette zusammenarbeitete, konnte es so schlimm nicht werden. Vorläufig jedoch musterte sie ihn unverhohlen argwöhnisch.

»Da Sie und Maddie einander offensichtlich nicht wirklich kennen, was machen Sie hier?«, fragte Jeanette, als hätte er sich aufgedrängt.

Maddies verwirrte Miene schlug in Bestürzung über Jeanettes Unhöflichkeit um. »Ich habe ihn eingeladen«, erklärte sie. »Und bevor du fragst, Cal hat es vorgeschlagen. Er hat unterwegs angerufen und mir erzählt, dass er dich im Kino getroffen und eingeladen hat, mit uns zu essen. Da dachte er, es wäre eine gute Gelegenheit für Tom, ein paar Leute in der Stadt kennenzulernen.«

Jeanette wirkte mit der Antwort zwar nicht völlig zufrieden, aber sie lehnte sich zurück und versteckte sich hinter ihrer Speisekarte. Nur die anhaltende Röte ihrer Wangen verriet ihre Verlegenheit.

Als Cal mit den Jungs eintraf, löste sich die Spannung am Tisch, vor allem, weil für Tom und Jeanette keinerlei Möglichkeit bestand, sich miteinander zu unterhalten. Erst auf dem Weg zum Parkplatz bot sich ihm die Gelegenheit, unter vier Augen mit ihr zu reden. Als die anderen davonfuhren, verharrte er absichtlich neben ihr.

»Tut mir leid, wenn meine Anwesenheit heute Abend Sie gestört hat«, sagte er und musterte sie dabei aufmerksam. »Habe ich Sie irgendwie beleidigt? Als Maddie mich angerufen hat, wusste ich nicht, wer sonst noch kommen würde. Ich hatte es einfach satt, in meinem Zimmer im Serenity Inn die Wände anzuglotzen. Deshalb habe ich mich auf die Gelegenheit gestürzt, zum Essen und Plaudern auszugehen.«

Sie seufzte schwer. »Nein, mir tut’s leid. Ich weiß, ich hab mich unpassend verhalten. Aber Sie kennen Maddie und Ihre Geschäftspartnerinnen noch nicht so gut. Sie … mischen sich gern ein.«

Allmählich wurde das Bild klarer. »Unverbesserliche Kupplerinnen?«

»Können Sie laut sagen. Das war recht unterhaltsam, als sie es untereinander gemacht haben, aber jetzt scheinen sie sich auf mich zu konzentrieren. Das ist demütigend, um nicht zu sagen unerwünscht. Und es ist echt peinlich, wie Sie dafür heute Abend eingespannt worden sind.«

»Mir war’s nicht unangenehm. Ich hab mich aufrichtig gefreut, als ich aufgeschaut und Sie am Eingang gesehen habe. Tatsächlich hatte ich gehofft, wir würden uns wieder über den Weg laufen.«

Seine Erwiderung schien sie nur noch mehr zu verstimmen. »Ich lasse mich nicht auf Verabredungen ein«, erklärte sie mit Nachdruck.

Womit sie Tom nicht halb so sehr vor den Kopf stieß, wie sie es offensichtlich beabsichtigte. Im Gegenteil, sie schuf damit versehentlich eine faszinierende Herausforderung für ihn. Er war schon immer zu Hochform aufgelaufen, wenn es hieß, dass etwas unerreichbar für ihn wäre.

»Ich könnte mir denken, dass es dafür einen Grund gibt«, sagte er und sah ihr in die Augen, bis sie den Blick abwandte.

»Leider sogar mehrere.«

Als sie sich in Bewegung setzte, reihte er sich neben ihr ein. »Wir müssen uns mal treffen, damit Sie mir davon erzählen können.«

Ihre Lippen zuckten. »Wäre das dann nicht eine Verabredung?«

»Nicht, wenn wir es nicht wollen«, entgegnete er in ernstem Ton. »Freunde, die sich bei einem guten Essen und einer Flasche Wein gegenseitig ihr Leid klagen, wären völlig harmlos.«

»Nicht, wenn einer dieser ›Freunde‹ Sie sind«, widersprach sie. »Ich mag mich irren, aber irgendwie kommt mir so gar nichts an Ihnen unschuldig und harmlos vor.«

Tom versuchte gar nicht erst, es zu leugnen. »Es liegt an meinem Grübchen, stimmt’s?«, fragte er gespielt zerknirscht.

