Dienstag, 27.02.2024

15:23 Uhr    Ich finde keinen Anfang. Die Psychologen sagen, ich soll alles aufschreiben. Sie sagen, dass es mir helfen wird, meine Gedanken zu ordnen. Das schreiende Chaos in meinem Kopf nach meinem Zusammenbruch zu beruhigen. Aber ich schaffe es nicht. Wie soll ich meinen Erinnerungen, meinen Gedanken je wieder trauen? Woher soll ich wissen, was wahr ist und was nicht? Ich kann mich auf nichts verlassen und am wenigsten auf mich selbst — was immer dieses »Selbst« noch sein soll. Ich bin ein Wirbel von unzusammenhängenden Splittern.

16:04 Uhr    Anne war da. Ich war zu schwach, um sie wieder wegzuschicken, obwohl sie mich belogen hat. Genau wie meine Eltern. Doch deren Schuld ist größer.

»Wir setzen dich wieder zusammen«, hat Anne gesagt. Ich hab geschwiegen. Ich weiß nicht, was ich von diesem Satz halten soll. Kann er doch so vieles bedeuten. Die Pflegerin hat mir eine neue Tablette gegeben. Die soll mich ruhiger machen.

Ich schlaf jetzt.

20:47 Uhr    Ich will es versuchen. Ich will schreiben. Ich habe keine andere Wahl. Ich bin es mir und meinen Geschwistern schuldig, nicht verrückt zu werden. Ob ich es auch meinen Eltern schuldig bin, weiß ich nicht. Manchmal glaube ich, dass es leichter wäre, verrückt zu werden, anstatt den Weg zurück in dieses Leben zu finden. Daran ändern auch die Medikamente nichts. Blaue und gelbe Pillen und Tropfen. Wenn ich so negativ denke, herrscht mich meine innere Stimme an. Beschimpft mich, ist ungehalten. Ich hätte allen Grund, glücklich zu sein, zischt sie. Und dankbar. Das auch. Trotz allem. Stell dich nicht so an!

Also raffe ich mich auf, greife nach dem Bleistift und dem Notizbuch und setze mich an den schmalen weißen Tisch, der vor dem Fenster steht. In der Hoffnung, dass es irgendwann da oben bei mir wieder funktioniert. Dass es klick macht und die Schaltkreise in meinem Gehirn, die Verzweigungen, Umleitungen wieder auf »normal« schalten, Sperren aufgehoben werden und ich glauben kann, was ich sehe. Eine Amsel zum Beispiel (immer kurz vor Mittag), die mit dem Schnabel gegen die Scheibe klopft. Ich traue mich nicht, ihr das Fenster zu öffnen, obwohl ich sie gerne hereinlassen würde. Sie sieht sympathisch aus, aber ich habe Angst, dass sie mit mir spricht.

Durch das Schreiben kann ich den »Schock« verarbeiten, sagt meine Bezugstherapeutin, Frau Gramm. Sie lobt mich. Zwei Seiten, immerhin. Alles muss raus, gibt sie als Parole für die nächsten Wochen aus. Unsortiert. Wie es kommt. Das befreit. Ich will ihr gerne glauben. Also werde ich schreiben.

Zeit spielt in meinem Zimmer keine Rolle. Nur die Wahrheit. In all ihren Fragmenten.

Mittwoch, 28.02.2024

09:12 Uhr    Die Psychologen hier denken, dass alles mit der Verhaftung unserer Eltern anfing. Mit dem Poltern an der Haustür, in der Dunkelheit, um fünf Uhr am Morgen. Mit lautem Geschrei. Mit vermummten Gestalten, Maschinenpistolen und Lichtkegeln von Taschenlampen, die durch das Treppenhaus huschten, wussten, wo das Zimmer unserer Eltern war. Mit Händen, die sie grob aus dem Bett rissen, auf den Boden warfen und in Handschellen abführten.

