A ls Parker endlich wieder die Augen öffnen konnte, sah er nicht gerade viel. Dunkelheit war überall, doch aus einem schmalen Türspalt drang ein wenig Licht herein und wenn er seinen Hals streckte, konnte er hoch an der Wand ein Fenster erkennen, das jedoch grob mit Brettern vernagelt worden war. Er schauderte, als das unnatürlich laute Platschen eines Wassertropfens die Stille zerriss. Dann folgte noch einer, ebenso laut und übergriffig und dann noch einer. Es war nass hier. Modrig nass.
Aber diese Erkenntnis verblasste im Vergleich zu dem, was ihm als Nächstes auffiel: Er war nackt! Splitterfasernackt, nur vom schweren Eisen der Fesseln bedeckt, an denen sie ihn unter der modrigen Decke aufgehängt hatten.
Zeit bedeutete nichts. War er nur eine Minute hier oder doch ein Jahr lang?
Seine einzige Erinnerung bestand darin, dass er fast entkommen war. Der Geschmack der Freiheit lag immer noch bleiern auf seiner Zunge.
Zwischen seinen Schultern brannte es furchtbar … da musste eine klaffende Wunde von den Schocker-Stäben sein. Die zu engen Fesseln hinderten seinen Körper vermutlich gewaltsam daran zu heilen.
All seine Muskeln, von den Handgelenken bis zu den Knöcheln, pochten im panischen Rhythmus seines Herzens.
Die Erinnerung daran, wie er den Boulevard schon in der Ferne gesehen hatte, kurz bevor ihn der Schock des Kraftfeldes zu Boden riss, war am schlimmsten. Innerhalb weniger Sekunden war so viel so schrecklich schiefgelaufen und jetzt musste er sich dringend seinen nächsten Schachzug überlegen, falls es denn einen gab.
Irgendwann öffnete sich knarzend die schwere Tür und Licht strömte aus dem dahinter liegenden Flur herein, das ihn fast blendete, aber Parker zwang sich, hinzusehen, um herauszufinden, wo er sich hier befand.
Alles, was er sah, war eine Person, die sich als Silhouette in der Tür abzeichnete.
Weiblich. Kurvig. Mächtig.
Sie schloss mit fatalistischer Endgültigkeit die Tür, trug aber eine Magitech-Laterne bei sich, die nun den Raum erhellte. Während sich seine Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnten, versuchte Parker noch immer, sich über seinen Standort klarzuwerden. Die Schlösser seiner Fesseln, die um zwei breite Bolzen unter der Decke geschlungen waren, befanden sich jedenfalls außer Reichweite. Seine Handschellen jedoch waren anders als die Magitech-Teile, die er während der Arbeit in der Fabrik hatte tragen müssen. Dies waren normale, nichtmagische Fesseln. Nur brachte ihn das jetzt auch nicht weiter.
Ein einzelner Holzstuhl stand in der Mitte des Raums, aber ebenfalls außerhalb seiner Reichweite. Die Frau starrte Parker einen Moment lang an, bevor sie ihn mit klickenden Absätzen zu umkreisen begann wie ein Raubvogel seine Beute. Ihre dunklen Haare waren zurückgebunden, sodass die blassen, kantigen Züge ihres Gesichts noch strenger wirkten. Ein feiner Anzug umschlang ihre Kurven und alles an ihr schrie förmlich Adlige . Sie war wunderschön und abgrundtief furchterregend zugleich – die Art von Frau, die sich alle Männer wünschten, bis sie ihr begegneten.
