H annah spürte, wie sich Ezekiel neben ihr auf der Sitzbank der Kutsche ein wenig entspannte, während sie das Tor passierten, doch da trat ein anderer Wachmann aus dem Schatten der Mauer und bedeutete ihnen, erneut anzuhalten.
Er und der Fahrer wechselten einige harsche Worte, die Hannah nicht verstehen konnte.
»Noch eine Kontrolle? Wenn dieser Kerl mich so beäugt wie der andere, reiße ich ihm den Kopf ab und schiebe ihm seine geliebten Ausweispapiere in den Arsch!«, prophezeite sie.
»Du gibst dir nicht gerade Mühe, dich wie eine Edeldame zu verhalten, oder?«
Ezekiel lächelte gequält. »Es werden heute keinerlei Papiere in irgendwelche Ärsche geschoben, meine liebe Tochter.« Er hob die Augenbrauen. »Sieh zu, dass du dich benimmst.«
»Ich verspreche nichts«, grummelte Hannah aufmüpfig. »Ich dachte, unser Adelsstatus würde uns ’ne schnelle Durchreise ermöglichen.«
Ezekiel steckte den Kopf aus dem Fenster und verfolgte, wie der Wachmann ihr Gepäck kontrollierte. »Tut er ja eigentlich auch, aber seit deinem kleinen Kraftbeweis auf dem Boulevard hat sich einiges verändert. Sie treffen wohl zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen.«
Der Wachmann, ein stämmiger Typ mit einem grobschlächtigen Gesicht, zog auf Ezekiels Seite die Kutschentür auf. »Aussteigen, alter Mann.«
Ezekiel versuchte es noch einmal mit der Empörungstour. »Das ist absurd! Ich war jahrelang nicht in unserer schönen Stadt, da komme ich zurück und mir wird ein solcher Empfang bereitet? Weißt du, wer ich bin, junger Mann?«
Er spielte seine Rolle wirklich gut, befand Hannah, die selbst ziemlich nervös war.
»Ist mir scheißegal, ob du die Queen Bitch höchstselbst bist!«, keifte der Wachmann zurück. »Ist nicht meine Aufgabe zu wissen wer du bist. Ich weiß nur, dass du hier neu bist und meine oberste Priorität ist Arcadia, nicht die Extrawurstbehandlung von irgendeinem reichen, alten Bastard.« Er runzelte angriffslustig die Stirn. »Du kannst entweder auf die leichte oder auf die harte Tour aussteigen. Du hast die Wahl.«
Hannah beobachtete Ezekiel nervös, auf der Suche nach irgendeiner Geste, die ihr verriet, wie er vorzugehen beabsichtigte.
Ihre Verkleidungen waren schließlich nur Illusionen … würden sie einer magischen Kontrolle standhalten? Sal ließ dem Mann sein schönstes Wolfsknurren zuteilwerden und der Wachmann musterte ihn kritisch, da stürmte ein anderer, viel größerer Uniformierter herbei.
»Was zum Teufel glaubst du, was du da tust, Schwachkopf?« Der Neuankömmling blickte entrüstet drein, er überragte den anderen um mindestens einen Kopf. »Wer hat dir erlaubt, die Adligen zu schikanieren? Bist du verrückt geworden oder was?«
»Sir, sie waren widerspenstig«, sagte der Wachmann kleinlaut. »Ich mache hier nur meine Arbeit.«
Der Vorgesetzte ballte seine rechte Hand zur Faust und Hannah erwartete halb, dass er dem anderen direkt ins Gesicht schlagen würde.
»Deine Aufgabe hier«, drohte der Ranghöhere, »ist es, meinem Befehl zu folgen. Und jetzt befehle ich dir, dich zu den Ställen zu begeben. Vielleicht bringt dich die Arbeit mit Pferdescheiße ja wieder zur Besinnung! Ich will dich hier zwei Tage lang nicht sehen, sonst wird dein Scheiß-Intermezzo zu deiner neuen Daueraufgabe. Ist das klar?«
Das Knautschgesicht schaute auf seine Füße. »Ja, Sir. Bitte um Entschuldigung, Sir.«
Er schlurfte davon und sein Boss schaute in den Wagen.
