D er Prüfungsraum, den Hannah betrat, war so ziemlich der größte Raum, den sie jemals gesehen hatte – sogar noch größer als die Halle des verlassenen Hochhauses, in dem Ezekiel sie unterrichtet hatte. Außerdem war dieser Saal bis auf ein paar schmale Tische komplett leer, was den Effekt nur verstärkte.
Sie nahm an dem leeren Holztisch Platz, gegenüber der lächerlich langen Holztafel, an der drei Personen saßen … vermutlich die Prüfer.
Diese Leute waren Dozenten, Fakultätsmitglieder und damit so gut wie geadelt – kein Wunder also, dass Hannah sie in ihrem Leben noch nie gesehen hatte.
In der Mitte thronte der Hauptprüfer August, ein stattlicher Mann um die fünfzig, der seit sie den Raum betreten hatte unablässig lächelte und sich freundlich als der Lehrer des dritten und vierten Jahrgangs vorstellte.
Die Frau neben ihm wirkte hingegen kalt und abschätzig. Das Muttermal auf ihrer Wange wippte ein wenig, als sie eintönig ihren Namen nannte.
»Charlotte.«
Wie sie erklärte, lag ihr Spezialgebiet in der Theorie und Geschichte der Magie. Noch während sie monoton ausführte, wie sie den richtigen Gebrauch von Magie zu analysieren pflegte, wurde Hannah angesichts dieses theoretischen Gelabers sterbenslangweilig.
Charlotte hatte das Buch über die Geschichte der Magie förmlich eigenhändig verfasst, ihre stark einseitigen Schriften glichen den Parolen des Propheten und waren die pseudowissenschaftliche Grundlage von Adriens Propaganda. Diese von Grund auf falsche Historie passte gut zu ihrem vermeintlich richtigen Gebrauch der Magie . Ezekiel hätte mit den Studenten in so einem Kurs sicher über die ethnische Vertretbarkeit von magischem Eingreifen in Naturphänomene debattiert, Charlotte hingegen nutzte den Kursrahmen, um die Studenten einer Gehirnwäsche zu unterziehen und sie zu überzeugen, die Ungesetzlichen nähmen ihnen die Magieressourcen weg.
Zuletzt stellte sich Nikola vor, um den sich die Legende rankte, dass er derjenige gewesen war, der entdeckt hatte, wie unbelebte Objekte mit Magie durchtränkt werden konnten. Laut Charlottes Geschichtsbuch war dieser Grundstein auf dem Weg zu Magitech allerdings ausschließlich Adrien zu verdanken, doch falls dies eine Lüge war, hatte Nikola nie einen Versuch unternommen, sie richtigzustellen.
Er war hager und groß, sein Gesicht kränklich weiß und er trug einen perfekt gepflegten Schnurrbart.
»Willkommen, Miss …« August hielt inne, das freundliche Lächeln immer noch auf den Lippen.
»Deborah. Ich bin Deborah, Tochter von Lord Girard.«
»Ich hörte, dass Girard zurückgekehrt ist«, sagte Charlotte so ausdruckslos, dass Hannah rätselte, ob sie angesichts dieser Neuigkeiten begeistert war oder ob sie Girard ermorden wollte.
Die Dozenten tauschten einige vielsagende Blicke.
Hannah wusste, dass der echte Girard der letzte Dreckskerl gewesen war und sein Tod durch Ezekiels Magie seine Untergebenen befreit hatte. Aber vielleicht verschaffte Girard ja gerade die Tatsache, dass er nicht davor zurückschreckte, Arbeitssklaven zu halten, in den Augen dieser Adligen Respekt?
Nikola streckte einen knochendürren Finger in die Luft, als wolle er den Wind testen.
»Wir beabsichtigen nun, deine magische Begabung zu testen. Wie du vielleicht weißt, ist Magie in Arcadia zum Wohle aller streng reguliert und niemand darf sie ausüben, der nicht an der Akademie studiert hat. Dennoch müssen wir … eine Kleinigkeit von dir sehen, um beurteilen zu können, ob genug Potenzial vorhanden ist.«
Sein Schnurrbart wippte bei jedem seiner Worte und Hannah biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu lachen. Wenn ihr nur wüsstet , dachte sie.
Doch sie blieb in ihrer Rolle und räusperte sich kleinlaut. »Natürlich hat mein Vater mir einige Tricks beigebracht …«
»Magie«, warf Charlotte ein.
Hannah wand sich ein wenig auf ihrem Stuhl, um Nervosität vorzutäuschen.
