Kapitel 21

P arker atmete hektisch wie ein Beutetier auf der Flucht, während er den dunklen Flur entlang rannte – weg von der Magitech-Maschine, die im Begriff war, diesem bemitleidenswerten Zauberer die Seele auszusaugen. Bei jedem Schritt konnte er die Vorstellung nicht abschütteln, wie sie ihn einfangen und in schwerere Ketten legen würden … das unablässig schrille Sirenengeheul ließ ihn nicht.

So riskant sein Plan auch war, er hatte immerhin bis hierher funktioniert.

Der Flur machte eine Biegung nach links und knickte dann scharf nach rechts ab. Hinter der nächsten Kurve erblickte Parker ein Licht am Ende der Dunkelheit.

Freiheit! Sein Herz schlug so heftig, dass er dachte, es würde platzen. Nur noch ein paar Schritte, dann hätte er es geschafft!

Er warf sich gegen die Eisentür, die ihn ins gleißend helle Tageslicht ausspuckte. Er musste sich schnell eine Hand vors Gesicht halten, so ungewohnt war die Helligkeit für seine von der Fabrik abgestumpften Augen.

Hör jetzt bloß nicht auf, du Bastard , herrschte er sich in Gedanken selbst an. Lauf weiter .

Er kniff die Augen zusammen und rannte auf das schmale Wäldchen zwischen dem Kapitolviertel und dem Marktplatz zu. Wenn er das erreichte, wäre er sicher.

Doch nur wenige Schritte von der Freiheit entfernt fand Parkers Plan ein grausames Ende.

Die Handschellen hatten zu summen begonnen – ein unheilvolles Vibrieren, das immer heftiger und lauter wurde, je weiter Parker kam. Und dann begannen sie plötzlich zu glühen.

Ein elektrischer Schock stob wie flüssige Blitze von seinem Arm in seine Brust und entriss ihm die Kontrolle über seinen Körper, der spastisch zuckend zu Boden fiel.

Das letzte, was er sah, war das schadenfrohe Grinsen der Wachen, die ihn zurück in die Hölle schleppten.

* * *

Ezekiel strich seine violetten Gewänder glatt, obwohl sie natürlich nur eine Illusion waren. In Wahrheit trug er seinen schlichten, weißen Umhang zu der passenden Tunika, aber es schadete ja nicht, sein Schauspiel methodisch zu unterstützen. Im ungetrübten Vertrauen darauf, dass seine Illusion jedem Blick standhalten würde, drückte er den Türgriff und betrat schwungvoll den Kursraum.

Seinen Kursraum.

In ordentlichen Reihen saßen die Studenten kerzengerade auf ihren Plätzen. Ihr Getuschel verstummte augenblicklich, als er hereinkam, alle Augen waren auf ihn geheftet.

Seit der Eröffnungsfeier und Adriens großspuriger Rede war erst ein Tag vergangen, doch das Glühen in den Augen dieser jungen Menschen verriet Ezekiel, dass die Propaganda des Rektors fruchtete und sie alle Teil seiner sogenannten magischen Evolution sein wollten. Natürlich mussten sie dafür zunächst einmal brav ihren Abschluss machen.

»Also gut. Da sind wir nun«, sagte Ezekiel lächelnd. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er ziemlich nervös war. Diese Studenten machten auf ihn ganz den Eindruck einer gedrillten Armee – statt des lockeren, gegenseitigen Respekts der Mystischen und ihren Lehrern wurde hier blinder Gehorsam verlangt.

Wie gern wäre er jetzt in einem fast leeren Raum gewesen, nur mit Hannah und diesem verdammten Drachen.

»Geschichte der Magie. Los geht’s.«

Wie die Zahnräder einer riesigen Maschine schlugen die Studenten ihre Bücher auf, zückten unisono ihre Schreibfedern und brachten sie in Position, um jedes seiner Worte genauestens zu transkribieren. Schließlich würden sie ihren Abschluss mit Bravour und Bestnote machen müssen, wenn sie später in Arcadia Einfluss haben und nicht den undankbaren Jobs der Jäger oder Magitech-Konstrukteure zugewiesen werden wollten.

