Donnerstag, 29.02.2024
09:26 Uhr Vor dem Frühstück Sport gemacht. Eine halbe Stunde, zusammen mit Laura (Magersucht) und Josip (Angststörung) im langsamen Dauerlauf durch den Park. Hab das Gefühl, dass die neuen Medikamente aus mir einen Zombie machen. (Haben Zombies wirklich nur ein Geschlecht? Haben Zombies Sex?) Kann nicht weinen, wenn mir danach ist. Tränen werden von einer unsichtbaren Schranke zurückgehalten. Also schreibe ich in mein Notizbuch und male Tränen an den Rand, dicke Tropfen, als wäre ich ein kleines Kind.
Meine Eltern haben auf der Station angerufen. Ich will nicht mit ihnen reden, auch wenn ich jetzt wieder dürfte. Es gibt nichts zu reden. Ich muss erst wieder denken können. Und fühlen. Und so lange will ich keinen aus meiner Familie sehen. Auch wenn es wehtut.
Die eingedrückte Front des Vans war repariert, keiner verletzt, und Yumas Panikattacke und ihre Schreie waren fast vergessen. Nur das Bild der schmutzigen Tischdecke wollte mir nicht aus dem Kopf gehen. Und diese glasigen Augen, die mich angestarrt hatten. Sobald ich sie vor mir sah, hatte ich den Impuls, mich irgendwo zu verstecken, und bekam Gänsehaut. Ich versuchte, mich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass die Erinnerung noch aus meiner frühesten Kindheit, aus der Zeit im Waisenhaus stammen musste. Vielleicht hatte ich mich dort mal unter einem Tisch versteckt. Vielleicht war es ein Spiel gewesen.
Auf einem Bild in meinem Fotoalbum waren am Rand graue Bodenfliesen zu erkennen, die von farbigen Steinen durchsetzt waren. Doch der Tisch dort, neben der Nonne, die freundlich in die Kamera blickt und mich an meinem speckigen Arm hält, hatte keine Tischdecke.
Auch Polly hatte den Schock des Aufpralls noch nicht überwunden. Sie folgte Yuma auf Schritt und Tritt, wich ihr nicht mehr von der Seite, als müsste sie zur Stelle sein, wenn meine Schwester das nächste Mal die Kontrolle verlor. Seit dem Unfall, der mit Feuerwehr, Polizei und Rettungskräften das halbe Dorf in Alarmbereitschaft versetzt hatte, wollte Polly sogar in Yumas Bett schlafen, was bisher Sinas Privileg gewesen war. Das Privileg der Jüngsten. So hatte ich mir das immer erklärt.
Polly war kurz nach Sinas Geburt zu unseren Eltern gekommen. Als Welpe. Irgendein herzloser Mensch hatte sie zusammen mit ihren drei Geschwistern im Abfallcontainer eines Burgerrestaurants entsorgt. Polly hatte sich unter einem Stück Alufolie versteckt und halb verdurstet in der sengenden Mittagshitze überlebt. Als Einzige. Das war noch in den USA gewesen, in der Nähe von Boston, wo unsere Eltern an der Uni gelehrt hatten, bevor sie mit vier Kindern und einem Hund nach Deutschland zurückgekehrt waren.
Von den ersten Tagen nach Pollys Rettung gibt es eine Serie mit fünf Bildern. Darauf ist sie als winziges graues Wollknäuel mit entzündeten bernsteinfarbenen Knopfaugen zu sehen. Schlafend in einer großen Transportbox, in einem Meer aus blauen und weißen Decken. Jedes Mal, wenn ich diese Bilder anschaue, denke ich daran, wie zufällig dieses Leben ist. An welchem Ort man geboren wird, in welchem Haus, bei welchen Eltern.
Alles Zufall.
Die kleinformatigen Bilder von Pollys zweiter Chance kleben auf den ersten Seiten von Sinas Fotoalbum. Die Ankunft der beiden lag ja nur wenige Wochen auseinander. Unser Vater hatte das Album mit dem beigefarbenen Leineneinband kurz nach Sinas Geburt angelegt. Dasselbe hat er später auch für uns Adoptivkinder getan. Für jeden von uns. Mit derselben Sorgfalt. Versehen mit Daten und Bildunterschriften und feierlich geschwungenen Buchstaben aus königsblauer Tinte. Jedes Album reicht bis zum Ende der Grundschule. Nicht nur Fotos finden sich darin, sondern auch Erinnerungsstücke, Relikte, die eine Verbindung zu dem Ort haben, an dem das zweite Leben von uns Waisen in den Armen der neuen Eltern beginnt.