»Parker, Parker, Parker«, zischte sie. »Kein schlechter Versuch, ehrlich! Du hast es weiter geschafft als jeder andere bisher. Das ist eine ziemliche Leistung für wertlosen Straßenabschaum vom Boulevard. Aber aus meinem Gehege kommt keiner raus.«
Er schnaubte. »Klingt, als wäre schon lange niemand mehr in deinem Gehege gewesen. Du solltest es mal versuchen, das könnte dich ’n bisschen auflockern.«
Sie durchquerte mit zielstrebigen Klackerschritten den Raum, verpasste ihm eine saftige Ohrfeige und lachte. »Ziemlich schlagfertig, für ein Stück Scheiße. Küsst du deine Mutter mit diesem Mundwerk? Eleanor, richtig?«
Ein kaltes Kribbeln lief Parkers Wirbelsäule hinunter. »Lass meine Mutter aus dem Spiel!«
»Oh, Liebes. Wir sind uns noch nicht begegnet, oder? Ich bin Alexandra. Und das Einzige, was du über mich wissen musst, ist, dass ich hier nichts aus dem Spiel lasse. Es liegt alles offen auf dem Tisch.« Sie kam ihm so nahe, dass er ihren Atem auf seiner Haut spüren konnte. »Ich hoffe jedenfalls, diese Schlampe hat den gleichen Sinn für Humor wie du. Das wird es einfacher für sie machen, hier für den Rest ihres Lebens mit dir zu arbeiten.«
»Leck mich am Arsch!«, fauchte Parker.
Alexandra blickte pointiert auf seinen nackten Körper herab, der an Ketten vor ihr hing wie Schlachtvieh. »Verlockend. Wirklich verlockend. Aber ich habe viel bessere Möglichkeiten.« Sie hielt inne und lächelte kalt. »Eleanor. Ja, sie wäre eine ganz nette Ergänzung hier. Eine Arbeiterbiene. So wie die Dinge auf dem Boulevard laufen und mit ihrem vernarrten Sohn, der unglücklicherweise in meinem Kerker hängt, wird sie entweder bald von sich aus für mich arbeiten oder aber für ein paar Münzen die Beine spreizen. Was ist dir lieber?«
Parker hätte explodieren können. Eine Sekunde lang glaubte er wirklich, die Eisenketten von der Decke zu ziehen und diese Frau damit ersticken zu können.
Aber sie wartete auf seine Antwort – das alles war nichts weiter als ein Spiel für sie. Er wusste, dass er geduldig sein musste, wenn er eine Chance haben wollte, aus diesem Verlies zu entkommen.
Also schwieg er.
»Und was ist mit der anderen? Hannah, nicht wahr? Oh, süße, süße Hannah. Mit der würde ich gern mal eine Nacht allein verbringen. Ihr zwei standet euch nahe, nicht wahr?«
Alexandra fuhr mit ihrem spitzen Fingernagel seinen Brustkorb hinunter und hinterließ einen schmalen, brennenden Kratzer.
»Wie nah denn eigentlich genau? Ich habe gehört, dass die Ungesetzlichen schon mal ein bisschen, na ja, pervers werden können. Ist das wahr?«
Parker stemmte seine Zehen gegen die Fesseln, um zumindest kurz nicht sein Körpergewicht auf den Handgelenken spüren zu müssen. »Ja, sie wurde pervers gegenüber diesen perversen Jägern, als sie sie in Stücke gesprengt hat, aber ich bezweifle, dass du das meinst.«
Sie machte mit ihrer Zunge ein zischendes Geräusch und umkreiste ihn erneut.
»Also wirklich, Parker, lass uns nett spielen, ja? Sag mir, wo die kleine Princess Bitch ist. Ich mache dir sogar einen Vorschlag: Du gibst mir Hannah und ich gebe dir deine Freiheit.«
Er lachte abfällig. Hannah war seine beste Freundin. Für nichts auf der Welt würde er sie verraten. »Da bleibe ich doch glatt lieber in diesem dreckigen, kleinen Gehege«, sagte er heftig. »Genug jetzt von dieser Guter-Gardist-Scheiße. Bring schon endlich den Schläger rein, dann kannst du mich wieder brav ans Fließband ketten. Ihr Leute habt mich schon so viel Scheiße durchmachen lassen. Glaubst du da wirklich, dass mir ein paar Stunden mit so ’nem Schlägertypen Angst machen? Ich bin vom Boulevard, Bitch!«
Alexandra lächelte aalglatt. Aber anstatt hinauszugehen und besagten Schlägertyp hereinzuholen, zog sie gelassen ihre Anzugjacke aus, unter der sie ein enges Lederkorsett trug.
Sie drehte sich raubtierhaft um und schlenderte auf ihn zu, die Handflächen erhoben, auf denen nun winzige, gezackte Blitze unheilverkündend tanzten. Ihre Augen waren tiefschwarz.