Rational betrachtet gab es keinen qualifizierteren Lehrer für Geschichte der Magie als Ezekiel. Nicht nur hatte er ein unnatürlich langes Leben gelebt, er hatte auch viel von Lilith, dem Orakel, gelernt, die in einer Höhle weit im Osten lebte und deren Wissen über die Vergangenheit um Jahrhunderte zurückreichte.

Nur wo sollte er anfangen?

Hungrige Augenpaare beobachteten jede seiner Bewegungen.

»Ich denke, wir sollten wohl am Anfang beginnen«, sagte Ezekiel gedehnt. »Vor dem Gründer, vor dem Zeitalter des Wahnsinns, sogar vor dem Schlimmsten Tag der Welt. Wir sollten bei der Matriarchin selbst ansetzen und der Zeit, als Bethany Anne zur Queen Bitch wurde.«

Er las unverhohlene Verwirrung aus den Gesichtern der Studierenden. Sie kannten die Queen Bitch nur aus Legenden, aus Volksmärchen und den Predigten des Propheten.

Anscheinend war ihr der Platz im Geschichtslehrplan bislang verweigert worden.

»Hmmm. Nun gut. Vielleicht ist das ein bisschen viel für ein einzelnes Semester. Also jüngere Geschichte. Ja, das wird reichen.« Ezekiel lehnte sich gegen das breite Pult und ordnete eilig seine Gedanken neu. Er hatte nur diese eine Chance, er durfte diese jungen Menschen nicht überfordern, sonst wären sie nicht länger empfänglich für die Wahrheit nach all den Lügen, die sie so bereitwillig aufgesogen hatten.

»Nun, Sie alle haben vom Anbruch des Zeitalters der Magie gehört, nicht wahr?«

Sie nickten mechanisch. »Ah, gut. Dann setzen wir dort an.«

Ezekiel schilderte zunächst die Ausgangssituation: Das Zeitalters des Wahnsinns. Während er diesen historischen Kontext darlegte, versuchte er, den Schwerpunkt auf die damaligen Menschen zu legen und ihre Verzweiflung – aber auch ihren nie erlöschenden Lebenswillen, ihre Stärke.

»Es war eine schreckliche Zeit der Ungewissheit«, schloss er seinen Vortrag und registrierte, dass zumindest die meisten mittlerweile interessiert dreinschauten. »Aber diese Periode dauerte nicht an. Das reicht erst mal für heute. Lesen Sie sich als Hausaufgabe ihre Notizen noch einmal durch, am Donnerstag thematisieren wir dann das Erscheinen des Gründers und wie er die Wahnsinnigen heilte und das Zeitalter der Magie einleitete.«

Ein Junge in der hintersten Reihe hob starr seine Hand.

»Ja?«, fragte Ezekiel geduldig.

»Der Gründer ? Ist das Ihr verdammter Ernst?«

»Ernster, als Sie es sich vorstellen können, junger Mann«, bestätigte Ezekiel. »Warum fragen Sie?«

»Ach, ich weiß nicht. Ich dachte nur, wir sollten hier Geschichte lernen.«

»Ah, dann sind Sie also allesamt Skeptiker, sehe ich das richtig?« Ezekiel musterte die nun duckmäuserisch dreinschauenden Studenten in den vorderen Reihen, ehe er seinen scharfen Blick wieder dem Unruhestifter zuwandte. »Wie ist Ihr Name, mein Sohn?«

»Morgan«, antwortete er bissig. »Und ich bin kein Skeptiker, sondern Realist. Diese Geschichten über den Gründer sind für verzweifelte Menschen – für diese Verrückten, die dem Propheten folgen – oder für die Armen. Es ist nur ein Märchen, das den Schwachsinnigen etwas geben soll, woran sie sich festhalten können. Erbärmlich.« Die Jungs um ihn herum nickten zustimmend und grinsten schadenfroh. Offenbar führte er das Rudel an. »Das ist alles Pferdescheiße.«