»Danke, guter Mann«, säuselte Ezekiel schmeichlerisch. »Ich bin so froh, dass es in Arcadia noch jemanden mit einem Funken Vernunft und Anstand gibt.«
»Tut mir sehr leid, mein Herr.« Der forsche Blick des Wachoffiziers glitt über Hannah und dann zurück zu Ezekiel. »Sie müssen trotzdem mit mir kommen. Mich störte Bruces Umgangston, aber er führte korrekte Befehle aus. Bitte sagen Sie ihrem Fahrer, er soll die Kutsche hier an der Seite abstellen. Es wird nicht lange dauern, Sie müssen in der Wachstation lediglich einige Papiere vorzeigen. Wenn Sie diese Stadt lieben, wie wir es tun, dann wird Ihnen das auch nichts ausmachen.«
Er drehte sich um und ging zu einer kleinen Hütte an der Seite des massiven Tors. Hannahs Magen zog sich unangenehm zusammen, ihre Magie brodelte angespannt unter ihrer Haut wie vor einem Kampf.
Wenn sie in den letzten Monaten eines aus ihrem Training gelernt hatte, dann war es, alle Emotionen, die ihr beim Zaubern im Wege standen, auszublenden und diejenigen zu kanalisieren, die ihr behilflich waren. Furcht und Wut gehörten zu ihren Favoriten, was das anging.
Sie befahl Sal, in der Kutsche zu bleiben und stieg dann hinter Ezekiel aus.
»Werden wir ihn ausschalten müssen?«, flüsterte sie ihrem Mentor zu.
»Geduld. Revolutionen werden Schritt für Schritt gewonnen, nicht in Kilometern. Dieser Wachmann wird kein Problem für uns sein. Das kann ich garantieren.«
Sie folgten ihm durch die enge Tür in das winzige Wachhäuschen. Der relativ leere Raum war nur mit einem Schreibtisch und ein paar Stühlen ausgestattet. Er sah aus, als würde er selten benutzt, und roch nach abgestandenem Zigarrenrauch.
Hannah spannte ihre Handgelenke an, bereit zur Verteidigung mit allem, was sie hatte. Ezekiel schloss die Tür hinter ihnen und der Wachmann zog die Jalousien der schmalen Fenster herunter.
»Deine Reisen haben dir offenkundig gutgetan, Ezekiel«, sagte er. »Du siehst um Jahre jünger aus.«
Ezekiel lächelte. »Ich wünschte, ich könnte dasselbe über dich sagen. Du siehst leider scheiße aus.«
Hannah starrte ihren Mentor mit großen Augen an, felsenfest davon überzeugt, er hätte jetzt endgültig den Verstand verloren, aber die grimmigen Gesichtszüge des Wachmannes entspannten sich und er lachte freimütig.
»Was zum Teufel geht hier vor?«, verlangte Hannah zu wissen, die vom einen zum anderen sah. Ezekiel trug eine Unschuldsmiene zur Schau.
»Habe ich es dir nicht gesagt? Ein alter Freund arbeitet hier.«
Sie musterte den uniformierten Grobian, dessen Augen plötzlich weiß aufleuchteten. Hannah konnte unmöglich sagen, ob es plötzlich geschah oder ob die Zeit kurz stillstand und die Verwandlung schrittweise passierte, aber bevor sie auch nur ein weiteres Wort sagen konnte, stand anstelle des Wachmannes vor ihr eine große, schöne Frau.
»Heilige Scheiße!«
»Sehr sprachgewandt. Bist du sicher, dass sie sich anpassen kann?«, fragte die Frau unter hochgezogenen Augenbrauen. Dabei war sie selbst augenscheinlich wenig älter als Hannah.
