D as Haus war nur noch Schutt und Asche, aber in Parkers Vorstellung sah es noch genauso aus wie in jener Nacht, als Hannah die Macht des Kosmos auf eine Gruppe Jäger entfesselt hatte. Sie hatte ihre Rache eingefordert, ebenso wirksam wie erschreckend.
Wie er so an den Ruinen des Hauses seiner besten Freundin vorbeiging, erinnerte der Anblick ihn ungefragt daran, wie sehr er sie vermisste. Jahrelang war Hannah seine Partnerin auf der Straße gewesen, sie hatten Münzen abgeknöpft, wo sie nur konnten und sich gegenseitig den Rücken freigehalten.
Doch mit der Rückkehr des Gründers hatte sich alles geändert.
Parker hatte ihn für nicht mehr als eine arcadianische Legende gehalten – jenes Genie, von den Göttern berufen, welches das Zeitalter des Wahnsinns beendet hatte, indem er Magie nach Irth brachte und Arcadia gründete. Außerdem hatte er – so jedenfalls der Wortlaut der Geschichte, wie Parker sie oftmals mitanhören musste – Reglementierungen eingeführt und vorgeschrieben, wer Magie nutzen durfte und wer nicht.
Es wurde prophezeit, dass der Gründer eines Tages zurückkehren und Arcadia im Namen der Matriarchin und des Patriarchen, Irths alten Göttern, in eine neue Ära des Friedens und Wohlstands führen würde, indem er jene Ungesetzlichen, die ohne offizielle Erlaubnis Magie praktizierten, vom Antlitz der Welt tilgte.
Hannah und Parker hatten das alles für Blödsinn gehalten, bis der Gründer tatsächlich aufgetaucht war und Hannah zu seiner Schülerin auserkoren hatte. Erst als Hannah mit ihm fortging, war Parker klargeworden, dass sie viel mehr war als nur die beste Komplizin, die sich ein Straßenkind wünschen konnte.
Sie war seine beste Freundin.
Das heruntergebrannte Gerippe von einem Haus brachte all diese Erinnerungen wieder an die Oberfläche … genau wie den Gedanken an Will.
Parker hatte immer gewusst, dass die Jäger zu den skrupellostesten Arschlöchern Arcadias gehören mussten, so oft wie sie Bürgerliche erpressten, unbewaffnete Ungesetzliche bei Sichtkontakt töteten und damit gegen die offizielle Regelung verstießen, illegale Magienutzer lediglich festzunehmen. Aber die Männer, die Hannahs Vater und William gefoltert hatten, waren der endgültige Beweis, dass die Führungsriege der Stadt einfach nur verabscheuungswürdig war.
Hannah, in ihrer frisch entfesselten Macht, hatte diesen Männern gegeben, was sie verdienten. Die Vorstellung, wie die Körper der Jäger von ihrem funkelnden Wirbelsturm in Stücke gerissen worden sein mussten, brachte ihn zum Grinsen. Es würde nicht von heute auf morgen kommen, aber Gerechtigkeit schien die Korrupten endlich einzuholen. Ob sie sich, von den Göttern gelenkt, auch im ganzen Land ausbreiten konnte?
Allein der Gedanke gab ihm Hoffnung.
Der Gründer – Ezekiel , wie er sich Parker gegenüber vorgestellt hatte – hatte ihm auch erklärt, dass die Matriarchin und der Patriarch tatsächlich real waren und dass die Magie, deren Nutzung Ezekiel in ihrem Namen auf ganz Irth verbreitet hatte, für das Wohl aller gedacht war und nicht nur für die wenigen Wohlhabenden im Kapitolviertel.
Sobald Hannah ihre Ausbildung abgeschlossen hatte, würden sie und Ezekiel die Zügel in die Hand nehmen und die erbärmlichen Lebenszustände der Menschen auf dem Queens Boulevard beenden.