»Natürlich, Entschuldigung. Mein Vater hat mir etwas Magie beigebracht. Nicht viel, aber ein paar Tricks eben.«
Charlotte zog affektiert ihre Augenbrauen hoch. »Kinder machen Tricks, Deborah. Wir nutzen Magie. Das ist eine ernste Angelegenheit, die du als solche anerkennen musst, wenn wir dich für die Akademie auch nur in Betracht ziehen sollen.«
Hannah hätte ihr so liebend gern mit einem netten, kleinen Feuerball die steinerne Miene aus dem Gesicht gewischt, aber sie steckte ihre Hände unter ihre Beine. Bis jetzt hatte sie genau den Eindruck gemacht, den sie erzielen wollte: Tochter eines adeligen Drecksacks, ein klein wenig in Magie erfahren und absolut unwissend über Arcadias Kultur, Traditionen und Unterdrückung.
August, der wohl den Frieden wahren wollte, meldete sich zu Wort.
»Nun gut. Sollen wir anfangen?« Ohne großartig auf Antwort zu warten, zog er eine Münze aus seinem Portemonnaie, warf sie in die Luft und ließ sie über seiner ausgestreckten Handfläche schweben.
»Cool«, gurrte Hannah in dem Versuch, so naiv wie möglich zu klingen.
Augusts Lächeln wurde noch breiter, offensichtlich war er hocherfreut darüber, die junge Bewerberin mit seinem kleinen Münztrick beeindruckt zu haben. Er bewegte abwechselnd einen Finger, sodass die Münze vor seiner Nase hin und her tanzte. Hannah quietschte vergnügt.
Und dann brachte August einen Trick, den sie selbst innerhalb ihrer ersten Übungswoche im Wolkenkratzer gemeistert hatte. Er legte seine Hände aneinander und zog sie dann wieder auseinander, sodass die Münze zu einer runden Metallkugel heranwuchs, bis sie die Größe seines runden Gesichts hatte. Er schnippte mit den Fingern und der Ball zischte durch die Luft und landete krachend vor ihr auf dem Boden.
»Kannst du diese Kugel anheben?«, fragte er.
Scheißt ein Rearick in den Wald? , dachte sie. Ezekiel hatte sie aber gewarnt, sich zurückzuhalten und nichts Beeindruckendes zu tun.
»Die Kugel?«, echote sie und zeigte darauf. »Sieht schwer aus.«
Nikola beugte sich vor. »Alles gut. Wir haben alle mal klein angefangen. Probiere es einfach aus.« Er lächelte, aber Hannah konnte nur auf seinen perfekt getrimmten Schnurrbart achten.
»Okay. Dann versuch ich’s. Ihr benutzt doch alle eure Hände, oder?«
Die Fakultätsmitglieder tauschten wieder vielsagende Blicke aus. Hannah hatte sie genau da, wo sie sie haben wollte.
Hannah verzerrte ihre Hände zu unbeholfenen, zackigen Bewegungen und kniff ihre Augen zu. Nach einer Weile sackte sie in gespielter Erschöpfung auf dem Stuhl zusammen.
»Komm schon!«, schrie sie die Kugel an.
Sie blickte hoch zur Jury, die nur allzu vertraute Blicke der Enttäuschung zur Schau trugen. Selbst Augusts Lächeln hatte sich verflüchtigt.
»Können … Können Sie mir noch einen Versuch geben? Vielleicht etwas anderes?«
Die drei Professoren kritzelten etwas auf ihre Pergamentrollen und Hannah rätselte, wie weit sie die List treiben konnte und wie viel Magie genug war, um aufgenommen zu werden. Gleichzeitig wusste sie ja, dass es hier eher darauf ankam, wer man war, als darauf, was man konnte.
Magie existierte in allen Menschen, darüber hatte Ezekiel sie aufgeklärt. Solange jemand diese Kraft in seinem Blut nutzen konnte, ohne davon verzehrt zu werden, konnte diese Person auch in Magie unterrichtet werden. Nur kam das hier für Bürgerliche gar nicht erst infrage. Die wurden einfach als Ungesetzliche abgestempelt.
»Wie wäre es denn, wenn ich die Kugel rolle?«, fragte Hannah mit großen Augen.
August nickte gutmütig, das Lächeln kehrte auf sein Gesicht zurück. »Das wäre ein guter Anfang. Keine Sorge. Es ist, wie Nikola sagte: Wir fangen alle klein an. Sei nicht nervös, blende das aus.«
Hannah wischte sich imaginären Schweiß von der Stirn und lachte nervös, während sie sich wieder der Kugel zuwandte.