Ezekiel schmunzelte. »Sie lernt recht schnell.«
Die Frau erwiderte sein Lächeln. »Das ist gut, denn sie wird nicht viel Zeit haben.«
»Ähm … Danke?«, antwortete Hannah ein wenig bissig.
»Hannah«, mahnte Ezekiel gutmütig. »Das ist Julianne, die Meisterin der Mystischen.«
Sie nickte der Frau zu. Hadley hatte oft von ihr gesprochen, aber er hatte Hannah nicht sagen wollen, wo sie war – nur, dass sie gerade im Dienste der Menschheit unterwegs war.
Hannah hatte bei dieser schwammigen Beschreibung an das Füttern der Armen oder das Heilen von Kranken gedacht … nicht gerade daran, sich als Kapitolgardist zu verkleiden. Sie hatte zugegeben eher eine schrumpelige alte Hippie-Oma erwartet, als eine fast schon einschüchternde Gleichaltrige.
»Tja also wie kommt’s?«, fragte Hannah flapsig. »Was treibst du hier?«
»Das ist meine Schuld, fürchte ich«, antwortete Ezekiel galant. »Als ich vor einer Weile in die Heights reiste, wollte ich dort meinen ehemaligen Schüler Selah besuchen. Leider kam ich ein paar Jahre zu spät, aber ich war froh, seine Nachfolgerin Julianne kennenzulernen. Sie hat sich bereiterklärt, bei unserer Sache zu helfen.«
Julianne fläzte sich auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch und legte ihre Füße auf die zerkratzte Oberfläche. Aus einer Tasche auf dem Boden zog sie einen Weinschlauch hervor.
»Diese Art von Wiedersehen verlangt nach einem Getränk«, verkündete sie lächelnd. »Kommt und setzt euch zu mir. Ich habe noch eine Sechsstundenschicht vor mir, da muss man das Beste draus machen. Und je länger wir hier drin bleiben, desto mehr werden die anderen denken, dass ich euch in die Mangel nehme.«
Sie bot Hannah den Weinschlauch an, die gierig nach dem nur allzu bekannten Elixier griff und einen tiefen Schluck nahm. Es beruhigte ihre Nerven sofort.
»Danke.« Sie reichte den Weinschlauch Julianne zurück.
»Dein Mentor war an jenem Tag nicht unser einziger Gast«, erklärte sie. »Rektor Adrien hatte eine Gruppe Gardisten geschickt, um Informationen aus uns herauszubekommen. Ironischerweise wären wir seinen Plänen nie in die Quere gekommen, wenn er nicht diese Angreifer geschickt hätte, um sich von unserer Friedfertigkeit zu überzeugen. Sie zwangen uns, uns zu wehren. Was das Verschonen von Angreifern angeht, hat Ezekiel so ungefähr die Selbstbeherrschung einer fünfjährigen Mystischen.« Sie überdachte ihren Kommentar und fügte dann hinzu: »Oder irgendeines Kindes.«
Der Alte lachte. »Wenn ich Stellan nicht getötet hätte, hätte er mich getötet und wäre als Nächstes hinter dir und den Deinen her gewesen. Keine Meditation der Welt hätte ihn aufgehalten.«
Sie lächelte schmal. »Vielleicht hast du recht, Meistermagier, aber wir werden es wohl nie erfahren. Aufgrund von Ezekiels vorschnellem Handeln hielt ich es für notwendig, den Platz des Toten einzunehmen, damit der Rektor keinen Verdacht schöpfte und meine Brüder und Schwestern in Ruhe ließ. Es war nicht gerade ein angenehmer Zeitvertreib hier, so viel kann ich verraten.«
»Warte mal!«, warf Hannah ein. »Ich dachte, es sei Mystischen unmöglich, sich perfekt als ein anderer Mensch auszugeben … und auch noch für so lange Zeit?«
»Unmöglich für alle außer den Meistern«, erklärte Ezekiel. »Julianne ist nicht umsonst so früh eine solch große Verantwortung übertragen worden.«
»Ich weiß das Kompliment zu schätzen, aber viel wichtiger ist mir, dass ihr endlich zurückgekommen seid. Ich habe in der Zwischenzeit eine ganze Menge herausgefunden. Es ist noch schlimmer, als wir gedacht hatten.«
»Adriens großer Plan«, sinnierte Ezekiel. »Er lässt eine Maschine bauen, richtig?«
Julianne nickte. »Das ganze Projekt wird von allen Seiten vertuscht und in Schweigen gehüllt. Sogar in meiner Position konnte ich nicht an alle Informationen gelangen. Doch ich weiß so viel: Es ist nicht nur eine Maschine, sondern ganz sicher eine Waffe.«
Ezekiel nickte ernst. Die Heiterkeit ihres Wiedersehens war verschwunden.