Als Parker durch die rauen Straßen des Queen-Bitch-Boulevards lief, wie die Einheimischen ihn nannten, herrschte trotz der frühen Stunde schon reges Treiben.
Seit Hannah die Jäger im großen Stil in die Luft gesprengt hatte, bestand für die meisten Arcadianer die auffälligste Veränderung ihres alltäglichen Lebens darin, dass die Kapitolgardisten fortan jede Straßenecke bewachten, nach Hannah und generell allen Ungesetzlichen suchten und steinernen Blickes herummarschierten.
Parker verfluchte die nervigen Uniformaffen in Gedanken – hütete sich aber, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Leute im Viertel wussten, dass er und Hannah sich nahe standen und er wartete halbwegs auf den Tag, an dem ihn ein Nachbar für ein paar Münzen oder einen Krug Bier an die Gardisten verraten würde. Schließlich waren Hannah und Ezekiel jetzt Staatsfeinde Nummer Eins und Zwei.
In jener Nacht hatte sie Parker angefleht, mit ihnen im Turm zu bleiben, sich ihr und dem Gründer in ihrem Kampf anzuschließen. Aber so einfach war es nicht.
Ihre Familie war tot, nichts band sie mehr an Arcadia, aber Parker konnte sich nicht einfach auf und davon machen. Ohne ihn würde seine Mutter dem Elend anheimfallen – sie wäre gezwungen, ihr letztes Hemd, ihren Körper, ihre Seele zu verkaufen, um zu überleben. Nur über seine Leiche.
Parkers Schritte verlangsamten sich, als er an Hannahs Haus vorbei und um eine Ecke bog. Jedidiah war bereits dort. Seit Hannahs stürmischem Machtbeweis hatte der selbsternannte Prophet seine Predigten vom Kapitolgarten in die Ruinen ihres Hauses verlegt.
Die Stimme des alten Jed erhob sich über das Gebrabbel seines Publikums.
»Seht genau hin, Brüder und Schwestern. Dies ist das Ergebnis von ungesetzlich genutzter Magie. Es kann nichts Gutes dabei herauskommen, wenn man des Gesetzes derart abtrünnig wird. Wie schon die Matriarchin sagte: Meine Grenzen liegen an entzückenden Orten . Wisst ihr denn nicht, was das bedeutet? Die zügellose Verschwendung von Magie bringt uns den Untergang! Macht weiter, macht nur weiter, sprecht jene Zaubersprüche, geboren in den dunklen Hinterzimmern der Hinterlist! Damit werdet ihr die Pocken über euren Haushalt bringen. Über alle Familien!«
Die Menge murmelte beunruhigt und Parker wartete vergebens auf Zwischenrufer, die dem alten Jed widersprachen. Bisher war der Prophet vom Großteil der Arcadianer belächelt worden, doch dieser Vorfall mit Hannah hatte ihm zu neuer Glaubwürdigkeit verholfen und seine Anhängerschaft verdoppelt. Es ging doch nichts über eine Krise, um die Hasstiraden aufgeblasener Scharlatane populär zu machen.
Der alte Jed fuhr fort: »Seit Jahren, liebe Anhänger, habe ich versucht, euch zu belehren, euch zu warnen vor der Passivität. Ich habe gebetet und gepredigt, habe darum gebeten, dass ihr die Magie gemäß den vom Patriarchen und der Matriarchin gegebenen Grenzen gebraucht. Dass jene, die nicht in die Akademie aufgenommen werden, ihre bösartigen Triebe unterdrücken.
Aber nun weiß ich, dass das nicht ausreicht. Passivität wird am Ende unser Ruin sein! Es ist an der Zeit, uns gegen die Ungesetzlichen zu erheben und jene Perversion der magischen Künste, welche die Weltordnung durcheinander bringt, ein für alle Mal auszulöschen!«
Die Menge jubelte und der alte Jed strahlte unter seinem grauen Rauschebart.
Seine Zeit war gekommen und er wusste es.