»Parker, du hast da was falsch verstanden. Ich bin sowohl der böse als auch der gute Gardist. Ich bin, sagen wir mal, erfahren . Mit Männern, Magie, Manipulation …« Sie fuhr mit der Hand über sein Gesicht und die elektrische Energie fühlte sich an wie tausend, kleine Krallen, die sich in seine Haut gruben.
»Gib mir, was ich will und ich schenke dir die Nacht deines Lebens. Aber wenn du mir etwas vorenthältst …« Sie ballte ihre Hand zur Faust und schlug ihm so heftig gegen den Unterkiefer, dass seine Ketten ins Wanken gerieten und er leicht hin und her pendelte. »Dann wirst du eine Hölle erleben, die das Leben auf dem Boulevard im Vergleich wie einen Traum erscheinen lässt.«
Parkers Kopf surrte und er überprüfte mit seiner Zunge, ob sie ihm einen Zahn ausgeschlagen hatte. Er spuckte Blut aus.
»Lieber schneide ich mir meine Gliedmaßen selbst ab, Liebes «, fauchte er mit einem erzwungenen Grinsen.
Alexandras Lachen hallte verzerrt durch den Raum. »Vielleicht kommen wir noch vor dem Ende der Nacht dazu.«
Ohne Vorwarnung wandte sie ihm ihre Handflächen zu, die blau glühten und ganz von Blitzen verhüllt waren. Sie schlug damit auf seine Brust ein und schmolz ihm fast die Haut von den Knochen.
Wieder lachte sie, aber diesmal wurde es von Parkers Schreien noch übertönt. Er schrie so laut, dass Jack und alle anderen Arbeiter ihn aus der Fabrikhalle hören konnten.
* * *
Das wird sowas von scheiße , dachte Hannah, während sie das erste Seminar ihres Lebens betrat. Der Kursraum wirkte bedrohlicher als dieser Lykanthrop vor ein paar Monaten … aber da war auch Parker an ihrer Seite gewesen. Mit seiner Hilfe hatte sie sich jahrelang auf der Straße durchgeschlagen. Doch nun war sie allein, so sehr außerhalb ihres natürlichen Lebensraums wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sobald sie den Raum betrat, waren alle Augen auf sie gerichtet.
Ah ja, toll. Die volle › Ich bin die Neue ‹-Erfahrungspalette. Schön.
Sie musste sich gewaltsam daran erinnern, dass sie für diese Schnösel nicht Hannah vom Boulevard war, sondern irgendeine reiche Schlampe vom Land.
Geheimnistuerei und ein aufpoliertes Äußeres hatte sie schon mal auf ihrer Seite, jetzt musste sie dies nur noch klug einsetzen. Nur schien das in diesem Moment schwieriger, als einen Molch in einen Drachen zu verwandeln.
Der Raum war bereits zum Bersten voll – anscheinend war der Aushang, laut dem man dringend eine halbe Stunde früher kommen sollte, an ihr vorbeigegangen.
Nur ein Platz war noch frei und zwar neben dem verschüchterten, lockigen Jungen, neben dem sie schon bei der Eröffnungsfeier gesessen hatte. Sein Gesicht lief vor Verlegenheit knallrot an, als er sie kommen sah.
»Ist dieser Platz schon besetzt?« Sie lächelte und warf sich wenig elegant ihre erdbeerblonden Locken über die Schulter. Ja, das Mädchengetue saß noch nicht so ganz.
»Es ist, nun ja, das ist er immer. Ich meine … er ist … ja. Er ist frei.« Sein Gesicht wurde noch röter als Ezekiels Augen, wenn er teleportierte.
»Danke. Ich bin Deborah«, sagte sie freundlich und bot ihm ihre Hand an, als sie Platz genommen hatte. Er nahm sie in seine äußerst Verschwitzte und schüttelte sie leicht, bevor er schnell wieder losließ.
»Deborah. Ich weiß. Ich meine, ich … Wir haben alle von dir gehört. Du bist die Tochter des neuen Professors. Von der anderen Seite des Tals.«
Sein Adamsapfel wippte heftig, als er schluckte und sie hatte ein wenig Mitleid mit ihm. Wenn er nur wüsste, dass er in Wahrheit eine Waise vom Boulevard vor sich hatte, die unlängst ihre allererste heiße Dusche erfahren hatte, dann würde er vielleicht nicht das Nervenbündel vom Dienst abgeben.