»Ja, mein alter Schüler sprach von einem Plan, der ganz Irth umfasse. Und die enormen Amphoraldlieferungen sind nicht gerade für einfache Magitech gedacht, nicht wahr?«
Julianne schüttelte den Kopf. »Die Ladungen kommen hier am Tor durch und wir sollen sie direkt in die Fabrik schicken. Nur die Rearicks werden ohne lange Befragungen reingelassen. Was auch immer mit all diesen Amphoralden gebaut wird, es ist sicherlich nicht dazu bestimmt, den Weltfrieden zu fördern.«
»Wenn es Adriens Projekt ist«, warf Hannah ein, »dann ist es bestimmt grausam.«
»Nun«, sagte Ezekiel, »das ist eines der ersten Dinge, die wir herausfinden müssen, wenn wir dich in die Akademie eingeschleust haben. Denkst du, du kannst mit ein bisschen Spionage umgehen?«
Hannah sah ihn böse an. »Vergiss nicht, dass ich ’n Straßenkind bin, seit ich denken kann. Menschen zu bescheißen hab ich mit der Muttermilch aufgesogen, klar? Jetzt, mit Magie auf meiner Seite, werden Adrien und seine Schergen mich nicht mal kommen sehen.«
* * *
Die Kutsche schlängelte sich weiter durch die gewundenen Straßen Arcadias und hielt den Fußgängerverkehr gehörig auf. Trotz aller Probleme strömten die Städter nach wie vor auf den Markt, vielleicht auf der Suche nach einer Spur Normalität. Hannah fragte sich, wie schlimm es wohl anderswo auf der Welt war. Sie war jetzt schon mehr gereist als die meisten Leute, die auf dem Boulevard geboren wurden und doch war ihr Horizont noch so klein.
Der Fahrer manövrierte sie mit Geschick durch das Gedränge in Richtung Adelsviertel.
Viele lumpenbekleidete Menschen nahmen rasch Reißaus, als sie die Kutsche entdeckten, schließlich galt die Regel, dass ein verärgerter Adeliger mehr Schaden anrichten konnte als ein völlig unschuldiger Boulevardbewohner, der ihm aus Versehen in die Quere gekommen war. Es fühlte sich für Hannah absolut falsch an, nun am anderen Ende dieser Regel zu stehen.
In all ihren Jahren auf den Straßen Arcadias hatte sie nicht einmal erwartet, wie ein Mensch behandelt zu werden, geschweige denn wie ein Adliger. Und nun sah sie auch das Adelsviertel mit anderen Augen.
Sie hielt Ausschau nach Parker, konnte ihn aber nirgends entdecken, was sie nicht sonderlich überraschte. Sicher zog er grade irgendeine Nummer mit einem unwissenden Händler ab. Aber sie hatte keine Zeit für Nostalgie – es galt, hier eine Revolution zu beginnen. Sie verdrängte also Parker aus ihrem Kopf und erschreckte sich ein wenig, als die Kutsche abrupt vor einer prachtvollen, allerdings offenkundig verlassenen Villa zum Stehen kam.
»Das ist es?«
»Ja«, bestätigte Ezekiel. »Das ist unser neues Zuhause.«
»Wem gehört es?«, fragte Hannah skeptisch.