Dabei beginnt die Geschichte viel früher. Noch vor meiner Geburt. Das weiß ich mittlerweile. Mit der Neugierde unserer Eltern, beides Wissenschaftler. Aber so weit will ich heute nicht zurückgehen. So weit kann ich heute nicht zurückgehen, ohne dafür mit schrecklichen Kopfschmerzen zu bezahlen. Also beginne ich mit dem Tag des Umzugs. Mit heftigem Schneefall und leeren Straßen und einer Chipspackung, die im Wagen, in der Sitzreihe hinter mir, von meinem Bruder Farid aufgerissen wurde.

Das Geräusch kam mir unnatürlich laut vor. Der Geruch nach Paprika und Ketchup breitete sich explosionsartig im Wageninnern aus. Farid reichte die Packung an Yuma weiter, nachdem er sich eine Handvoll Chips genommen hatte.

Sie saß in der letzten Reihe. Yuma saß immer in der letzten Reihe. Das war ihr Stammplatz.

»Sind wir bald da?«, fragte Sina und nahm den Kopf von meiner Schulter. Der Unterton in ihrer Stimme war überraschend scharf. Daran erinnere ich mich noch genau. An den vorwurfsvollen Klang ihrer Stimme. Als würde Sina, der Seismograf unserer Familie, zum Sprachrohr meiner unterdrückten Wut werden. Sie presste ihre Stirn gegen das Gepäcknetz auf der Rückseite des Fahrersitzes. Ihre dünnen Arme baumelnd neben dem Oberkörper.

Sind wir bald da?, echote es in meinem Kopf.

Etwas an der Frage machte mich stutzig, holte mich aus meinem Dämmerschlaf zurück in die Wirklichkeit, wo es unter dem Chipsgeruch nach feuchtem Hundefell und Kaugummi mit Kirsch-Menthol-Geschmack roch. Eine eigenartige Mischung, die ich seit diesem Tag nie wieder gerochen habe. In meinem Bauch, jetzt wie damals, ein stärker werdendes Ziehen, als würde ich meine Tage bekommen. In meinen Ohren das Summen der Reifen, die ihre stumpfen Gummizähne in den Schnee gruben.

Ich beugte mich zwischen die Vordersitze, um das Navi sehen zu können, zögerte einen Moment und sagte mit gespielter Zuversicht: »Zwanzig Minuten.« Obwohl das Display die doppelte Zeit anzeigte.

Sina richtete sich auf, zog einen Schmollmund und ließ sich wieder in den Sitz zurückfallen. Auf ihrer Stirn ein quadratisches Muster. Meine Mutter nickte unauffällig in meine Richtung. Nur mein Vater und ich konnten dieses Nicken sehen. Eigentlich hasste sie es, wenn wir logen — grundlos logen —, aber in dem Fall ging es um das Wohl unserer sechsköpfigen Familie, und das stand über allem.

Sina, elf Jahre alt, war ungenießbar, wenn sie schlechte Laune hatte oder heimlich Diät hielt, weil sie sich nicht mit dem physischen Ende ihrer Kindheit abfinden wollte. Da halfen dann weder gutes Zureden noch über Gehirnwellen gesteuerte Hightech-Meditationsübungen, wie sie unser Vater mit seiner Firma entwickelte. Am besten, man ging ihr aus dem Weg, bis das aggressive Funkeln aus ihren Augen verschwunden war. Leider war das im Moment keine Option, weil wir zu sechst, eingepfercht zwischen Kleidersäcken, Bettzeug und einem halben Dutzend Koffer, in einem Camper saßen, der durch einen Tunnel aus umherwirbelnden Schneeflocken rollte. Windböen rüttelten am Wagen und klebten die feuchten Flocken über Schilder und Markierungen. Ein Blizzard hatte die Welt im Zeitraffertempo in eine konturlose weiße Einöde verwandelt. Blitz, Donner und Sturm im Winter. Dramatischer konnte uns der »Naturpark Südschwarzwald«, wie es auf einer Werbetafel in verstümmelten Buchstaben zu lesen war, kaum in Empfang nehmen. Alle paar Sekunden piepte der automatische Spurassistent, bis Paps im Menü des Bordcomputers endlich den richtigen Befehl gefunden hatte, ihn auszuschalten.