»Das ist richtig, aber ich fürchte, ich kenne deinen Namen noch nicht.«
»Gregory. Ich meine … Greg, aber egal. Gregory.«
Hannah lachte trällernd. »Gregory! Das ist ein schöner Name. Wie ein altehrwürdiger Ritter oder sowas! Kann ich dir ein Geheimnis verraten? Ich habe gerade eine Scheißangst. Ich kenne hier niemanden und ehrlich gesagt bereitet mir dieser Ort irgendwie Unbehagen. Ich liege, was Magie angeht, wirklich weit zurück. Ich kenne nicht mal den Unterschied zwischen meinem Hintern und einem Feuerball!«
Er schnaubte. »Das wäre aber eine äußerst hilfreiche Unterscheidung, so scheint mir.«
Hannah lachte, froh, ihm wenigstens einen kleinen Witz entlockt zu haben. Bevor sie die Gelegenheit hatte, zu kontern, rief eine Stimme aus den hinteren Sitzreihen dazwischen. »Verschwende deine Zeit nicht mit dem, Debby . Greggy wüsste nicht, was er mit einer Frau anstellen sollte, wenn sie ihm in den Schoß fallen würde – selbst bei einem Bauerntölpel wie dir.«
Hannah schaute über ihre Schulter und erkannte in der Sprecherin jenes Mädchen, die sich ihr gegenüber so hilfsbereit als ihre Konkurrentin vorgestellt hatte. Um sie herum saß eine Reihe dümmlich gackernder Jungs und sie blickte siegessicher in die Runde, während sie schwungvoll ihre Haare zurückwarf. Ganz offenbar ging in ihrer kleinen Welt dieser Punkt im Beliebtheitswettbewerb an sie.
Hannah erwog ernsthaft, sie in eine Eidechse zu verwandeln, dachte sich dann aber etwas Besseres aus. Sie würde dieses alberne Spiel ganz einfach mitspielen.
»Ach, verbringst du denn so viel Zeit damit, irgendwelchen Jungs in den Schoß zu fallen? Wenn du deinen Kopf aus dem Arsch ziehen würdest, könntest du vielleicht besser sehen, wo du hingehst.«
Daraufhin blickte die Zicke drein, als hätte sie in einen sauren Apfel gebissen. Wütend sah sie in die Runde, doch keiner der Jungs sprang für sie in die Bresche.
Gregorys Mund hing offen. »Heilige Scheiße! Niemand spricht so mit Violet.«
Hannah zuckte mit den Achseln. »Ich mag es halt nicht, wenn man schlecht über meine Freunde spricht.«
Sie lehnte sich zurück und sah aus dem Augenwinkel geradeso sein breites Lächeln.
Am Rande war Hannah sich bewusst, dass sie sich vermutlich mit dieser Aktion bei Violet und ihrem gesamten Hofstaat nicht gerade angebiedert hatte und dabei sollte sie hier doch Verbündete finden. Bei diesem Tempo würde Hannah im Nu zur meistgehassten Person des Campus aufsteigen.
Sie atmete auf, als die Dozentin den Raum betrat, um die Lektion zu beginnen. Ihre Erleichterung verschwand allerdings schnell wieder, als sie sah, um wen es sich dabei handelte.
Charlotte, die miesepetrige Geschichtsschreibern, stellte ihre ebenso miesepetrige Ledertasche auf dem Pult ab und baute sich mit verschränkten Armen vor ihnen auf, sodass alle Gespräche verstummten.
»Willkommen im Kurs Magische Grundlagen . Mein Name ist Charlotte und ich werde Ihre Lehrerin sein. Die korrekte Anwendung von Magie ist eine ernste Angelegenheit. Wer sie in meinem Kurs nicht angemessen ernst nimmt, wird suspendiert. Noch Fragen?«
Ihre eisigen Worte kühlten die Stimmung merklich herunter, alle nickten und machten sich unter ihrem Blick möglichst klein.