Ezekiel lachte. »Ja, gut, vielleicht ist es das, aber auch Pferdescheiße existiert wirklich. Auch sie hat einen gewissen Wert inne, möchte ich anmerken …«

Die Glocke läutete, bevor Ezekiel seine Argumentation beenden konnte und die Schüler eilten hinaus auf den Flur, um rechtzeitig zum nächsten Kurs zu kommen. Als Morgan an ihm vorbeiging, nickte ihm Ezekiel fair zu, aber der Bengel ignorierte ihn. Da lag offensichtlich noch einiges an Arbeit vor ihm.

Als auch der letzte Student gegangen war, sammelte Ezekiel seine Sachen zusammen und folgte ihnen hinaus. Vor dem Kursraum wartete Dekanin Amelia auf ihn.

»Und? Wie lief Ihr erster Tag?«, fragte sie lächelnd.

Ezekiel blickte geistesgegenwärtig auf seine violetten Gewänder herab, ein Kontrollmechanismus, den er sich in den letzten Tagen angewöhnt hatte. Er durfte in seiner Wachsamkeit nicht nachlassen und musste sicherstellen, dass seine Tarnung stets gewahrt blieb.

»Ah! Diese Studenten sind nicht annähernd so wie meine Freunde und ich, als wir vor vielen Jahren auf ihren Plätzen saßen.«

Sie lachte verständnisvoll. »Sie sind auch nicht mehr dieselben wie meine Freunde und ich aus der Studienzeit. Je weiter wir uns von der Vergangenheit entfernen, desto weniger scheinen sie an sie zu glauben, aber davon würde ich mich an Ihrer Stelle nicht irritieren lassen. Kommen Sie, ich gebe Ihnen etwas zu trinken aus. Die meisten Fakultätsmitglieder treffen sich untereinander mindestens einmal die Woche, um Beschwerden über Studenten loszuwerden.«

»Das klingt gut«, befand Ezekiel. »Ich glaube, genau das brauche ich gerade.«

* * *

Amelia und Ezekiel nahmen in einer Sitzecke gegenüber von zwei anderen Dozenten Platz, die er schon bei der Eröffnungsfeier gesehen hatte. Der eine starrte äußerst griesgrämig auf seinen Bierkelch, während der andere ein scheinbar permanentes Grinsen zur Schau trug, welches vermuten ließ, dass es sich hierbei nicht um seinen ersten Trunk des Tages handelte.

»August, Nikola, kennen Sie schon Girard?«, fragte Amelia in die Runde. Ezekiel hätte beinahe den fatalen Fehler begangen, zu behaupten, er habe die beiden noch nie im Leben getroffen, doch zum Glück kam August ihm zuvor.

»Girard? Aber natürlich kenne ich diesen alten Bastard!« Er schien ganz aufgeregt. »Wir waren im selben Jahrgang! Als er lernte, Feuerbälle zu erzeugen, hätte er mich fast umgebracht!«

Ezekiel lachte so herzlich, wie er konnte. »Meine Finesse hat sich seitdem nicht großartig verbessert, fürchte ich. Es ist lange her, August. Sind Sie seither all die Jahre in Arcadia geblieben?«

»Habe nirgendwo sonst eine vergleichbare Anstellung gefunden. Aber Sie kennen Nikola noch nicht, oder?«

»Wir sind uns noch nie begegnet«, bestätigte Nikola, ohne aufzuschauen.

Ezekiel bestellte bei der Bedienung ein Getränk und rätselte währenddessen insgeheim, wie August wohl wirklich über Lord Girard dachte. Bis hierher hatte er Ezekiels Tarnung glücklicherweise nur unterstützt, aber Girard war zu Lebzeiten ein grausamer Bastard gewesen und wäre sicherlich nicht die Art von Person, der man kollegial seine Sorgen anvertraute.