»Noch unübersichtlicher, und die Ingenieure hätten dafür einen Preis verdient.« Er widmete sich wieder dem endlosen Programmcode auf seinem Laptop. Was seine Konzentrationsfähigkeit betraf, war er unschlagbar. Wie in Trance tippte er in die Tastatur, als wäre er ein Komponist, ein tauber Beethoven, der den endlosen Code in seinem Kopf zu einer wohlklingenden Symphonie zusammenfügte. Wie bei vielen Leuten, die auf irgendeinem Gebiet außergewöhnlich talentiert und (wie er von sich selbst sagte) leicht autistisch waren, musste man auch bei unserem Vater nicht lange nach der Schattenseite seiner Inselbegabung suchen. Mit emotionalen Ausschlägen (egal, in welche Richtung) konnte er nicht gut umgehen. Waren die Ausschläge zu heftig, wirkte er schnell überfordert. Auf den Moment der Hilflosigkeit folgte eine schnelle Umarmung und — nachdem der erste Schock überwunden war — eine detaillierte Erklärung, wie die Krisensituation Punkt für Punkt am effektivsten zu bewältigen wäre. Für Yuma hatte Paps sogar mal ein Schaubild gezeichnet, als sich zwei ihrer Freundinnen in die Haare gekriegt hatten und sie nicht wusste, zu wem von den beiden sie halten sollte. Obwohl er es gut meinte, waren die wenigsten seiner Vorschläge im echten Leben zu gebrauchen. Menschliches Handeln folgte nun mal selten mathematischen Gesetzmäßigkeiten, auch wenn er das nicht wahrhaben wollte.

Aus den Lautsprechern plätscherte eine Mischung aus Jazz und Klassik. Cello, Klavier und Schlagzeug. Ermüdende Variationen über ein und dasselbe Thema. Unaufgeregt und harmlos. So ziemlich genau das Gegenteil von dem, was ich für den Übergang in dieses neue Leben am Ende der Welt für passend hielt. Aber der Fahrer (in dem Fall die Fahrerin) bestimmte das Programm, und die Akkus in meinen Ohrstöpseln hatten soeben den Geist aufgegeben. Um Sina von meinem Zeit-Betrug abzulenken, hielt ich ihr den Rucksack mit dem Reiseproviant hin. Sie drehte sich weg. Einen Versuch war es wert.

»Wir sind gleich da«, sagte ich und strich ihr eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie würde später einmal genauso aussehen wie unsere Mutter. Die vollen Lippen, der elegante schlanke Hals. Selbst die kleine Lücke zwischen den Schneidezähnen hatte sie von ihr geerbt. Nur die blauen Augen mit den gelben Einsprengseln und die helle Haut legten die genetischen Spuren zu unserem Vater. Etwas von seiner Ausgeglichenheit in ihrem Charakter wiederzufinden wäre mir an Tagen wie heute ganz recht gewesen.

Polly, unsere kleine Mischlingshündin, schnarchte zu Sinas Füßen. Im Traum bewegten sich ihre Pfoten, als würde sie rennen. Fiepende Geräusche drangen aus ihrem Maul. Schwer zu sagen, ob es sich um einen Albtraum handelte oder eine Erinnerung an früher, als sie noch jung gewesen war und stundenlang mit anderen Hunden herumtollen konnte. Wenn möglich, sollte man sie nicht aufwecken. Das hatte uns Mum, die mit Hunden und Katzen aufgewachsen war, schon früh beigebracht. »Träume sind für Hunde wie eine Parallelwelt. Vor allem alte Hunde, die viel schlafen, finden dort ein zweites Zuhause, das ihr Leben bereichert und sie auch Schmerzen vergessen lässt.«