Bei mir ist es das abgerissene, leicht gewellte Stück Karton mit meinem Namen drauf (mit Haarspray konserviert), bei Yuma sind es getrocknete Blumen, die zur Zeit ihrer Adoption im Garten des ehemaligen Dominikanerklosters geblüht haben, wo sie die ersten Jahre ihres Lebens in einem Waisenhaus verbracht hatte. Bei Farid war es ein verschrumpeltes blaues Plastikarmband mit Barcode und eine flache Figur aus ungebranntem Ton, die aussieht wie eine Frau im langen Kleid, die mit ausgebreiteten Armen dem Himmel entgegentanzt.
Zur Tradition unserer Familie gehörte es, an Geburtstagen das eigene Album aus dem Regal zu holen und es gemeinsam anzuschauen, besser gesagt, zu bestaunen. Unsere Eltern erzählten dann, wie glücklich sie waren, als sie uns das erste Mal gesehen haben. Dass es Liebe auf den ersten Blick war und solche Sachen. Ich glaube, dieses Ritual war jedem von uns Kindern wichtiger als das Zerschlagen der Piñata vor dem Essen und die Geschenke danach.
Mum sagte, dass Pollys Verhalten normal sei. Durch die Panikattacke von Yuma seien ihre Mutterinstinkte geweckt worden. Polly habe Yuma als schwächstes Glied in unserem Rudel identifiziert.
»Wahrscheinlich genügt es, wenn Yuma ihr auf spielerische Weise zeigt, dass sie keinen besonderen Schutz braucht und wieder die Alte ist.«
Doch das war nicht so. Yuma war nicht mehr die Alte. Meine Schwester hatte sich quasi über Nacht verändert. Mit der Ankunft in St. Engbert schottete sie sich ab. Sie war da und doch nicht. Sie war ein mürrischer Geist mit langen schwarzen Haaren, dem man am besten aus dem Weg ging. Als hätte sich durch den Unfall ein Schalter in ihrem Kopf umgelegt, wirkte sie auf eine Weise ernst und verschlossen, wie ich es nicht von ihr kannte. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen, als würde sie kaum schlafen. Die Mundwinkel trocken und eingerissen. Mum gab ihr Vitamin- und Eisentabletten, die Yuma nicht anrührte. Paps stellte ihr frisches Obst hin, klebte Post-its mit lustigen Strichmännchen und Smileys auf Orangen und Bananen, um Yuma zu zeigen, wie wichtig sie ihm war.
Nicht mal ihr Bett hatte Yuma bisher aufgebaut. Keine Regale an die Wände gehängt, keinen ihrer Teppiche ausgerollt. Obwohl sie normalerweise die Erste war, bei der alles am richtigen Platz stand. Das Einzige, wofür sie ihr handwerkliches Geschick nutzte, war ein großes »Betreten verboten«-Schild aus Pappe, das schief an einem Haken neben ihrer Zimmertür hing und mit drohenden Ausrufezeichen versehen war. Yuma schlief auf ihrer harten Futon-Matratze, eingeklemmt zwischen Kartons, Klamotten, Büchern und ihren Zeichensachen. Unsere Hilfe lehnte sie ab. Offiziell hatte bisher nur Sina ihr Zimmer betreten. Yuma nannte den großen rechteckigen Raum mit den beiden Bogenfenstern und der hellen Stuckdecke verächtlich »Lager« oder »Kammer«, je nachdem, was sie in Gegenwart unserer Eltern für das treffendere Wort hielt, um sie zu provozieren. Unsere Versuche, sie zum Reden zu bringen, um dahinterzukommen, was mit ihr los war, ob es mit dem Unfall zu tun hatte, endeten meist mit Beschimpfungen, Türenschlagen und Vorwürfen.