Er beschloss, nett zu spielen und zu sehen, wohin das führte.

»Sehr schön, Sie kennenzulernen, Nikola. Was lehren Sie an der Akademie?«

Der hagere, blasse Mann nippte an seinem Bierglas, wobei der Schaum an seinem Schnurrbart hängen blieb. »Magitech. Ich bringe den kleinen Mistkerlen bei, wie sie unsere schöne Magie in billigen Plunder stecken können – alles, um eine einfachere Welt zu schaffen. Zumindest sage ich mir das selbst immer wieder.«

Ezekiel runzelte die Stirn. Eine solch offenherzige Unzufriedenheitsbekundung hatte er von den anderen Fakultätsmitgliedern nun wirklich nicht erwartet, die doch bei Adriens Rede nichts weiter gewesen waren als Claqueure. »Und was noch?«

Nikola neigte den Kopf. »Wie meinen Sie das?«

»Nun, was lehren Sie noch außer Magitech?«, fragte Ezekiel ehrlich interessiert.

Alle Dozenten brachen in Gelächter aus. Ezekiel musterte Amelia, dann die beiden Herren und fragte sich, warum genau er sich gerade zum Narren gemacht hatte.

Er erwog sogar, mit psychischer Magie in ihre Köpfe einzudringen und sich die Antworten zu verschaffen, aber die Dekanin ersparte ihm die Arbeit.

»Sie sind wirklich ziemlich altmodisch gesinnt, Girard. Heutzutage konzentrieren unsere Dozenten sich auf einen einzelnen Forschungsbereich.«

Ezekiel spielte seine Verwirrung hoch. »Sie wollen mir also erzählen, dass jeder von Ihnen nur ein Fach lehrt?«

August grinste von Ohr zu Ohr. »Das ist richtig. Fokus ist wichtig, finden Sie nicht auch? So ist es sicherer für uns und die Studenten. Ich möchte mich sogar noch weiter spezialisieren. Entweder in Richtung Telekinese, Feuer- oder Eismagie, physikalische Alchemie … schwer zu entscheiden, außerdem hatten wir dafür bisher nicht wirklich die Arbeitskraft. Jetzt jedoch, wo Sie mit an Bord sind …«

»Hmm«, brummte Ezekiel. »Sind Sie wirklich damit zufrieden, sich dermaßen zu beschränken? Ich für meinen Teil habe festgestellt, dass mir das Studium aller Arten der physischen Magie viel Raum für Kreativität lässt. Es macht mich zu einem besseren Magier.«

Nikola lächelte humorlos. »Das mag sein, aber der Rektor will nicht, dass wir bessere Magier werden. Er will, dass wir bessere Dozenten werden. Unsere Aufgabe ist es, Arbeiterbienen für den Bienenstock auszubilden, der Arcadia ist. Je mehr wir uns spezialisieren, desto besser können wir die Studenten vorbereiten. Ich habe den Rektor sagen hören, dass er nun sogar damit beginnen will, auch den Studenten Spezialisierungen zuzuteilen … Teile und herrsche, so sagt man doch.«

Ezekiel schüttelte den Kopf. Das war nicht der Sinn dieser Redewendung, aber Adriens Strategie leuchtete durchaus ein: Getrennte Leute waren einfacher zu kontrollieren.

Außerdem verhinderte es, dass die Dozenten als Fakultät zu mächtig wurden und sich gegen Adrien verschwören könnten. Adrien hortete Macht wie ein Drache seinen zusammengeraubten Schatz.