Ungeduldig wischte Sina ein Guckloch in die beschlagene Scheibe. Ihr Anblick steigerte meine eigene Unruhe. Gleich am Montag mussten wir in die neue Schule gehen, ein Internat, das auch externen Schülern aus der Gegend den roten Teppich ausrollte, wenn sich die Eltern die Gebühren leisten konnten oder sie sich durch »herausragende schulische Leistungen oder besonderes soziales Engagement« für ein Stipendium qualifiziert hatten. Außer Sina erfüllte keiner von uns diese Voraussetzungen. Aber bei vier Kindern gab es mit Sicherheit Mengenrabatt. Auch wenn sie es nicht offen sagten, war es unseren Eltern wichtig, dass wir eine gute schulische Ausbildung bekamen, um später an die entsprechenden Unis (Cambridge, Oxford, Yale, jedenfalls irgendwo draußen in der weiten Welt) gehen zu können. Manchmal kam es mir so vor, als wollten sie sich beweisen, dass Umfeld, Erziehung und Bildung die ausschlaggebenden Faktoren waren, um Kindern eine glückliche Zukunft zu bieten, und nicht die Herkunft. Gegenüber öffentlichen Schulen, egal, ob Stadt oder Land, waren sie skeptisch eingestellt. Weil das Internat zum selben Bildungskonzern gehörte wie die anderen Schulen, auf denen wir bisher gewesen waren, ging der Wechsel problemlos über die Bühne. Sogar die Namen und Passwörter unserer Accounts blieben dieselben.

»Hast du schon die Schokokekse probiert?«, fragte ich an Sina gerichtet. »Die sind verdammt lecker.«

Sie wandte sich mir zu, traf mich mit einem wütenden Blick und schüttelte energisch den Kopf. »Nein.«

»Dann wäre jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Zwischenmahlzeit.« Ich weiß nicht, warum ich sie unbedingt provozieren wollte. Irgendwas an der Situation und Sinas Verhalten kam mir merkwürdig vor. Jedenfalls ging ich näher an ihr Ohr und flüsterte mit Nachdruck: »Oder wann hat das Fräulein das letzte Mal etwas gegessen?«

»Du bist gemein, hundsgemein!«, gab sie zurück.

»Ich will nur dein Bestes. Immer nur dein Bestes.«

»Gib schon her, nervige große Schwester.« Sie riss mir den Rucksack aus der Hand und zog den Reißverschluss auf. Widerwillig nahm sie die zerfledderte Kekspackung heraus und bediente sich. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie sie mit den Zähnen den Schokoladenguss von der Oberseite eines Kekses abschabte, bevor sie ihn — ohne länger als nötig zu kauen — hinunterschlang und sich ihr Gesicht etwas entspannte. Nur der Hunger, dachte ich. Die Aussicht auf ein eigenes Pferd war ein kluger Schachzug gewesen, um ihren Widerstand zu brechen, als sie nicht umziehen wollte. Farid und ich, wir beide hatten uns bis zum Schluss gegen diesen Umzug gewehrt. Selbst dann noch, als unsere Eltern den Spieleinsatz auf unmoralische Weise um neue Laptops und Handys erhöht hatten. Im Ratgeber für Adoptiveltern mussten sie das Kapitel übersprungen haben, in dem es um Geborgenheit, Heimat, ein sicheres Umfeld und solche Sachen ging. Auch wenn unsere Wohnsituation mit jedem Umzug luxuriöser wurde — eigene Zimmer, größere Zimmer, eigener Fernseher, eigener Computer und so weiter —, war es schwer zu begreifen, dass unsere Eltern mit jedem Job auch gleich noch den Wohnort wechseln mussten. Mal war es unser Vater, dem die Leitung eines Biotech-Start-ups angeboten wurde, dann war es unsere Mutter, die nach einer neuen Herausforderung suchte oder, wie im jetzigen Fall, nicht länger in der stressigen Notaufnahme eines Krankenhauses arbeiten wollte. Das Ankommen und Abschiednehmen, neue Freunde zu finden, verbunden mit dem haltlosen Versprechen, in Kontakt zu bleiben, hatte etwas Zermürbendes. Nur an Yuma schien das nomadenhafte Umherziehen unserer Familie spurlos vorüberzugehen. Sie war die Gelassenheit in Person. Alles, was geschah, bekam einen positiven, manchmal altklug oder nach Räucherstäbchen und Esoterik klingenden Anstrich. In der Bereitschaft, ihre eigenen Bedürfnisse einem elterlich bestimmten Gemeinwohl unterzuordnen, war sie uns weit voraus. Kein Murren, kein Klagen. Solange die Familie zusammenhielt, war Yuma zufrieden. Heimat war für sie der Ort, an dem unsere Sippe ihre Zelte aufschlug.