»Nun, mir natürlich!« Ezekiel lachte. »Lord Girard hat dieses Anwesen praktischerweise nie verkauft, obwohl er es überhaupt nicht nutzte. Die Adligen sind sich ihrer vielen Privilegien oft nicht bewusst und ihre Arroganz nimmt anderen den Lebensraum weg. Nun ja, vorerst benutzen wir es nun als Hauptquartier.«
Als sie sich der Haustür näherten, stellten sie ernüchtert fest, dass das Haus nicht ganz so edel war, wie es von außen den Anschein hatte. Die Entfernung der langen, von Bäumen gesäumten Einfahrt verlieh ihm ein wenig Anmut, aber jetzt, da sie vor der Haustür standen, sah man ihm deutlich die jahrelange Vernachlässigung an. Ezekiel klopfte mit dem Ende seines Stabes an die Tür und wartete.
»Vielleicht ist niemand da«, merkte Hannah an.
»Oh doch, sie sind hier«, murmelte er. »Ich kann sie fühlen.«
Er klopfte erneut gegen die Tür und wartete noch ein paar Minuten. Dann hob er zwei Finger und zeigte auf das Schloss. Er wandte sein Handgelenk nach rechts und bewegte seine Finger wie einen Schlüssel im Loch. Hannah hörte, wie das Schloss aufschnappte, und sie drückte die Tür auf.
»Nach dir, Z… Vater.«
Ezekiel, der immer noch ganz wie der Edelmann aussah, trat über die Schwelle. Hannah folgte ihm. Sie gingen durch das schmale Foyer und traten in das weitläufige Wohnzimmer. Die gewölbte Decke warf die Echos von lautem Schnarchen wider, das von zwei Menschen stammte, die hier schliefen.
Eine davon war eine Frau, die noch immer ihr Nachthemd trug, obwohl die Mittagszeit längst vorüber war. Sie lag auf dem edlen, in die Jahre gekommenen Sofa und hatte auf dem Schoß einen Teller mit Schokolade, der nur darauf wartete, bei einem besonders starken Schnarchen herunter zu purzeln. Gegenüber saß ein Mann – ebenfalls im Nachthemd – auf einem Lehnstuhl, der anscheinend mitten im Lesen eines Wälzers eingenickt war.
»Was zum Teufel macht ihr da, ihr nichtsnutzigen Diener?«, brüllte Ezekiel, woraufhin die beiden mit weit aufgerissenen Augen hochfuhren. Der Mann starrte den Herrn des Hauses zu Tode verängstigt an, sein Mund zitterte so heftig, dass er kein Wort herausbrachte. Zu seinem Glück erholte sich die Frau schneller von dem Schock.
»Ah, mein Gebieter, willkommen zurück in Arcadia«, sagte sie mit einem erzwungenen Lächeln. »Ich muss sagen, Ihr Besuch kommt ziemlich unerwartet.«
Ezekiel sah sich in dem heruntergekommenen Raum um. »Tja, welch Überraschung für uns beide! Und was zum Teufel habt ihr beide mit meinem Haus angestellt? Habe ich euch nicht bezahlt, damit ihr hier für Ordnung sorgt?«
»Oh, richtig. Das hier.« Die Frau deutete fahrig auf die Spinnenweben, den Staub und die zerfetzten Wandteppiche. »Oh … Wir hatten, ähm, eine Krankheit, die das ganze Nobelviertel erwischt hat. Charles und ich, wir hatten es sehr schwer. Normalerweise sieht es hier tippitoppi aus.«
»Tippitoppi«, wiederholte der Mann, der immer noch schläfrig blinzelte.
Die Frau kam ächzend auf die Beine. »Aber nun, da Sie zu Hause sind, mein Herr, werde ich mich sofort an die Arbeit machen. Krankheit hin oder her, ich werde dafür sorgen, dass Sie das ordentlichste Anwesen in ganz Irth haben.«
»Ja, in ganz Irth«, echote Charles dümmlich.