»Nun, so wurde hier zwar nicht immer unterrichtet, aber ich schätze, ich kann den Standpunkt des Rektors nachvollziehen.« Ezekiel wusste, dass er ihr Spiel mitspielen musste, zumindest bis zu einem gewissen Grad. »Aber erzählen Sie mir etwas über Magitech, Nikola. Es ist wohl ein wichtiger Teil der Lehre hier an der Akademie geworden, nicht wahr?«

»Als braver Fachmann«, sagte Nikola bissig, »gebietet mir die Pflicht, Ihnen zu sagen, dass Magitech der allerwichtigste Teil der Akademie geworden ist.«

»Da möchte ich respektvoll widersprechen«, warf August lachend ein. »Aber Nikola hat recht damit, dass unser Rektor großen Wert auf die Magitech-Sparte legt. Er glaubt, dass Magitech die Zukunft gehört und ich habe keinen Grund, daran zu zweifeln.«

»Warum genau?«, fragte Ezekiel.

Die Dekanin schaltete sich ein. »Fortschritt und Sicherheit. Durch Magitech können wir die Welt mit sehr geringem Risiko nach unseren Bedürfnissen formen. Selbst der unbegabteste Magieanwender kann einen Knopf drücken. Adrien ist der festen Überzeugung, dass wir uns auf Magitech konzentrieren sollten, wenn wir das Beste für unsere Gesellschaft wollen.«

Ezekiel nahm einen großen Schluck von dem Bier, das man ihm gebracht hatte.

»Aber entmachten wir uns damit nicht selbst? Wenn wir mächtige Technologie erschaffen, die Menschen aber nicht lehren, sie richtig und nach moralischen Grundsätzen zu gebrauchen, machen wir uns dann nicht schuldig?«

Amelia senkte den Blick. »Der Rektor glaubt, dass …«

»Was glauben Sie , Amelia?«, unterbrach Ezekiel.

Sie saß einen Moment lang schweigend da. Mit dieser Frage hatte sie nicht gerechnet und Ezekiel wusste, dass sie es nur allzu gewohnt war, die Differenz zwischen ihrer persönlichen Meinung und der Doktrin unter Adrien abzuwägen.

»Es ist, was es ist. Was kann ich schon tun, um die Situation zu verändern?«

Ezekiel starrte sie lange eindringlich an. »Wenn Unrecht geschieht, ist es die Pflicht eines jeden Menschen, nicht teilnahmslos zuzusehen, sondern etwas dagegen zu unternehmen. Selbst wenn es scheinbar ein Kampf ist, den man nicht gewinnen kann. Besser sterben, als auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen. Aber wenn Sie mich fragen, glaube ich, dass Sie in Ihrer Position sehr viel tun können, Amelia. Und ich glaube, das wissen Sie auch, nicht wahr?«

Alle Anwesenden waren in schockiertes Schweigen verfallen angesichts der ernsten Entwicklung, die ihr Geplänkel genommen hatte.

Amelia starrte Ezekiel an in dem Bemühen, schlau aus diesem Adligen zu werden. Nikola starrte mit zuckendem Schnurrbart in seinen Becher. Selbst Augusts Lächeln wirkte mittlerweile eher wie eine Grimasse und so versuchte er versöhnlich, das Gespräch in seichtere Gewässer zurückzulenken. »Also«, setzte er gedehnt an, »was halten Sie alle von der neuen Statue des Rektors? Ich für meinen Teil halte sie für göttlich. Ich habe es ihm erst neulich gesagt und …«

August plapperte weiter, aber Ezekiel hörte nicht richtig hin. Er konzentrierte sich ganz auf Amelia, leerte seine Gedanken und schlüpfte sachte in ihren Geist. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass ihr zu trauen war, aber das Risiko war zu groß und er musste ganz sicher gehen.

Nach einer Weile verabschiedeten sich August und Nikola mit irgendeiner Ausrede, sodass nur Ezekiel und die Dekanin am Tisch zurückblieben.

»Haben Sie das wirklich so gemeint?«, fragte sie tonlos. »Dass es besser ist, zu sterben, als für die falsche Seite zu kämpfen?«

Ezekiel nickte. »Auf jeden Fall. Ich kannte eine Menge Menschen, die daran glaubten – genug, um es als Wahrheit zu offenbaren.«

Schlagartig setzte sich Amelia gerader hin. »Mein Vater hat immer genau dieses Sprichwort gebraucht!«

»Klingt nach einem klugen Mann«, schob Ezekiel ein.