Sie stand auf und streckte ihre Hand aus, als würde sie ihr Handgelenk ausschütteln wollen. Die Dozenten hatten sie mittlerweile fast abgeschrieben und erwarteten nicht, dass sie die Kugel weiter als ein paar Zentimeter bewegen würde, doch sie staunten nicht schlecht, als das Metallobjekt unter Hannahs Anleitung auf dem Steinboden eine volle Umdrehung hinlegte.
Hannah ließ sich erneut auf ihren Stuhl zurückfallen und seufzte mit gespielter Erschöpfung. »Ich hab’s geschafft! Sehen Sie?«
Die Fakultätsmitglieder beugten sich zueinander hin und tuschelten, wobei August heftig mit den Händen gestikulierte und Charlotte wie ein kaputtes Scharnier immer wieder den Kopf schüttelte. War Hannah nun doch zu weit gegangen?
»Wir müssen uns beraten«, befand Charlotte eisig. »Aber ich sage dir gleich, junge Dame, ich bin mir nicht sicher, ob du für die Akademie geeignet bist. Wir Jurymitglieder mögen uns untereinander noch nicht einig sein, doch du solltest meinen Standpunkt kennen, bevor wir dich fortschicken.«
Hannah fuhr sich dramatisch mit der Hand über den Mund. »Aber … das ist alles, wovon ich seit Jahren geträumt habe! Und jetzt nehmen Sie mir das weg? Ich habe mich so angestrengt!«
»Es geht nicht nur darum, sich anzustrengen. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die richtigen Leute hier Magie lernen. Ich bin nicht davon überzeugt, dass du dafür geeignet bist. Ich habe dreckige Kinder vom Boulevard schon bessere Arbeit leisten sehen und du hast dein ganzes Leben lang nichts anderes zu tun gehabt, als im Wald zu spielen und deine kleinen ›Tricks‹ zu üben.« Charlotte machte mit ihren hageren Fingern Gänsefüßchen in der Luft und funkelte sie abschätzig an.
Bis hierhin hatte Hannah nur ihre Rolle gespielt und ihren Spaß gehabt. Aber jetzt, wo Charlotte ihre Leute vom Queens Boulevard mit reinzog, wurde sie richtig sauer.
»Stimmt das? Ich bin nicht besser als der Abschaum?« Hannah verengte ihre Augen. »Ich bin genauso schlimm wie der Abschaum?«
Charlotte stand mit einem Quietschen ihres Stuhls auf.
»Nein. Hättest du genau zugehört, wüsstest du, dass ich gesagt habe, du seist schlimmer als der Abschaum vom Queen-Bitch-Boulevard.«
Ihre Stimme hallte mit fataler Unnachgiebigkeit durch den Raum und sie spitzte süffisant die Lippen in dem Glauben, das reiche, privilegierte Mädchen, das vor ihr saß, gebrochen zu haben.
Hannah erhob sich ebenfalls. »Ich dachte, die Frauen aus dem Nobelviertel wären ein wenig feiner als das.«
Sie schloss ihre Augen, damit die Dozenten nicht sehen konnten, dass sie rot aufblitzen. Ihre Emotionen hatten Überhand gewonnen und Hannah sah ein, dass sie die Vorsicht jetzt an den Nagel hängen musste, wenn sie noch einen Studienplatz bekommen wollte.
Sie hatte es mit Ezekiels Strategie versucht, jetzt war sie an der Reihe.
Mit einer leichten Drehung des Handgelenks ließ sie die Metallkugel erst an die Decke und dann wieder auf den Boden schießen, wo sie sie so schnell zum Drehen brachte, dass ein scharrendes Geräusch auf dem Steinboden entstand.
Hannah faltete ihr Hände zusammen und riss dann ihre Arme weit auseinander, wobei die Kugel in tausend Stücke zerschellte – die Splitter flogen langsam, wie schwerelos durch die Luft und die Dozenten hielten sich die Arme vors Gesicht in der Angst, getroffen zu werden. Doch da ging Hannah noch einen Schritt weiter, drehte elegant ihre Hände und verwandelte jeden einzelnen Metallsplitter in einen glänzenden Schmetterling, sodass ein ganzer Schwarm von ihnen durch die Luft kreiste.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, klatschten August und Nikola begeistert in die Hände.