»Es gibt ein altes Sprichwort, Margaret. Einen Dummschwätzer kann man nicht verarschen.« Ezekiel verengte drohend die Augen und Hannah konnte sich kaum das Lachen verkneifen, schließlich waren sie doch hier diejenigen, die sich unter falschem Namen einschlichen.
Die Diener sahen sich gegenseitig hilflos an und dann wieder zu der Person, die sie für ihren Herrn hielten. Beide lachten nervös. »Natürlich kann man das nicht«, sagte Margaret. »Und Dummschwätzer kommen in dieses Haus auch gar nicht erst rein.«
»Das ist richtig, keine Dummschwätzerei hier.« Der Mann errötete, weil er wohl merkte, dass er sich wie ein Papagei benahm.
»Gut, dann haben wir ja eine Abmachung. Wenn ihr wisst, was gut für euch ist, werdet ihr so schnell ihr könnt das Haus verlassen und niemals zurückkehren. Andernfalls muss ich leider dafür sorgen, dass diese mysteriöse Krankheit nicht das Schlimmste sein wird, was ihr je erlebt haben werdet.«
Die Frau stotterte ängstlich. »Aber … aber … aber … Sir, bitte haben Sie Erbarmen mit Ihren bescheidenen Dienern. Sie waren immer so großzügig zu uns. Wenn wir nur eine Chance hätten, um …«
»Du wirst aus meinem Haus verschwinden, und zwar SOFORT!«, brüllte Ezekiel. »Ihr werdet niemandem irgendetwas davon erzählen. Wenn ihr es doch tut, werde ich euch im Namen der Matriarchin verdammt noch mal eure fleckigen Zungen rausreißen!«
Die Bediensteten tippelten aufgewühlt wie Kakerlaken davon und rannten mit wehenden Nachthemden die lange Auffahrt herunter.
»Lief doch ganz gut«, befand Hannah mit einem Grinsen. »Sehr unauffällig. Die werden ganz sicher niemandem was erzählen.«
Sie ging in dem Zimmer umher und ließ ihre Finger über die abgenutzten, staubbedeckten Sessel schweifen, die einst prächtig und farbenfroh ausgesehen haben mussten.
»Was für ’ne Scheiße.«
Ezekiel runzelte tadelnd die Stirn. »Nichts, was eine kleine Putzeinheit nicht beheben könnte.«
Hannah verdrehte die Augen. »Nicht das. Ich habe mein ganzes Leben lang mit meinem Bruder und meinem Alkoholiker-Vater in einer Drei-Zimmer-Wohnung gelebt. Alle, die ich kenne, leben auf so engem Raum. Dann gibt es Häuser wie dieses, die einfach leer stehen, wo sich klapprige, faule Bedienstete ’nen Lenz machen.«
Ezekiel sah ernst drein. »Das sollte nicht passieren, da hast du recht. Wir haben damals so viel Zeit damit verbracht, zu entwerfen und zu träumen und zu planen, aber wir konnten Adriens Verrat nicht mit einplanen. Er wird dafür bezahlen.«
»Aber es ist nicht nur er. Klar hasse ich den Kerl, aber es braucht mehr als einen Mann, um ein so korruptes System so lange am Leben zu erhalten. Die Adligen sind genauso schlimm.«
»Ja«, gab Ezekiel zu. »Aber man hat sie gelehrt, dass dies die natürliche Weltordnung ist. In vielerlei Hinsicht sind sie fehlgeleitete Kinder.«
Hannah schmollte unverhohlen. »Aww. Die süßen kleinen Adligen sind wirklich arm dran.«
»Irgendwie schon. Ihre Unwissenheit ist der Grund, warum sie Adriens System unterstützen und nicht eigener Machtdurst. Im Moment folgen sie unreflektiert Adrien, aber wenn ihnen jemand einen anderen Weg aufzeigen würde …?«
»Jemand wie du zum Beispiel«, sagte Hannah schnippisch.
»Vielmehr jemand wie du «, konterte Ezekiel und ging in den nächsten Raum, bevor sie ihre Überraschung verbergen konnte.