Yuma ließ keine Gelegenheit aus, um ihrem Unmut Luft zu machen, Regeln zu brechen und gegen unsere Eltern zu rebellieren. Sie hatte sich so darauf gefreut, geradezu euphorisch war sie gewesen, als Mum uns die ersten Fotos von der Landarztpraxis und dem Gutshof gezeigt hatte. Ständig hatte Yuma Storys vom Schwarzwald und seinen Sehenswürdigkeiten gepostet. Doch mit dem Tag des Einzugs hatte sich ihre Euphorie ins Gegenteil verkehrt. Bei jeder Gelegenheit gab sie uns zu verstehen, wie unwohl sie sich »am Arsch der Welt«, inmitten unzivilisierter »Dialekt sprechender Neandertaler« fühlte. Ich hatte sie noch nie so abschätzig über andere Menschen reden gehört. Das passte gar nicht zu ihrem empathischen Wesen. Das war nicht die Yuma, die ich kannte. Nur mit dem Unfall ließ sich ihre plötzliche Verwandlung nur schwer erklären. Auch wenn sie in den Sekunden vor dem Aufprall vielleicht Todesangst gehabt hatte, wie Mum mutmaßte, und länger brauchte als wir anderen, um den Schock zu überwinden, musste es noch eine andere Erklärung für ihr verändertes Verhalten geben. Aber Yuma redete nicht. Sie wollte nicht reden. Deshalb versuchte es unser Vater mit einem Trick, der vielleicht auch keiner war. Am Morgen hatte der genervte Paketbote die Prototypen der neuen VR-Brillen gebracht und die Spezialauflagen für die Liegen, auf die Paps so sehnsüchtig gewartet hatte. Sobald der linke Flügel im Gutshaus fertig renoviert war, würde er seine Software zum ersten Mal unter idealen Bedingungen testen können und die letzten Anpassungen vornehmen. Bis es so weit war, musste das große Wohnzimmer als Testraum herhalten. Wir Kinder waren seine Probanden und stolz darauf. Die Auflagen waren aus einem speziellen Schaumstoff, der sich unter Druck aufwärmte und an den Körper anpasste. Davon hatte Paps uns erzählt. Wie üblich wollte er die neuen Sachen so schnell wie möglich ausprobieren. Am späten Nachmittag, draußen war es schon dämmrig, rief er uns ins Wohnzimmer. Farid hatte im großen offenen Kamin ein Feuer angezündet. Unsere Mutter hatte ihn gebeten, nicht zu übertreiben, aber Farid fand Gefallen daran, die viel zu kleinen Holzscheite wie beim Jenga übereinanderzustapeln und dabei zuzusehen, wie sie von den Flammen, zischend und fauchend, verschlungen wurden. Nur mit den Heizkörpern unter den Fenstern bekam man den großen rechteckigen Raum nicht warm. Auch in den anderen Räumen war es ein Problem, die Temperatur konstant über achtzehn Grad zu halten. Deshalb hatten unsere Eltern in elektrische Heizdecken investiert, die man wie Ponchos überziehen konnte. Bis zum nächsten Winter wollten sie das Haus nachrüsten, versprachen sie uns hoch und heilig.
Als ich das Wohnzimmer betrat, lagen die Matten bereits im Halbkreis auf dem dicken Perserteppich vor dem Kamin. Vier Matten. Am Fußende, sauber zusammengefaltet, hellbraune Wolldecken, davor jeweils eine VR-Brille, klobige Kopfhörer und ein Gewirr aus Kabeln, das zu den beiden Laptops führte, die auf dem Glastisch vor dem großen Sofa standen. Ich wunderte mich, dass Yuma gekommen war. Nach dem, wie sie sich beim Mittagessen aufgeführt hatte, hatte ich nicht mit ihr gerechnet.
»Die sehen ja jetzt viel kleiner aus«, sagte Farid bewundernd und setzte eine der VR-Brillen auf.
Sina folgte seinem Beispiel. »Ich sehe, dass ich nichts sehe«, sagte sie lachend, legte sich auf die Matte und ließ sich von Farid zudecken.
»Ist das die neueste Version?«, fragte Yuma skeptisch. »Und wie werden jetzt die Hirnwellen gemessen?«
»Vorerst gar nicht«, antwortete Paps ruhig. »Heute gibt es nur Sound und Bilder, um zu entspannen.«
»Das heißt, wir sehen alle dasselbe?«, hakte Yuma nach.