»Großartig!«, rief August aus. »Ich weiß nicht, wann ich zuletzt so etwas gesehen habe.«
»Das«, zischte Charlotte eisig, »liegt daran, dass wir hier Magie nicht auf so leichtfertige Weise einsetzen, egal wie beeindruckend das resultierende Kunststück sein mag.«
Die Männer ignorierten ihre Missbilligung weitgehend und klatschen weiter, sodass Hannah sich eine kleine Verbeugung gestattete.
»Entschuldigung. Vielleicht hätte ich das gleich zu Beginn tun sollen. Aber ich wollte auf gar keinen Fall angeben. Mein Vater sagt, das mag man in Arcadia nicht.«
Charlotte stand pointiert auf und verließ auf ihren trippelnden Stöckelschuhen den Raum.
»Mach dir keine Sorgen wegen Charlotte. Ich kann hiermit bestätigen, dass du definitiv an der Akademie aufgenommen bist«, beteuerte Nikola lächelnd. »Wenn du dein Gepäck schon dabei hast, werden wir dir jemanden schicken, der dich ins Wohnheim begleitet.«
»Ja, ich habe alles dabei!«, sagte Hannah strahlend. »Mein Vater war ziemlich zuversichtlich, dass ich die Prüfung bestehen würde, also ließ er mich schon mal packen. Es steht alles da draußen auf dem Flur.«
»Sehr gut«, lobte August und ordnete einige Pergamente. »Du musst zur Gedenkhalle. Weißt du, wo das ist?«
Hannah schüttelte den Kopf, dass ihre Löckchen flogen. »Nein, aber ich kann es herausfinden. Vielleicht folge ich einfach meinen Schmetterlingen.«
Die beiden Männer lachten wieder und schüttelten die Köpfe, als hätten sie noch nie etwas Witzigeres gehört. Hannah atmete tief durch und kam nicht umhin, sich zu fragen, was zum Teufel sie sich da eingebrockt hatte.
* * *
Als Hannah den Hof in Richtung der Wohnheime überquerte, kam sie an einer Gruppe von Jungs vorbei, die im Schneidersitz im Gras saßen und die ungewöhnlich sommerlichen Temperaturen genossen. Sie musterte sie von oben bis unten wie ein Krieger seinen Feind. In die Akademie zu kommen war nur die halbe Miete.
Sie brauchte Informationen und dafür musste sie wiederum Freunde finden.
Dabei hatte sie keine Ahnung, wie das ging. Ihre Freunde vom Boulevard kannte sie praktisch seit ihrer Geburt und das Leben auf der Straße hatte sie weiter zusammengeschweißt. Dann war da noch Sal, aber verzogene Adelssprösslinge waren vermutlich schwierigere Gesprächspartner als ein Drache.
Im Vorbeigehen konnte sie förmlich die neugierigen Blicke auf sich kleben spüren. Sie hielt ihren Blick starr auf das Gras gerichtet und ging weiter in der Hoffnung, einem Pläuschchen entgehen zu können. Sie war noch nicht bereit für diesen Krieg.
»Hey, Rotschopf!«, rief einer der Jungs. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Hannah klar wurde, dass sie gemeint war.
Sie ging weiter. Vielleicht war das ein taktischer Fehler, aber sie wollte nur für ein oder zwei Minuten allein sein.
»Wozu die Eile, Schätzchen?«, rief derselbe Typ erneut. »Komm zu uns.«
Hannah blieb abrupt stehen und drehte sich auf dem Absatz um. Der Typ, der gesprochen hatte, saß in der Mitte seiner Kommilitonen und grinste dümmlich.
»Also kannst du doch hören. Ich dachte schon, du wärst nur ein schickes Paar Beine.«
Hannah war solche billigen Sprüche gewohnt. Neu war allerdings, dass sie jetzt Magie auf ihrer Seite hatte und sich den Scheiß nicht mehr gefallen lassen musste. Sie erwog kurz, ihm den Hintern in Brand zu stecken, entschied sich dann aber ganz klassisch für den Mittelfinger.
»Fick dich.« Wieder drehte sie sich auf dem Absatz um und ging in Richtung Gedenkhalle davon.
»Was zur Matriarchin ist bitte dein Problem?«, kam eine weibliche Stimme von hinten, die ihr folgte. Hannah verlangsamte ihre Schritte genug, damit das Mädchen sie einholen konnte.
»Diese Arschgeigen sind mein Problem«, antwortete Hannah bissig.