Ihre dunkelbraunen Augen leuchteten jetzt voller Zuversicht, als sie ihre Online-Zeit dafür aufbrauchte, um amüsiert durch TikTok-Filmchen zu scrollen, während der Scheibenwischer hinter ihr graue Schlieren über unser altes Leben in der Großstadt fächerte.

Zweitausend Einwohner, vier Museen, eine Burgruine, ein Internat, ein Eiscafé, zwei Hotels, mehrere Kneipen, Restaurants, Dönerläden, eine Kirche, zwei Bäcker und ein E-Bike-Verleih. Das waren nicht nur statistische Größen, das waren die Vorboten der Langeweile. Dazu Tannenwipfel und enge Täler, Felder und Wiesen und Aussiedlerhöfe, die wie Satelliten um einen dünn besiedelten Planeten namens St. Engbert kreisten.

»Ich muss mal, und schlecht ist mir auch«, quengelte Sina weiter.

Paps blickte von seinem Computer auf. »Warum bist du vorhin an der Raststätte nicht aufs Klo gegangen, Liebes?«

»Weil ich da noch nicht musste!« Sina blickte zu Yuma und Farid. »Bin ich wirklich die Einzige, die aufs Klo muss? Ist das euer Ernst?«

»Ich muss auch, kleine Schwester«, erklärte sich Farid solidarisch.

»Danke.«

»Okay«, seufzte Mum, die nicht Mum oder Ma genannt werden wollte, sondern Mama oder Sibel. »Bei der nächsten Möglichkeit halte ich an.«

Auf Befehl des Navis verließen wir den Kreisverkehr und nahmen die zweite Ausfahrt. Die Anzeige im Armaturenbrett blinkte rot auf. Ein Reifensymbol erschien. Der Wagen machte einen heftigen Schlenker. Der Kopf meines Vaters schwang hin und her. Das Automatikgetriebe plärrte auf und schaltete einen Gang tiefer, um den steilen Anstieg zu bewältigen. Schroffe Felswände, die mit Stahlnetzen überspannt waren, erhoben sich rechts von uns. Die schneebedeckte Straße schlängelte sich in Serpentinen nach oben. Kurve um Kurve.

»Da ist ein Parkplatz angeschrieben«, rief Farid über unsere Köpfe hinweg. »Noch fünfhundert Meter.« Er wuschelte Sina durchs Haar. Das durfte nur er, kein anderer in der Familie. Ihre langen, glänzend blonden Haare waren ihr Heiligtum. Farid war ihr Beschützer. »Halte durch, Prinzessin.«

Wie aus dem Nichts tauchte hinter uns ein schwarzer Jeep auf, aus dem lauter Hip-Hop dröhnte. Der Wagen fuhr dicht auf, überholte uns wie auf Schienen und scherte kurz vor der nächsten Kurve wieder ein, als wollte er einen Unfall provozieren. Schneematsch klatschte gegen unsere Frontscheibe und versperrte die Sicht. Die Scheibenwischer stockten, die Belüftung drehte hoch. Trotzdem beschlugen die Scheiben. Mum ließ ihr Fenster herunter. Zigarettenrauch streifte meine Nase. Es roch nicht bitter, sondern süßlich. Es roch nach Cannabis. Wieder das rote Blinken im Armaturenbrett, greller als vorhin, begleitet von einem ansteigenden Warnton.

»Idiot!«, schimpfte Mum und trat hart auf die Bremse. Ein Ruck durchlief den Wagen. Tannenwipfel schwankten uns entgegen. Das Heck brach aus. Der Camper stellte sich quer und rutschte seitwärts auf die Leitplanke zu. Dahinter ging es steil nach unten. Dreißig Meter, vierzig. Räder suchten Halt auf matschigem Grund. Vergeblich. Bremsenstottern laut wie Hammerschläge. Das alles geschah in extremer Zeitlupe. Bild für Bild für Bild. Polly jaulte einmal kurz auf und kroch unter die Sitzbank.