»Er sagte mir, er habe es vom Gründer gelernt«, fuhr sie fort und musterte Ezekiel kritisch. »Wer sind Sie wirklich? Ich habe mir Ihre alten Aufzeichnungen angeschaut. Sie waren ein furchtbarer Student ohne jegliches Interesse an Geschichte. Und nach allem, was man so hört, sind Sie angeblich auch kein sehr netter Mensch. Also was führt Sie hierher zurück? Warum gerade jetzt? Es ist alles so … untypisch.«

Ezekiel lächelte und lehnte sich ein wenig auf seiner Sitzbank zurück. »Sie nehmen aber auch wirklich kein Blatt vor den Mund, Dekanin.«

»Ich habe die ganzen Lügen einfach satt«, gestand sie. »Es fühlt sich an, als ob Arcadia heutzutage voll von Lügen ist. Dies ist nicht die Akademie, die ich kannte, als ich jung war.«

»Und wie war die Akademie, die Sie damals kannten?«

»Es war ein Ort der Entdeckung, der Leidenschaft, der Diversität.« Ihre Augen funkelten passioniert. »Ein Ort, an dem man mit Fähigkeiten ausgestattet wurde, um die Welt zu verändern. Das war die Art von Mensch, die ich sein wollte – und die Art von Dozent, die ich sein wollte. Aber jetzt weiß ich nicht mehr, was ich hier überhaupt tue. Ich leite idiotische Lehrer, die nicht über ihren vorurteilbehafteten Tellerrand hinausblicken können und sich nur um ihre eigenen Ambitionen kümmern.« Sie sah sich um, wohl besorgt, dass jemand lauschen könnte. »Wozu soll all das gut sein?«

»Aber Sie sind die Dekanin. Sicherlich können Sie etwas ausrichten.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist, wie ich gesagt habe. Adrien …«, sie hielt plötzlich inne, vor Angst wie erstarrt angesichts dessen, was sie erstmalig laut auszusprechen beabsichtigte.

»Es ist Adrien. Er ist zu mächtig, nicht nur an der Akademie, sondern in ganz Arcadia. Niemand hinterfragt das. Alle lächeln das einfach ab wie August und wollen sich möglichst gut mit ihm stellen, aber Adrien verheimlicht uns allen etwas.

Ich weiß nicht, was es ist, aber mein Bauchgefühl sagt mir, dass hier etwas furchtbar falsch läuft. Da ist dieses neue Stipendium-Programm, das er ins Leben gerufen hat, aber es ist so geheimnistuerisch. Was hat er zu verbergen?« Sie ließ seufzend den Kopf hängen. »Aber es macht ohnehin keinen Unterschied. Selbst wenn ich Bescheid wüsste, müsste ich ihn trotzdem gewähren lassen. Niemand kann sich ihm in den Weg stellen und das macht mir am meisten Angst. Nur eine sehr korrupte Person würde Macht auf diese Weise anhäufen und ausnutzen.«

Als ihr Redeschwall langsam versiegte, war ihr ganzer Körper fürchterlich angespannt und Ezekiel wusste, dass sie sich innerlich schalt, denn sie hatte soeben durch nur ein wenig freie Meinungsäußerung praktisch Hochverrat begangen.

Ezekiel lächelte gutmütig und lehnte sich ein wenig zu ihr herüber.

»Was wäre, wenn ich Ihnen sagen würde, dass es sehr wohl einen Unterschied macht – und zwar einen riesig großen? Was, wenn ich Ihnen sagen würde, dass es jemanden gibt, der etwas gegen Adrien zu tun imstande ist? Würden Sie diese Person treffen wollen?«

Amelia starrte Ezekiel unverhohlen an. »Zum Teufel, ja!«, flüsterte sie.

Ezekiel stand auf. »Dann kommen Sie mit mir. Keine Lügen mehr. Nun ist die Wahrheit an der Reihe.«