Das Mädchen neigte ihren Kopf in Richtung der Jungen. »Ross und Co.? Arschgeigen? Hey, Kleine, der süßeste Typ der Schule hat gerade versucht, mit dir zu flirten. Wie blind bist du denn? Die denken halt, du bist heiß. Ich meine: Sieh dich nur an!«
Hannah hatte sich selbst angesehen, als sie sich gewaschen und diesen teuren Fummel angezogen hatte. Klar, jetzt, wo sie nicht mehr das schmutzige Straßenkind war, sollte ihr Aussehen plötzlich ihr Kapital sein.
»Danke«, rang sie sich ab, woraufhin das Mädchen spitz auflachte.
»Dank mir nicht. Ich bin nicht deine Freundin. Ich bin deine Konkurrenz .«
Sie ließ Hannah stehen und hüpfte wie ein junges Reh auf die Gruppe Jungs zu.
Scheiße, ich hasse diesen Ort , dachte Hannah und betrat die Gedenkhalle.
* * *
Jack ist heute definitiv nicht auf der falschen Seite der Zelle aufgewacht , dachte Parker belustigt. Sein Kollege hatte schon den ganzen Morgen lang ohne Unterbrechung gesprochen und machte keinerlei Anstalten, aufzuhören.
»Ich sag dir, Mann, auch auf dem Boulevard lief es nicht immer gut für mich. Ich weiß, dass du und Hannah vielleicht dachten, man hätte es zu was gebracht, wenn man erst mal für Horace arbeitete. Aber es war nicht leicht – nicht, wenn man ein Gewissen hatte.
Und das hat mich dann auch in die Scheiße geritten: Nett zu euch zu sein. Ich glaube, ich war zu allen nett, obwohl ich natürlich auch meinen Job gut machen wollte. Aber als netter Kerl kann man halt nicht für Horace arbeiten, das ist die Lektion hier. Ich habe ’ne Menge solcher Lektionen gelernt seitdem. Außerdem …«
Parker nickte brav, während Jack all seine kleinen Geheimnisse über die Arbeit für den Slumlord vom Queens Boulevard ausplapperte. Nichts davon spielte jetzt noch eine Rolle und es war Parker völlig egal. Solange Jack arbeitete, war Parker glücklich. Er wollte nicht, dass man auf sie beide aufmerksam wurde, nicht heute.
Parker beobachtete, wie Jack Muttern auf die Schrauben der großen Metallteile setzte, für die er zuständig war. Danach schlug er mit einem großen Schraubenschlüssel auf sie ein und zog sie fest, bevor er sie an die nächste Person am Fließband weitergab. Es war die perfekte Arbeit für einen Grobian wie ihn und Parker war froh, dass er direkt neben ihm saß.
»Weißt du, was ich meine?«, fragte Jack gerade und Parker nickte beim Drähte verdrehen. »Ja, Mann. Ganz genau.« Er hatte keine Ahnung, was Jack gesagt hatte und es spielte auch keine Rolle. Er würde bald nicht mehr hier sein, um das Gespräch zu Ende zu führen.
Seine Augen huschten immer wieder zu der Stahlbrücke über der Fabrikhalle. Noch eine Stunde von Jacks Geplapper und unzählige Drahtzwirbel später war es endlich soweit: Eine der Wachen – ein Junge, kaum älter als Parker selbst, kam die Metalltreppe herunter.
Parker hörte jeden Schritt seiner klobigen Stiefel auf den Gitterstufen. Er klopfte zweimal an die schwere Eisentür und wartete, bis ihm ein älterer Wachmann öffnete, der einen ganzen Kopf größer war als er. Die beiden wechselten ein paar Worte, dann übernahm der Ältere die Wachschicht.
Jetzt oder nie musste Parkers Plan funktionieren.
Er hatte das Muster der Wachwechsel tagelang beobachtet, jede Sekunde berücksichtigt. Als der ältere Wachmann die Sicherheitstür freigab, riss Parker Jack das zwei Meter lange Stück Metall aus den Händen. Jack protestierte, aber Parker hörte gar nicht hin.
Mit drei schnellen Schritten war Parker bei der Wache und schlug ihn zu Boden. Der arme Kerl hatte keine Chance, denn er war daran gewöhnt, gebrochene Männer zu beaufsichtigen. Und das waren sie auch alle, bis auf einen – Parker, den Bedauernswerten.
Als der Wachmann erst mal auf dem Boden lag, ließ Parker das Metallteil fallen und hinderte die schwere Metalltür mit zwei mutig ausgestreckten Fingern nur Zentimeter, bevor sie ins Schloss fiel, vor dem Einrasten.