»Gut. Ich möchte Sie auch daran erinnern, dass die Dekanin derzeit nach Studenten sucht, die am neuen Praktikumsprogramm des Rektors teilnehmen dürfen. Es bietet eine aufregende Gelegenheit für Studenten jeden Jahrgangs, ihr Potenzial zu zeigen. Ich muss meine Empfehlungen noch vor Ende des Semesters abgeben, also konzentrieren Sie sich auf die Arbeit, dann könnten Sie Erfolg haben.«
Ein leises Raunen erfüllte den Raum, als die Studenten aufgeregt untereinander zu tuscheln anfingen. Anscheinend war dieses Programm, was auch immer es war, eine große Sache.
Charlotte ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und fixierte sich schließlich auf Hannah. »Eine letzte Sache noch. Die meisten von Ihnen kennen sich untereinander von der Einführungswoche, aber wir hatten in diesem Semester eine verspätete Zulassung. Deborah, warum stehst du nicht auf?«
Hannah fühlte, wie ihre Wangen zu glühen anfingen, während sie sich langsam erhob.
»Deborah kommt vom Land. Bitte behandeln Sie sie mit Respekt. Deborah, Sie möchte ich daran erinnern, dass das Leben in der Akademie anders ist als Sie es gewohnt sind. Ich erwarte, dass Sie sich an unsere Regeln halten – egal, wie lange Ihr Studium dauern wird.«
Jetzt war Hannah rot vor Wut. Die nicht so verschleierte Drohung der Dozentin war unmissverständlich. Wieder wurde Flüstern laut und Hannah sank zurück auf ihren Stuhl.
Hinter ihr flüsterte jemand: »Hab gehört, ihre Aufnahmeprüfung war wirklich beeindruckend.«
»Ja, richtig!«, antwortete ein anderer. »Wohl eher war ihr Daddy wirklich beeindruckend. Er ist der einzige Grund, warum sie hier ist. Aber ich muss zugeben, sie hat einen netten …«
»Genug mit dem Unfug, Morgan!«, rief Professor Charlotte dazwischen. Hannah drehte sich um und sah hinter sich den Jungen, der sie auf dem Hof angemacht hatte. Er grinste selbstbewusst und winkte ihr nachlässig zu. Sie widerstand dem Drang, ihm erneut den Mittelfinger zu zeigen.
»Und nun«, herrschte Charlotte sie an. »Öffnen Sie Ihre Bücher auf Seite dreiundzwanzig und versuchen Sie, den dort aufgeführten Manipulationszauber anzuwenden.«
Die Klasse reagierte schnell und bald schon erfüllte geschäftiges Brummen den Raum.
»Manipulation, hm?«, fragte Hannah an Gregory gewandt.
»Ja«, sagte er gedehnt, ohne den Blick vom Lehrbuch abzuwenden. »Da steht, wir müssen einen Tonklumpen in eine Vase verwandeln.«
Gregory ging zum Pult und kam mit einer Tonkugel auf einem Holztablett zurück, die er auf ihren gemeinsamen Versuchstisch legte.
»Das soll ein einfacher Zauberspruch sein. Die meisten anderen Studenten haben gelernt, solche Dinge zu tun, bevor sie hierher kamen, aber ich habe sowas nie geschafft.« Er zog seine Schultern hoch und sah entschuldigend zu Hannah auf. »Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt hier sein sollte. Ich bin nicht gut in Magie, aber mein Vater …«
»Dein Vater?« Hannah zog ihre Augenbrauen hoch. War sie da auf etwas gestoßen?
»Ja«, sagte er schüchtern. »Mein Vater ist Elon.«
Hannah lächelte. »Ich schätze, das würde einer Arcadianerin vermutlich etwas sagen. Aber nur mal zur Erinnerung: Ich bin hier der Bauerntölpel.« Sie zeigte auf ihre Brust. »Also sprich besser langsam und deutlich.«
Er kicherte. »Aber natürlich. Mein Vater, Elon, ist der Chefingenieur von Arcadia. Er ist einer der besten Zauberer der Stadt – er hat sich an die Spitze gearbeitet – und jetzt beaufsichtigt er die Entwicklung von Magitech. Er untersteht dem Rektor persönlich. Sie haben mich nur seinetwegen aufgenommen und ich weiß, dass sie Großes von mir erwarten, aber …« Er deutete auf den Tonklumpen. »Nöscht .«
Hannah erwiderte sein Grinsen und stupste den Klumpen probehalber an.