Mit etwas gesenkter Stimme fuhr er fort. »Brüder und Schwestern! Der Kampf, der vor uns liegt, ist weder leicht noch gewiss. Ich schrecke auch nur bei dem Gedanken daran zurück, euch derart viel abzuverlangen. Aber dieser Kampf ist notwendig. Es ist an der Zeit, dass wir uns erheben gegen die Ungesetzlichen, die unser Leben gefährden. Zu lange haben wir die Wiederherstellung der Gerechtigkeit den Jägern des Rektors überlassen.
Es liegt an uns als Bürger – nein, als Kinder Arcadias – sie in diesem hehren Bestreben zu unterstützen! Die Zeit ist gekommen, dass wir uns der Matriarchin und dem Patriarchen als wahre Söhne und Töchter erweisen. Sie, die Götter, haben den Rektor zu ihrer Vertretung auf Irth bestimmt und er soll nicht straucheln. Denn was der Rektor befiehlt, das befehlen durch ihn die Götter!«
Erschreckenderweise brach die versammelte Menge in Jubel aus und in Parker kochte die Wut hoch, verbunden mit dem Verlangen, all diese Lügen als solche zu enttarnen. Wie leicht es ihnen allen fiel, mit dem Finger auf jene zu zeigen, die nicht in das Weltbild der Obrigkeit passten.
»Ein Angriff auf den Rektor und seine Truppen ist ein Angriff auf die Matriarchin und den Patriarchen.«
Der alte Jed streckte seine Arme in die Luft, vom kritiklosen Applaus wie gesegnet.
Etwas hatte sich verändert. Noch vor Wochen war der Mann ein Quälgeist mit einer Handvoll durchgeknallten Anhängern gewesen und jetzt war sein zwielichtiger Ruf gewissermaßen über Nacht in tugendhaften Märtyrerstatus umgewandelt worden?
Parker stahl sich davon. Er für seinen Teil kannte die Wahrheit, die sie alle durch Jedidiahs Lügen nicht erkennen konnten, aber er glaubte fest daran, dass Hannah bald alles in Ordnung bringen würde.
Entgegen dem Fußgängerstrom machte sich Parker auf zum Ivans Square, dem einzigen öffentlichen Park auf dem Queens Boulevard. Gewöhnlich wimmelte es hier von Betrunkenen oder von Müttern, die lobenswerterweise versuchten, ihren Kindern zum Spielen ausnahmsweise einmal einen Rasenplatz zu bieten.
Aber heute Morgen war der Park leer bis auf Eponine, ein im Viertel ziemlich bekanntes Kind und vier Erwachsene, die sie umkreisten wie Raubtiere. Das Mädchen war nicht älter als zehn und sah zu Tode erschrocken aus – ihr Gesicht weiß wie ein Laken.
»Wir wissen, was du bist«, zischte eine Frau namens Jezebel sie an. »Wir wissen, dass du eine Ungesetzliche bist, genau wie diese Hexe Hannah.«
Jez war nur ein paar Jahre älter als Parker, sie waren im Viertel zusammen aufgewachsen. Er hätte nie erwartet, dass sie zu einer fanatischen Anhängerin des Propheten mutierte, aber was war dieser Tage schon normal?
»Jetzt bleibt nur noch zu entscheiden, ob wir dich melden oder uns selbst um dich kümmern sollen. Die Jäger haben heute bestimmt schon genug am Hals.«
Das Mädchen sah sprachlos hoch zu den grausamen Gesichtern der Extremisten. Für einen Moment geboten Parkers Instinkte als Straßenjunge, einfach weiter zu gehen, sich um seinen eigenen Kram zu kümmern und sich aus Schwierigkeiten rauszuhalten.
Aber sein Gewissen überwand den Instinkt und so ging er auf Jedidiahs Jünger und das kleine Mädchen zu.
»Was zum Teufel ist hier los?«, knurrte er unversöhnlich.