»Ja, das heißt es.«
»Der Test bringt also keine neuen Erkenntnisse?«
»Doch, aber vor allem auf physischer Ebene. Es würde mich interessieren, wie sich die Auflagen anfühlen, ob ihr das Gefühl habt, dass der Spezialschaum euch beim Entspannen unterstützt. Und die VR-Brillen arbeiten jetzt mit einem feiner abgestimmten Lichtspektrum.«
»Na gut«, sagte Yuma, setzte die Brille auf und streckte sich auf der Matte aus. »Wegen mir kann’s losgehen. Ich bin bereit.«
Farid und ich tauschten Blicke. Wir konnten uns keinen Reim auf Yumas Verhalten machen. Jedes Wort, das aus ihrem Mund kam, klang hart und patzig. Und der Ausdruck in ihrem Gesicht war arrogant. Polly schien das nicht zu stören. Sie quetschte sich in die Lücke zwischen uns beide, schlief sofort ein und begann zu schnarchen.
Sobald man die neue, deutlich leichtere VR-Brille aufgesetzt hatte, dauerte es einige Sekunden, bis sich die Augen an die leicht gekrümmte Fischaugenperspektive gewöhnt hatten. Währenddessen wärmte sich die Matte auf, wurde weich und schmiegte sich von allen Seiten an den Körper. Das Spezialglas der Brille war halb durchlässig. Das Bild auf dem gewölbten Monodisplay ergänzte die Wirklichkeit und umgekehrt. Aus der Bodenperspektive sah der Kronleuchter an der Decke fast bedrohlich aus. Zuerst erschien ein tiefblauer Himmel im Display mit langsam vorbeiziehenden Schäfchenwolken. Sanfte Windgeräusche drangen durch die Kopfhörer. Das Knistern des Feuers blendete aus. Kaum hatten sich die Augen an die gemischte Realität gewöhnt, verdunkelte sich das Display. Wie im Zeitraffer war die Nacht über die virtuelle Welt hereingebrochen. Ein Sternenhimmel wölbte sich über mir. Polarlichter an den Rändern. Der tiefe Blick in die Galaxie. Immer mehr Sterne, je länger man hinschaute, wie in der Natur, nur ohne den Lichtnebel der Straßenbeleuchtungen. Die Augen gewöhnten sich an die dunkle Umgebung. Dann erloschen die Sterne, einer nach dem anderen. Übrig blieb ein einzelner heller Lichtpunkt, ein langsam pulsierender Fixstern. Der Stern wurde dreidimensional und größer, flog auf einen zu, bekam glänzende Flächen und Kanten und sah wie eine doppelte Pyramide aus. Kurz passierte gar nichts, dann begann der Stern zu vibrieren, wie Icons auf dem Handy, wenn man sie verschieben will, und sendete im Wechsel blaue und violette Lichtreflexe aus. Ein wärmender Strom. Ich zuckte kurz zusammen. Unsichtbare Finger bewegten sich tastend über meine Wirbelsäule nach oben. Das fühlte sich gut an. Meine steife Muskulatur wärmte sich auf und wurde lockerer. Mein Atem wurde tiefer. Plötzlich roch es nach Citrus und Rosmarin. Ich fragte mich, wo der Duft herkam, ob er Einbildung war oder ob Paps wieder mit irgendwelchen Raumsprays experimentierte. Zusammen mit dem Geruch des Feuers ergab sich eine besondere Mischung, die meinen Puls langsamer werden ließ. Die Doppelpyramide vor meinen Augen entfernte sich, wurde zu einem unscharfen Punkt am fahlen Horizont. Ein Punkt, der sich hektisch und im Zickzack bewegte, wie eine Stubenfliege unter dem Lampenschirm. Meine Pupillen folgten den wie zufällig aussehenden Flugmanövern ganz automatisch. Der Punkt wurde von Sekunde zu Sekunde langsamer, die Bewegungen runder, als würde er zur Ruhe kommen. Und diese Ruhe übertrug sich auf mich. Irgendwann erinnerte die halbrunde Bewegung an ein Pendel, von einer unsichtbaren Schnur gehalten, gefolgt von einem violetten Glitzerschweif. Sternenstaub, dachte ich. Ein Wort wie aus einem Märchen. Ich sank noch tiefer in die warme weiche Liege. Seit Mum erklärt hatte, dass alle Materie von den Sternen stammte, gab es für Sina nur noch Lebewesen aus Sternenstaub. Das klang poetischer als Kohlenstoff. Passend zu dieser romantischen Vorstellung hatte ihr Yuma einen Song von Joni Mitchell auf unsere gemeinsame Playlist gesetzt. Irgendwann konnte jeder von uns die Zeilen des Refrains auswendig, weil Sina sie bei jeder Gelegenheit sang:
We are Stardust, we are golden,
And we’ve got to get ourselves back to the Garden.