Ich dachte an den Tod, und in mir regte sich nichts.

Ich dachte an das Ende und war neugierig auf die Brücke, von der Yuma neulich erzählt hatte. Die gläubige Yuma, meine geliebte Schwester.

Eine kitschige rosenverzierte Brücke. Eine Bogenbrücke.

Der Übergang vom Hier zum Dort. Die Verbindung.

Angst spürte ich nicht. Wenn sie da war, wurde sie von einer unsichtbaren Wand abgeblockt.

Ich war am Leben, mit allen Sinnen war ich am Leben, aber nicht dazu bereit, für das Überleben zu kämpfen, nach einem Ausweg zu suchen, falls es den gab. Kein Adrenalin, das in meine Adern schoss, meinen Selbsterhaltungstrieb aktivierte und mich dazu zwang, gegen das Unvermeidliche anzukämpfen, Heldin zu sein. Kein Impuls, mich an der Kopfstütze des Vordersitzes festzuklammern, als sich der Wagen um die eigene Achse drehte.

Ich war da und gleichzeitig nicht.

Ich war ich und gleichzeitig eine andere.

Vor meinem geistigen Auge sah ich den Wagen durch die Leitplanke brechen und in die Tiefe stürzen. Ich hörte Schreie. Spürte Sinas Fingernägel, wie sie sich in meinen linken Arm krallten. Sah Körper, unsere Körper, mit Gliedmaßen aus Gummi, die in Sicherheitsgurte geworfen wurden.

Dann.

Harter Schnitt.

Außenperspektive.

Der Wagen schlitterte erneut über die Fahrbahn, als würde die Szene ein zweites Mal abgespielt. Eine neue Version. Eine Wiederholung.

Ein lauter Knall. Der Wagen bockte wie ein scheues Pferd.

Aufblende.

Ich saß wieder auf der Rückbank.

Ich sah Mum. Ihre Hände, wie sie das Lenkrad mit Gewalt herumrissen. Im Rückspiegel: ihre vor Panik geweiteten Augen.

Yuma stieß einen gellenden Schrei aus.

Angst.

Der Geruch von Angst.

Schwarz.

Die Farbe Schwarz.

Dunkelstes Schwarz mit ausgefransten Rändern.

Fremde Angst.

Die Finsternis riss auf.

Helligkeit. Dahinter ein flirrendes Muster, das pulsierend an Schärfe gewann, als würde es in Zeitlupe näher kommen oder: als würde ich ihm entgegenfallen.

Der Sturz verlangsamte sich.

Steine. Grob behauen, in unterschiedlichen Farben und Größen. Stumpfe Glasstücke am Strand. Undurchsichtig und kalt. Salz auf der Zunge. Ein Tuch. Schmutzig weiße Spitze mit Brandlöchern, durch die mir fremde Augen feindselig entgegenstarrten.

Was ist mit dem Kind?, fragte eine Stimme, eine Männerstimme, die ich nicht kannte.

Was sollen wir mit ihm machen?

Entscheide du.

Carolin Marquart    Die ersten Gespräche liefen alle über Zoom, haben Sie gesagt. Welchen Eindruck hatten Sie von Frau Dr. Simwe?

B.    Nett. Sehr gebildet und wortgewandt, ruhig und nett. Und sie sah so jung aus, so unglaublich jung. Das macht wahrscheinlich der dunkle Teint, wenn man das so sagen darf. Da sieht man ja kaum Falten.

Carolin Marquart    Wie war die Stimmung in der Gemeinde vor der Ankunft? Können Sie sich daran noch erinnern? Sie als Ortsvorsteherin haben da ja bestimmt einen guten Einblick.