Jezebels Augen stierten ihn so hirnlos an wie die eines Säufers im Rausch.
»Sorg dich mal schön um dich selbst, du Idiot. Wir machen hier nur die Arbeit aufrichtiger Arcadianer. Um Ungesetzliche wie die muss man sich kümmern.«
Parker warf einen Blick auf Eponine und nickte ihr zu in der Hoffnung, ihr Zuversicht zu schenken, die er selbst kaum empfand. »Zieh erst mal den verdammten Stock aus deinem Arsch, Jez. Sie ist nur ein Kind. Ihr wollt Ungesetzliche jagen, fein, aber dieses Mädchen gehört nicht dazu. Sie versucht nur, auf dem Queen-Bitch-Boulevard zu überleben, genau wie wir in ihrem Alter! Ihr macht alles nur noch schlimmer.«
Die anderen drei Jünger sahen sich gegenseitig an, dann hin und her zwischen Parker und Jezebel. Sie fühlte sich offensichtlich als ihre Rädelsführerin und suchte zornig nach Worten. »Natürlich versuchst du, unsere guten Taten zu vereiteln, Parker. Du und diese Hexenschlampe Hannah seid doch die dicksten Freunde, stimmt’s? Wir sollten dich festnehmen.«
Seine Augen funkelten herausfordernd. »Kannst es ja gern mal versuchen.«
Seit seinem Kampf in der Grube hatte sich herumgesprochen, dass mit Parker nicht zu spaßen war. Er allein hatte Wildman Hank zu Fall gebracht, den gewalttätigsten Kämpfer, den Arcadia seit Langem gehabt hatte. Jez würde einen Kampf nicht wagen und das wusste er.
Sie und die anderen Jünger wichen widerwillig zurück und wandten sich schließlich zum Gehen.
»Arschlöcher«, murmelte Parker, als er schließlich mit Eponine allein im Park war.
Die Kleine schaute zu ihm auf, ihre Augen verräterisch glänzend.
»Danke«, flüsterte sie zittrig.
»Du brauchst mir nicht zu danken, Kleine. Ist das Mindeste, was wir füreinander tun können. Diese Idioten sind eine Schande. Früher haben sich die Leute vom Boulevard gegenseitig den Rücken freigehalten, aber heute unterstützen sie lieber diejenigen, die uns ausbeuten. Hätte nie gedacht, dass unser Viertel noch tiefer sinken kann.« Er packte ihren Arm und drückte ihn leicht in dem unbeholfenen Versuch, sie ein wenig zu trösten. »Wo ist eigentlich Randy?«
Das Mädchen schaute zu Boden. Sie und ihr fünf Jahre älterer Bruder waren eigentlich unzertrennlich und man sah sie sonst nie allein.
»Arbeiten«, erklärte sie. »Hat ’ne neue Anstellung in der Fabrik. Wollte ’nen aufrichtigen Job anfangen und die haben gerade frisch eingestellt, also wurde er ausgewählt. Ich habe ihn seit Wochen nicht mehr gesehen, aber es landen regelmäßig Münzen per Post bei uns zu Hause, also geht’s ihm wohl ganz gut.«
Parker hatte ähnliche Gerüchte schon mal gehört. Anscheinend arbeitete man im Industriebezirk an etwas Großem und war bereit, dafür sogar Leute vom Boulevard einzustellen.
Das Ganze schien zu schön, um wahr zu sein, aber Parker brachte es nicht über sich, seine Bedenken mit Eponine zu teilen. Stattdessen zerzauste er ihr ganz im Großer-Bruder-Stil das Haar.
»Okay, Kleine. Halte die Augen offen und deine Füße in Bewegung. Wenn du etwas brauchst, während dein Bruder weg ist, kommst du zu mir, okay?«
Das Mädchen blinzelte mit ihren großen Rehaugen und lief davon, bis das geschäftige Treiben des Boulevards sie verschluckte.