Sie lief ihm nach. »Was meinst du damit?«
»Es wird immer einige geben, die reicher sind als andere, Hannah. Soweit ich das beurteilen kann, ist die Welt schon immer so gewesen. Es ist wie mit der Magie: Einige können das Aetherische anzapfen und andere leben und sterben, ohne sich jemals der Macht in ihrem Inneren bewusst zu werden. Aber das Problem ist nicht, dass einige wenige über Reichtum oder Macht verfügen. Das Problem ist, wie sie diese Macht nutzen.
Der Adel verfügt vielleicht über ausschöpfende Ressourcen, aber arme Leute wissen damit am besten umzugehen und könnten es ihnen zeigen. Wenn Reiche und Arme, Magieanwender und Magielose, vereint und nicht in Abgrenzung voneinander lebten, dann könnte es wahren Frieden geben. Deshalb sind wir hier.
Ich möchte, dass du den Adelsstand infiltrierst und etwas über Adriens Pläne in Erfahrung bringst, aber ich glaube wirklich, dass wir dabei einige Verbündete finden könnten. Wenn es uns gelingt, den Boulevard und die Adligen zur Zusammenarbeit zu bewegen, wird es ein Kinderspiel sein, Adrien auszuschalten.«
Ezekiel hob eine Vase mit verwelkten Blumen hoch. »Aber in der Zwischenzeit müssen wir neue Diener einstellen.«
Hannah schaute ihn belustigt an. Ihre Tarnung würde nur begrenzt standhalten und es war ja nicht gerade so, als ob sie in dieser Villa bleiben würden, wenn ihr Plan das nächste Stadium erreichte – oder wenn er haushoch scheiterte. »Wozu brauchen wir bitteschön Diener?«
»Unsere Mission«, sagte Ezekiel. »Die mystischen Künste können nur begrenzt den Schein für uns wahren. Wir müssen unsere Rollen auch ein wenig … pragmatischer spielen.«
»Dann brauchen wir Diener und vielleicht sogar einen weiteren Kutscher«, befand Hannah mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Jetzt klingst du wie eine Adlige«, kicherte Ezekiel.
»Wenn das so ist«, sagte Hannah, »ich kenne einige Leute – gute Leute – die für uns arbeiten können. Sie sind vom Boulevard, was bedeutet, dass sie die Arbeit gebrauchen können, aber es bedeutet auch, dass sie vertrauenswürdig sind, im Gegensatz zu den Dienern gerade.«
Ezekiel sah sich in dem verwahrlosten Haus um. Sie würden erhebliche Hilfe brauchen, um es auf Vordermann zu bringen.
Bevor er antworten konnte, sprang Sal, der fleißig herumgeschnüffelt hatte, in die Luft. Zwei lederne Flügel durchbrachen seinen Pelzmantel und er flog ein paar Runden unter der hohen Decke. Der Rest der Illusion bröckelte dahin, bis er wieder ganz der Alte war.
»Lass uns fürs Erste klein anfangen. Warum gibst du mir nicht den Namen von jemandem, dem du uneingeschränkt vertraust – und der nicht direkt ausflippt, wenn er einen Drachen durchs Haus stromern sieht. Und dann, glaube ich, würde ich noch gerne eine Frau einstellen, die weniger Dienerin als vielmehr deine Zofe sein wird.« Er zwinkerte geheimnistuerisch.
Zuerst war Hannah verwirrt. Sie fragte sich, wer diese Dame wohl sein könnte, dann dämmerte es ihr. »Selbstverständlich wird die Dame des Hauses eine Zofe brauchen.«
Ezekiel lachte. »Ich glaube, du hast endlich den Dreh raus bei dieser Adelsscharade. Du wirst deine Sache gut machen, aber nun solltest du dich an die Vorbereitungen machen.«
»Vorbereitungen?«
»Ja«, antwortete Ezekiel gedehnt, »Vorbereitungen auf dein Bewerbungsgespräch für die Aufnahmeprüfung der Akademie.«
»Ohhh … Scheiße.«