»Sie, mein lieber Mr. McDonald, sind ganz schön eingebildet. Ich werde den Eindruck nicht los, dass Sie ein Casanova sind.«

»Mir hat man immer gesagt, Selbstvertrauen wäre eine gute Eigenschaft. Hab ich das falsch verstanden?«, fragte er besorgt.

»Sie nennen es Selbstvertrauen«, stichelte sie. »Ich Arroganz.«

»Daran werd ich arbeiten«, versprach er.

»Wir werden sehen.«

»Ehrlich, ich bin total offen für Selbstverbesserung. Vor allem, wenn ich dadurch die Chance bekomme, dass Sie doch irgendwann mit mir essen gehen.«

»Selbstverbesserung an sich ist Lohn genug«, sagte sie. »Gute Nacht.«

»Brauchen Sie eine Mitfahrgelegenheit?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Nein, danke. Ich bin mit dem Auto hier.«

»Können Sie mich dann mitnehmen?«

»Wollten Sie nicht gerade anbieten, mich nach Hause zu fahren?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann mein Auto morgen holen.«

Zum ersten Mal an jenem Abend lachte Jeanette. »Sie sind unverbesserlich.«

Reuelos zuckte er mit den Schultern. »Sie sind nicht die Erste, die mir das dieses Wochenende sagt.«

»Offenbar kommen Ihnen die Frauen in Ihrem Leben alle auf die Schliche.«

»Die andere war meine Mutter«, gestand er.

»Tja, dem ist wohl nichts hinzuzufügen. Sie muss es schließlich wissen.«

Damit stieg sie in ihr sportliches kleines Cabrio, winkte ihm vergnügt, brauste davon und ließ ihn auf dem staubigen Parkplatz stehen. Die Abfuhr von Jeanette Brioche kratzte zwar ein wenig an seinem Ego, ließ ihn aber natürlich nur umso entschlossener werden, sie zu erobern. Er hatte so das Gefühl, die Regeln bei dem Spiel besser zu kennen als sie. Und am Ende verlor er nie. Nicht, wenn ihm etwas am Herzen lag.

* * *

Obwohl Tom wusste, dass er durch den Weihnachtsausschuss in Kontakt mit der so ausweichenden Jeanette kommen würde, hoffte Tom, Howard würde damit noch eine Weile warten. Aber als er am Montagmorgen zur Arbeit kam, wurde leider schnell offensichtlich, dass der Bürgermeister dieses Thema besonders effizient in Angriff nahm. Toms Sekretärin strahlte ihn an.

»Der Ausschuss erwartet Sie im Besprechungsraum«, verkündete Teresa. »Ich habe Kaffee und Donuts reinbringen lassen.«

Tom sah sie stirnrunzelnd an. »Welcher Ausschuss? Ich hab heute Vormittag keinen Termin im Kalender.«

Ihr Lächeln blieb unverändert. »Ach herrje, dann hab ich wohl vergessen, es in den Kalender einzutragen, den Sie ja unbedingt selbst führen wollen. Er steht in dem, den ich führe.«

»Welcher Ausschuss, Teresa?«, wiederholte Tom ungeduldig.

»Den für die Weihnachtsfeierlichkeiten natürlich. Ich weiß, dass Howard mit Ihnen darüber gesprochen hat. Er hat mich gebeten, den Termin zu arrangieren.«

Hinterhältiger Mistkerl, ging es Tom verdrossen durch den Kopf. Und obwohl Teresa die lästige Neigung hatte, Anweisungen von Leuten wie Howard Lewis entgegenzunehmen, wusste sie mehr als irgendjemand sonst darüber, wie es hier lief. Er brauchte sie. Ohne sie würde seine Karriere im öffentlichen Dienst von Serenity von kurzer Dauer sein. Was seine Eltern vermutlich freuen würde, aber er wollte nicht darüber stolpern, dass er es sich in seinen ersten zwei Wochen im Amt mit einer kundigen Sekretärin verscherzte.