»Ich bin sicher, dass sie dich nicht genommen hätten, wenn du gar kein Potenzial hättest. Was kannst du denn schon?«
Sie war längst nicht mehr nur höflich, sondern mittlerweile aufrichtig neugierig gegenüber diesem Außenseiter.
»Och, die Grundlagen gehen ganz gut«, sagte Gregory bescheiden. »Du weißt schon, Dinge ein wenig bewegen, eine Oberfläche erwärmen. So Kram. Aber ich bin aufgeschmissen, sobald ich mich an etwas Komplexeres heranwage.«
Sie nickte ermutigend. »Du weißt, dass Dinge zu formen in Wirklichkeit nur eine Bewegung ist, oder?«
»Ich denke schon, aber ich bekomme das verdammte Ding nicht dazu, irgendeine Form anzunehmen.«
»Zeig es mir«, forderte sie geduldig.
Gregory konzentrierte sich auf den Lehm, seine Augen blitzten schwarz auf und er wirbelte mit ausgestreckten Zeigefingern darüber umher. Der Ton rollte gehorsam auf der Holzplatte hin und her. Als er seine Hand umdrehte und mit der Handfläche nach oben anhob, schwebte der Klumpen wackelig über der Tischplatte.
Mit Schweiß auf der Stirn ließ er ihn ein wenig herumwirbeln und schließlich wieder herabsinken. Hannah klatschte.
»Nicht schlecht, Gregory. Du hast die nötigen Fähigkeiten, du musst nur die Puzzleteile zusammensetzen. Hier, lass mich es versuchen.«
Sie hob ihre Hände über den Ton und bewegte ihr Finger wie über Klaviertasten. Gregorys Mund klappte auf, als der Ton willig Hannahs stummen Befehlen folgte. Innerhalb von Sekunden hatte Hannah eine nahezu perfekte Skulptur von Morgan, dem Deppen in der Reihe hinter ihnen, geschaffen.
»Heilige Scheiße , bist du gut!«, rief Gregory, was die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sie lenkte – auch die von Morgan.
Der Junge brauchte eine Sekunde, um zu erkennen, dass der Ton ihn widerspiegelte und er lächelte geschmeichelt. Doch dann schloss Hannah ihre Hand zur Faust und schwang sie Richtung Boden, sodass die Büste zu einer Art Kuhfladen gestampft wurde.
Ermutigt vom Gelächter der anderen Studenten lächelte Hannah fein und zwinkerte dem ungläubig dreinschauenden Angeber zu.
So viel zur Zurückhaltung am ersten Unterrichtstag , dachte sie.
»Ruhe!«, befahl Charlotte, die kaum von ihrem Buch aufsah. »Zurück an die Arbeit.«
Gregorys Mund hing immer noch offen. »Wie zum Teufel hast du das gemacht?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Keine große Sache. Ich hab’s dir doch schon gesagt und du hast bereits die Fähigkeiten, es selbst zu tun. Du musst nur deinen Kopf leeren, Fokus erzeugen. Auf dem Land gibt es nicht viel zu tun, außer das. Und ich hatte dabei keine Deppen wie Morgan oder Violet im Nacken. Wir kriegen dich schon so weit, eine Vase zu formen, oder was auch immer hier das Lernziel sein soll.«
* * *
Im Laufe des Kurses führte Hannah Gregory methodisch durch den Zauber, wie sie es von Ezekiel gelernt hatte und er machte mit ihrer Hilfe einige Fortschritte, sodass er bald immerhin eine Art Schale mit Henkeln geformt hatte.
»Gut«, feuerte Hannah ihn an. »Du hast den Dreh langsam raus, aber ich glaube, du versuchst es vielleicht zu sehr. Machen wir es mal so: Denk nicht an diese blöde Aufgabe. Wir plaudern einfach nur. Die Magie strömt auch unterbewusst weiter und zu viel Fokus kann eher dafür sorgen, dass du dich zu sehr verkrampfst.«
»Ähm, okay …«, sagte Gregory verwirrt. »Worüber sollen wir denn plaudern?«
»Weiß nicht. Erzähl mir von diesem Praktikum oder Stipendienclub oder was auch immer. Beweg einfach weiter deine Hände über dem Ton.«
Gregory biss auf seine Unterlippe und konzentrierte sich.