B.    Wir waren natürlich alle gespannt auf die Familie. Aber vor allem waren wir froh darüber, dass die Praxis von Dr. Felber doch nicht geschlossen werden musste, dass uns diese Katastrophe erspart blieb. Das nächste Krankenhaus liegt ja nicht gerade um die Ecke, müssen Sie wissen. Das ist der Nachteil, wenn man so weit draußen wohnt. Vor und während der Pandemie war es quasi aussichtslos, jemanden Geeigneten zu uns aufs Land zu locken. Selbst mit großzügigen Prämien war da nichts zu machen. Vor allem die jungen Menschen haben ja Angst, auf dem Land zu versauern. Dabei haben wir hier alles, was es braucht, um glücklich zu sein. Auch schnelles Internet.

Carolin Marquart    Lassen Sie uns über die Familie sprechen. Wie war Ihr erster Eindruck? Was haben Sie gedacht, als Sie die Kinder zum ersten Mal gesehen haben? Woran können Sie sich erinnern?

B.    Was ich gedacht habe? Na ja, die Umstände waren ja besondere (seufzt). Es tat uns allen schrecklich leid, dass die Familie den Unfall hatte, nur weil so ein verwöhnter Bengel aus dem Internat vor seinen Freunden mit seinem neuen Wagen angeben wollte. Ein Riesenglück, dass die Leitplanken gehalten haben. Nicht auszudenken, was sonst hätte passieren können. Eines der Mädchen hat geschrien wie am Spieß, nachdem der Unfall passiert ist. Sie ist davongerannt. Hatte schlimmes Nasenbluten. Das hat mein Mann erzählt. Daran erinnere ich mich noch. Er ist bei der Freiwilligen Feuerwehr, müssen Sie wissen. Daher kennt er auch den Jungen, diesen Farid, ganz gut. Der Junge hat Anschluss im Dorf, bei den anderen Jugendlichen, gesucht. Er wollte irgendwo dazugehören …

Carolin Marquart    Hat Ihr Mann vielleicht gesagt, welches der drei Mädchen nach dem Unfall geschrien hat?

B.    Ich glaub, es war Yuma, aber sicher bin ich mir da nicht. Es war ja seine erste Begegnung mit den Kindern.

Carolin Marquart    Nicht vielleicht die Jüngste?

B.    Sina? Nein, ich … ich glaube nicht. Das hätte er sich gemerkt. Wie geht es Sina denn? Wissen Sie, wo der kleine blonde Engel jetzt ist? Sie war so ein nettes, so ein hübsches Mädchen. Hat zusammen mit Yuma in der Kirche geholfen, und singen konnte die Kleine, dass es einem die Tränen in die Augen getrieben hat. Stimmt es, dass sie es war, die die Polizei gerufen und ihre eigenen Eltern hat verhaften lassen?

Carolin Marquart    Soweit ich weiß, hat die Polizei anderweitig Hinweise bekommen, aus dem Ausland. Im Zuge von internationalen Ermittlungen.

B.    Dann ist das mit der Sekte vielleicht doch nicht nur ein Gerücht? Wie schrecklich. Wie schrecklich, dass Eltern ihren eigenen Kindern so etwas antun.

Carolin Marquart    Von einer Sekte weiß ich nichts. Können Sie mir vielleicht sagen, woher Sie das haben? In meiner Reportage will ich ja auch darüber schreiben, wie ein ganzes Dorf nach der Wahrheit sucht und was die mediale Aufmerksamkeit mit den Menschen hier gemacht hat. Das soll ja alles mit einfließen.

B.    Ungern.

Carolin Marquart    Ich werde Sie natürlich außen vor lassen. Aber es wäre wichtig, die einzelnen Quellen zu verfolgen. Der Prozess hat ja noch so viele Fragen offengelassen. Es wäre auch wichtig für die älteste Tochter. Für Espe. Sie hat ja sehr schwer zu kämpfen mit den Folgen.

B.    Sie haben Kontakt zu Espe? Das arme Ding. Die Wahrheit kann manchmal so schrecklich sein. Wie geht es ihr denn?

Carolin Marquart    Das weiß ich nicht genau. Aber vermutlich werde ich sie treffen, wenn ich das Okay von ihren Eltern bekomme und sie dazu bereit ist.