Er atmete aus. Bis hierher lief es gut.
Er schlüpfte durch die Tür, bevor das Gebrüll der Arbeiter hinter ihm zu laut wurde.
Schnell zog er seine klobigen Schuhe aus und folgte dem jüngeren Wachmann den Flur hinunter. Ab jetzt war sein Plan so gut wie nicht existent, er kannte ja diesen Bereich des Gebäudes nicht.
Hinter einer Ecke entdeckte er den jungen Wachmann, er pfiff gut gelaunt ein altes Volkslied von vor dem Zeitalter des Wahnsinns und bemerkte Parker gar nicht, bis der den Abstand zwischen ihnen schloss und ihn in den Schwitzkasten nahm. Der Junge quiekte etwas Unverständliches und Parker fiel auf, dass er ihm wirklich sehr ähnlich sah. Vermutlich ein Junge aus der unteren Mittelschicht, dem seine Mutter ebenfalls in den Ohren gelegen hatte, bis er sein Glück bei den Wachen versuchte. Aber nichtsdestotrotz stand er zwischen ihm und der Freiheit verheißenden Tür an der Rückwand – zwischen ihm und Hannah.
Er war der Feind.
Parker zögerte nicht, presste die Metallkette enger an den Hals des Wachmannes, bis sein rasselnder Atem ganz verklang und er schlaff zu Boden sackte. In seinen Hosentaschen fand Parker einen Schlüsselbund. Schnell probierte er alle Schlüssel aus, aber keiner schien in die Handschellen zu passen. Er fluchte vor sich hin, rannte weiter den Flur hinunter und betete, dass Jack übertrieben hatte, was dieses Magitech-Energiefeld anging.
Als er die Eisentür erreichte, fummelte er wieder mit mehreren Schlüsseln, bis endlich einer Klack machte und er hineinhasten konnte.
Der Raum hinter der Tür war so verdammt dunkel, dass er sich langsamer bewegen musste, aber am anderen Ende sah er ein Licht, auf das er zusteuerte. Er zwang sich, ruhig zu atmen. Ein einzelner, falscher Schritt konnte jetzt seinen Tod bedeuten.
Das Licht kam, wie er bald erkannte, gar nicht von einem Fenster, sondern aus einem vergitterten Nebenraum. Er spähte hinein und traute seinen Augen kaum. Das war kein Raum, sondern ein Hangar. Dort stand eine Maschine, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Sie hatte Rohre, Balken und Hebel überall und sie war gigantisch, fast sechs Meter hoch. Ein riesiger Schornstein saß wie eine fette Spinne in der Mitte.
Ganze Reihen von Arbeitern, die Handschellen trugen wie er, schütteten dort große Ladungen von Amphoralden hinein.
Das war eine Art von Magitech, wie Parker sie noch nie gesehen hatte.
Stirnrunzelnd murmelte er vor sich hin: »Was zum Teufel ist das?«
Wie gelähmt beobachtete er das metallene Ungetüm. Ganz unten auf einer Art Bank war ein Mann festgebunden, dessen Augen ganz schwarz waren, als würde er gerade zaubern. Doch irgendwie sahen sie lebloser aus als Parker es bei anderen Magiern gesehen hatte. Wie zwei schwarze Löcher, frei von jeglicher Emotion. Drähte verliefen von seiner Schädeldecke zur Maschine und alle paar Sekunden zuckte sein ganzer Körper spastisch zusammen.
Da verstand Parker.
Amphoralde an sich waren nicht magisch, sie konnten Magie abspeichern. Dies war wohl die neueste Erfindung, um sie in Massen aufzuladen: Sie entzogen einem Zauberer die Kraft und pumpten sie in die Kristalle.
Was immer Parker, Jack und die anderen Arbeiter bauten, es benötigte anscheinend scheißviel Energie.
Die kurze Zeit, die er zusah, reichte aus um zu erkennen, dass diese Prozedur den Magier umbrachte, ihm mit der Magie auch das Leben aussaugte.
Er dachte an Hannah und den Gründer und betete, dass der Plan, an dem sie arbeiteten, bald Wirklichkeit werden würde.
Der Rektor musste gestoppt werden, um jeden Preis.
Um ihn herum ertönte überall schriller Alarm. Seine Flucht war nun anscheinend öffentlich.
»Scheiße«, grunzte er und rannte zum Ende des Flurs.