Hannah stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Sprich, Mann. Du überforderst den Lehm ja förmlich. Lass locker.«
Er schaute auf wie ein verstörtes Reh, welches das Wörtchen locker erst noch im nächsten Wörterbuch nachschlagen musste.
»Okay. Nun, das Praktikum ist vom Rektor erst zum Semesterstart eingerichtet worden. Er stellt ein spezielles Team von Studenten zusammen, die … glaube ich … Stellvertreter in wichtigen Positionen werden sollen oder so. Anscheinend hat er schon ein paar rekrutiert, Oberstufenschüler frisch nach dem Abschluss, aber jetzt sucht er auch jüngere Studenten.«
Während er sprach, begann der Ton schleichend seine Form zu verändern.
»Was macht man, wenn man da ausgewählt wird?«, hakte sie nach.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht … lernt man ja vom Rektor persönlich? Die Auserwählten werden jedenfalls vom Unterricht befreit. Violets älterer Bruder war einer von Adriens ersten Praktikanten, aber seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich glaube, Violet auch nicht. Was auch immer dieses Praktikum ist, es muss ihn wahnsinnig beschäftigt halten.«
Hannah runzelte die Stirn. Die Art, wie Gregory das formulierte, erinnerte sie an etwas, was Eleanor gesagt hatte. Parker war zu beschäftigt, um von der Fabrik nach Hause zu kommen.
Sie wusste nicht, was, aber Hannah wusste, dass daran etwas faul war. Es bestand eine Verbindung zwischen Adriens Praktikumsprogramm und Parkers neuem Job. Ihr Bauchgefühl lag selten falsch in solchen Dingen. Sie nahm sich vor, mehr herauszufinden, wechselte dann aber das Thema, um keinen Verdacht zu erwecken.
»Also, warum um alles in der Welt wolltest du überhaupt Magie studieren?«
Gregory bearbeitete den Lehm weiter, war jedoch ganz in ihr Gespräch vertieft. Der Ton nahm die Form eines Tiers an, als Gregory mit den Achseln zuckte.
»Schien mir einfach das Richtige zu sein. Ich meine, als Adliger hat man nicht viele Alternativen.«
Hannah konnte nicht anders, als darüber zu kichern. Ob er so etwas Dekadentes auch gesagt hätte, wenn er gewusst hätte, dass er sich mit einem armen Mädchen vom Boulevard unterhielt? »Erzähl mir mehr davon!«
»Ich hätte höchstens noch in die Politik oder die Wirtschaft gehen können, aber die einzige Möglichkeit, wirklich Gutes zu bewirken, liegt meiner Ansicht nach in dem Einsatz von Magie. Aber in meinem Lerntempo wird nie was aus mir werden.«
Hannah rümpfte die Nase. Natürlich hatte er theoretisch recht, doch hier an der Akademie würden sie ihn ja höchstens lehren, zur Unterwerfung Irths beizutragen. Diese Schafsherde von Nachwuchsmagiern war eben von Adrien völlig geblendet worden und Gregory hatte den einzigen Weg eingeschlagen, den man ihm geebnet hatte. Trotzdem schien er ein netter Kerl zu sein. Vielleicht konnte sie ihm helfen, die Wahrheit hinter der ganzen Propaganda zu erkennen.
»Hey, Fortschritt!«, lobte Hannah und zeigte auf sein Werk. »Eine Ziege, richtig?«
Seine Gesichtszüge entgleisten. »Eine Katze …«
Hannah lachte und Gregory schob selbstironisch grinsend seine Brille hoch.
»Keine große Sache. Arbeite weiter daran.«
Hannah lächelte, erfreut darüber, dass sie ihre Mission erfüllt und ihm nebenbei noch ein wenig Lockerheit mit auf den Weg gegeben hatte. Sie hatte erfolgreich die Akademie infiltriert, einen guten Draht zu Gregory aufgebaut und außerdem einige verdächtige Informationen erhalten.
Sie sah über die Schulter zu Violet, die sie förmlich mit Blicken durchbohrte.
Hätte ich mich dabei nur ein wenig zurückhaltender verhalten.