»Okay, geben Sie mir einen kurzen Überblick über die Ausschussmitglieder«, ersuchte er sie, fest entschlossen, es durchzuziehen. Wenn er es hinter sich hätte, könnte er vielleicht neu beurteilen, ob er sich überhaupt für ein Leben im öffentlichen Dienst eignete. Früher hatte sich das für ihn so nobel angehört. Allerdings war das, bevor er mit Entscheidungen darüber konfrontiert wurde, welche beleuchteten Schneeflocken über dem Grün in der Stadt aufgehängt werden sollten oder ob der Stuhl des Weihnachtsmanns in Gold gestrichen und mit Glitter verziert werden sollte. Und über sonstige Belanglosigkeiten, die sich dieser Ausschuss ausdenken würde, um seine Zeit zu verschwenden. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass irgendetwas in der Art je in einem seiner Kurse über öffentliche Verwaltung erwähnt worden war. Und ganz sicher war ihm nichts Vergleichbares in den Planungs- und Finanzabteilungen der anderen Gemeinden untergekommen, in denen er schon gearbeitet hatte.

Er lauschte, während Teresa die Ausschussmitglieder herunterratterte. Die anderen beiden Mitglieder neben Howard und Jeanette waren Ronnie Sullivan, Besitzer des Eisenwarenladens in der Hauptstraße, und Mary Vaughn Lewis, Präsidentin der Handelskammer.

»Vor Mary Vaughn sollten Sie sich in Acht nehmen«, fügte Teresa hinzu. »Bestimmt wird sie versuchen, Sie anzumachen. Das liegt ihr im Blut.«

Tom wusste die Warnung zu schätzen. Gleichzeitig fragte er sich, ob das Interesse einer anderen Frau vielleicht der nötige Funke für eine von ihm erhoffte Beziehung mit Jeanette sein könnte. Andererseits konnten solche Pläne allzu leicht nach hinten losgehen, dachte er, während er sich für die Besprechung wappnete.

* * *

Jeanette saß am Konferenztisch und tippte ungeduldig mit ihrem Stift auf die Mahagoniplatte. Es ärgerte sie maßlos, dass sie ihren gesamten Zeitplan im Spa umstellen musste, um hier sein zu können. Und nun fehlte auch noch jede Spur von Tom.

Nicht dass sie ihn unbedingt wiedersehen wollte. Das Essen am vergangenen Abend war ja recht peinlich verlaufen. Sie hatte sich unhöflich verhalten, was Maddie sie wohl nicht so bald vergessen lassen würde. Ebenso wenig freute sie sich auf weitere Avancen von Tom. Irgendwie ahnte sie, dass er hartnäckig sein würde.

Sie wandte sich an Mary Vaughn. »Das ist Zeitverschwendung«, grummelte sie. »Du hättest heute Morgen ein weiteres Haus verkaufen können, ich hätte locker zwei oder drei Behandlungen machen können. Wenn der Gemeindedirektor nicht in fünf Minuten auftaucht, bin ich weg.«

Von der anderen Seite des Tisches zwinkerte Ronnie Sullivan ihr zu, Dana Sues Ehemann. »Ganz ruhig, Süße. In Serenity geht halt alles etwas gemütlicher.«

»Sag das mal Maddie«, erwiderte sie.

Er grinste. »Soweit ich weiß, hat Madelyn dich hergeschickt. Und ich bin sicher, sie hat davon gewusst.«

Ronnie im Ausschuss anzutreffen hatte Jeanette überrascht. Dana Sue hatte nie etwas davon erwähnt. Sie fragte sich, ob Dana Sue wusste, dass auch Mary Vaughn dabei war. Bestimmt nicht, schloss sie. Sonst wäre Dana Sue hier gewesen, um zu schützen, was ihr gehörte: Ronnie.

Jeanette warf einen verstohlenen Blick zu Mary Vaughn. Die Frau trug einen ihrer teuren Designeranzüge, klobigen Goldschmuck und eine diamantenbesetzte Uhr, die mehr kostete, als Jeanette in einem Monat verdiente. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass Mary Vaughn ideal zu Tom McDonald passen würde. Beide waren Karrieremenschen. Beide tatkräftig. Und beide offenbar auf der Jagd. Tatsächlich wäre das die Lösung für ihr Problem. Sobald die beiden sich kennenlernten, würde Tom von Jeanette ablassen und sich freudig auf leichtere Beute stürzen.