Parker konnte nicht umhin, über Randys Arbeitssituation nachzugrübeln. Die Fabriken stellten nie Leute vom Boulevard ein, nicht einmal für die niedersten Arbeiten.
Etwas war im Gange – etwas Großes. Und er musste herausfinden, was.
* * *
Karl kletterte das letzte Stück nach Craigston hinauf, einer kleinen Bergbaustadt in den Heights. Auf dem ganzen Weg nach oben hatte er in Gedanken die Mystischen verflucht, wie jedes Mal, weil sie beim Bau der gewundenen Bergtreppe vor Jahrzehnten einen Scheiß auf die Körpergröße der Rearicks gegeben hatten. Ihnen half bei den steilen Pfaden vielleicht ihre Magie, aber Karl hatte keine solche Hilfe.
Gerade mal anderthalb Meter groß, verbrauchte er beim Aufstieg unnötige Energie, weil er sich die absurd großen Stufen hochquälen musste.
Seine Reise nach Arcadia war ereignislos verlaufen wie meistens.
Rearick-Händler, die Kristalle und Edelmetalle nach Arcadia transportierten, hatten ihn angeheuert, um sie und ihre Fracht vor Räubern oder anderen Kreaturen der Wildnis zu beschützen und diese Reisen waren oftmals geradezu ein Spaziergang.
Die Bezahlung war gut und mit Blick auf die langsam versiegenden Minen war es wahrscheinlich klüger, Wache zu spielen, als auf schimmernde Reichtümer zu setzen.
Karls erster Halt nach seiner Ankunft in Craigston war das Bergbauamt, wo er seinen Lohn abholte.
Walt schob ihm einen Haufen Münzen über den klebrigen Tresen entgegen und musterte ihn mit seinem einzelnen Auge. Er war größer als die meisten Rearicks, jedoch immer noch kleiner als die Tieflandbewohner, weshalb Karl sich insgeheim sicher war, dass Walt der uneheliche Sohn eines Rearick und einer Tieflandbewohnerin sein musste.
Karl sammelte die Münzen behäbig ein und nickte vor sich hin. Sein Lohn war ein wenig geringer ausgefallen als vereinbart, aber kaum Grund genug für einen Aufstand. Jeder wusste, dass die Bergbaugesellschaft die Leute ausnutzte, wo sie nur konnte und die Rearick hatten sich schon fast daran gewöhnt.
Karl war einer der begehrtesten Leibwächter – und das nicht nur, weil er seinen Hammer zu nutzen wusste. Er war auch klug und ein genügsamer Geschäftspartner.
Die Bezahlung war gut, die Arbeit im Allgemeinen leicht, doch führte sie ihn für seinen Geschmack immer viel zu weit von den Heights fort. Er sehnte sich danach, eine wohlverdiente Auszeit zu nehmen, mal ausnahmsweise die Füße hochzulegen und vielleicht sogar für eine Weile unter Tage zu gehen.
»Danke, jut, Walt«, sagte er. »Wie lange isset noch bis zur nächsten Fuhre?«
Der Mann hinter der Theke schob einen Finger unter seine Augenklappe und kratzte seine leere Augenhöhle. »Tatsächlich … so bald wie möglich, Rearick. Wenn du bereit bist, wollen sie morgen früh aufbrechen.«
»Scheiße , so früh schon?«
»Ja, Arcadia drängelt ganz schön, was Metalle und Amphoralde angeht. Zahlen mehr dafür als je zuvor, also haben wir die Produktion angekurbelt. Das ist unser Platz an der Sonne, mein kleiner Freund. Zeit, Kohle zu machen.«
Karl nickte bei der Erwähnung der Amphoralde, die jahrelang achtlos beiseitegeschoben worden waren in dem Bestreben, den reichen Arcadianern nur die kostbarsten und ansehnlichsten Gemmen zu beschaffen. Vor einigen Jahren hatte sich die Sache jedoch geändert. Die arcadianischen Zauberer hatten gelernt, magische Energie im Inneren der ehemals wertlosen Edelsteine zu speichern. Jetzt wollten sie nur noch Amphoralde haben.
»Keine Ruhe für die Rechtschaffenen, wat? So wollen’s die Götter. Die Queen Bitch wird misch für den Rest meiner Tage auf den Beinen halten.«
»Hör mal«, zischte Walt und spähte wenig vertrauenserregend nach rechts und links, »viele junge Rearicks würden die Minen gerne für immer verlassen und sich ’nen leichten Job suchen wie deinen, wo sie nur ab und zu mal mit dem Kriegshammer den starken Mann markieren müssen. Brauchst nur ein Wort zu sagen, dann habe ich deine Stelle neu besetzt mit jemandem, der nur halb so viel Geld verlangt wie du.«
»Pferdescheiße!«, knurrte Karl. »Niemand kann dat, wat isch mache.«
Er tätschelte den kalten Stahl seines Kriegshammers, der über seiner Schulter lag – er hatte bereits mehr als genug Blut vergossen. »Aber isch nehm’ den Job trotzdem an. Entweder Arbeit oder ’n frühes Grab im Suff.«
Walt schmunzelte. »Von wegen frühes Grab . Nach meiner Rechnung bist du schon längst überfällig. Wir entstammen dem Dreck und zu Dreck kehren wir alle irgendwann zurück. Niemand ist stark genug, dem zu entfliehen. Nicht einmal du, Karl.«
Der Rearick lächelte unbeeindruckt. »Wenn der Dreck bereit ist, misch aufzunehmen, werd’ isch ihn mit offenen Armen empfangen. Aber diese Zeit ist noch nischt jetzt. Isch brauch’ erstma ’ne Nacht, um mich auszuruhen. Allein der Jedanke, wieder die Scheiß-Bergtreppe runterzusteigen, macht mir ’nen Mordsdurst.«
Walt nickte. »Gut so, kleiner Mann.«
»Also, der Chef macht ’ne weitere Mine auf?«
Walt neigte seinen Kopf zur Seite. »Nein. Warum?«
Karl lachte. »Isch war zu oft selbst in dem sojenannten neuesten Schacht, um misch täuschen zu lassen, Walt. Die Ader is ziemlich verbraucht. Grabt ihr breiter oder tiefer, wird’s da unten janz schön jefährlich.«
Walt schüttelte den Kopf. »Wir können keinen Neuen aufmachen, nicht mit den aktuellen Bestellungen aus Arcadia – sie bieten sogar Prämien an, wenn wir ihnen die Mittel schnellstmöglich zur Verfügung stellen. Ein neuer Schacht würde uns zu viel Zeit kosten … die Mine wird halten. Wir haben schon viel tiefer und breiter gegraben.«
»Ja nee is klar«, sagte der Rearick gereizt, »aber auch in schmaleren und flacheren Mienen haben wir schon massenhaft gute Rearicks verloren. Der Boss weiß nischt, worauf er sisch da einlässt, Walt. Dat Risiko, ’nen Schacht zu verlieren, is keine Tiefland-Prämie wert und macht niemals mehr die verlorene Zeit und Arbeitskraft wieder wett.«
»Sonst noch was, Karl?« Der mörderische Ausdruck in Walts Auge kommunizierte unmissverständlich, dass das Gespräch hiermit beendet war.
»Nein, dat is ersma alles.« Er drehte sich zum Gehen, schaute aber nochmal über die Schulter zurück. »Walt. Wenn wat passiert, ist es die Schuld von dir und deinem Chef. Sieh zu, datte damit leben kannst.«
»Halte ihnen einfach die Straße sicher, Karl. Lass das Graben meine Sorge sein.«
Klar. Fällt ja fürchterlich leicht, andere für sich graben zu lassen, während man selbst seinen Arsch schön sicher über der Erde behält , dachte Karl, aber er ging ohne ein weiteres Wort.