Zu ihrem Erstaunen fand sie den Gedanken nicht annähernd so reizvoll, wie er sein sollte.

Endlich betrat Tom den Raum. Er wirkte genauso unglücklich wie sie darüber, hier zu sein. Jeanette musste zugeben, dass ihr sein Anblick in Arbeitsaufmachung – ordentlich gebügelte marineblaue Hose, blaugraues Hemd der Farbe seiner Augen, goldene Manschettenknöpfe, bereits gelockerte Krawatte – einen knisternden Ruck versetzte, obwohl er überhaupt nicht ihrem Typ entsprach. Sie bevorzugte sexy Handwerkertypen, die einem nichts vorgaukelten. Natürlich musste man ihren Geschmack angesichts der bisherigen Erfahrungen in Frage stellen.

»Guten Morgen miteinander«, grüßte Tom in einem gedehnten Ton, auf den Jeanettes Körper erneut ansprach. Verflixt noch mal. Lächelnd stellte er sich vor und schüttelte allen am Tisch die Hand. Bei allen wirkte er freundlich, nur beim Bürgermeister wurde er etwas frostiger. »Howard«, sagte er knapp.

»Guten Morgen«, erwiderte Howard, der sich nicht anmerken ließ, ob er den Unterton registriert hatte. Nur er und Ronnie schienen sich hundertprozentig darüber zu freuen, hier zu sein.

Wie erwartet musterte Mary Vaughn neben ihr Tom mit einem Blick, der erahnen ließ, dass er ihr nächster romantischer Zeitvertreib werden könnte. Jeanette bemerkte, wie Mary Vaughns Blick auf Toms Hand fiel und das Fehlen eines Eherings registrierte. Plötzlich wurde sie munterer und rückte ihr Jackett so zurecht, dass sie ein wenig Dekolleté zeigte. Jeanette seufzte. Ging es eigentlich noch offensichtlicher?

»Howard, da Sie diese Besprechung einberufen haben, schlage ich vor, Sie fangen an«, sagte Tom. »Bestimmt haben Sie dafür eine Tagesordnung. Da ich die Traditionen hier noch nicht kenne, mache ich mir heute eher Notizen und melde mich, wenn mir ein Vorschlag einfällt.«

Sein Tonfall ließ erahnen, dass jegliche Vorschläge, die ihm derzeit durch den Kopf gingen, nicht der Gesinnung von Weihnachten entsprächen. Was Jeanette vollkommen nachvollziehen konnte.

Howard jedoch nahm den Ball nahtlos an und legte los. Keine Stunde später hatte er Mary Vaughn dazu eingeteilt, mit sämtlichen Chören der Stadt zu sprechen. Ronnie hatte die Aufgabe, über neues Dekor zu recherchieren. An Jeanette blieb es hängen, sich mit möglichen Verkaufsstandbetreibern auseinanderzusetzen.

»Tom, dabei arbeiten Sie mit ihr zusammen, ja?«, sagte der Bürgermeister zu Mary Vaughns unübersehbarer Enttäuschung.

»Natürlich«, erwiderte der Gemeindedirektor und zwinkerte Jeanette schamlos zu.

»Dann würde ich sagen, wir sind auf dem besten Weg zu den schönsten Weihnachtsfeierlichkeiten, die Serenity je erlebt hat«, meinte Howard vergnügt. »Gute Arbeit, alle miteinander. Wir sehen uns nächste Woche um dieselbe Zeit.«

»Wir treffen uns wöchentlich?«, fragte Jeanette entsetzt.

»Aber natürlich. Wir müssen schließlich am Ball bleiben, nicht wahr?«, antwortete Howard. »Ich mag in der Stadt der Weihnachtsmann sein, aber alles schaffe ich nicht ohne meine kleinen Elfen.«

Tom sah aus, als würde er dem Bürgermeister am liebsten die Spitze seines Kugelschreibers ins Herz rammen. Jeanette konnte es nachempfinden.

»Er ist es nicht wert, für ihn in den Knast zu wandern«, murmelte sie Tom im Vorbeigehen zu.

Zu ihrer Überraschung zuckten seine Lippen. »Ganz sicher?«

»Wenn ich’s mir recht überlege, nein. Fragen Sie mich nächste Woche noch mal. Vielleicht bringe ich ein paar Kugelschreiber mit.«