Während ich im Kopf Sinas glockenklare Stimme hörte, fühlte es sich richtig gut an, einfach nur dazuliegen, der Blick dem pendelnden Stern folgend, das Kommen und Gehen der Gedanken, dieser schlafähnliche Zustand. Da und doch nicht. Körperlos. Irgendwann hatte es sich wie ein Schweben angefühlt. Diesen besonderen Moment nannte unser Vater »Floating Experience«. »Ein Moment absoluter Ruhe und Geborgenheit«, wie im Imagefilm seiner Firma eine Frauenstimme säuselte.
Ich wollte mich gerade dem sanften Gleiten über eine blühende Sommerwiese hingeben, dem Summen der Bienen und dem Plätschern eines Bachlaufs, der sich glitzernd über die Wiese schlängelte, als mein Körper unwillkürlich zusammenzuckte. Nicht nur einmal, so wie manchmal kurz vor dem Einschlafen, sondern mehrmals hintereinander. Die Erde brach auf. Unter mir klaffte ein dunkles Loch. Kurz schwebte ich über dem Loch, bevor ich das Gefühl hatte zu fallen, von einer unsichtbaren Ebene auf die nächste. Endlos zu fallen. Und ich konnte den Fall nicht stoppen. Oder wollte ich ihn nicht stoppen? Wollte ich in die Tiefe stürzen? Wollte ich sehen, was mich nach dem Aufprall erwartete?
Ich versuchte, meine Augen zu öffnen. Aber es ging nicht. Da war eine unsichtbare Sperre. Um mich herum Dunkelheit. Ich versuchte, mich zu bewegen, aber Arme und Beine gehorchten nicht. Plötzlich stoppte der Fall. Etwas Hartes bohrte sich in meine Wirbelsäule, ein brennender Schmerz kletterte mein Rückgrat empor, beschleunigte und explodierte in meinem Kopf. Und dann blitzte vor meinen Augen die Szene des Unfalls auf. Ich im Wagen. Der Geruch von Cannabis. »Weed«, wie Farid dazu sagte. Das Wummern der Bassdrum in meinem Magen. Schwarzbild. Gejohle. Stimmen? Eine Fehlzündung. Und dann wieder die schmutzige Tischdecke. Aufgebauscht von einem warmen Luftzug. Und dahinter: die glasigen braunen Augen, die mich unentschlossen anstarrten. Als Nächstes: Angst. Nein, mehr noch: Panik. Panik, die in meinen Körper schoss, meine Muskeln in Brand setzte und den Sauerstoff schlagartig aus meiner Lunge presste. Ich hielt den Atem an. Hatte das Gefühl, dass gleich etwas Schreckliches passieren würde. Etwas, was sich nicht verhindern ließ. Und Erstarren. Eingemauert in diesen Moment. Ich riss mir die VR-Brille vom Kopf, kratzte mir mit den Fingernägeln über die Stirn und spürte einen hellen Schmerz. Der Schmerz holte mich zurück in die Wirklichkeit in das Wohnzimmer. Auf einen langen Moment der Orientierungslosigkeit folgte Erleichterung. Das Gesicht von Farid. Das Kaminfeuer spiegelte sich in seinen dunklen Augen. Seine Hand auf meinem Oberarm, seine Stimme dumpf. Er zog mir die Kopfhörer ab.
»Willkommen zurück«, sagte er und grinste. »Du bist eingeschlafen.« Er deutete neben mich. »Wie Sina.«
»Was?« Ich blickte nach links. Sina lag neben mir. Ihr Gesicht eingerahmt von ihren blonden langen Haaren. Ihre Lippen umspielte ein sanftes Lächeln. Ihr Atem ging ganz ruhig.
»Wo ist Yuma?«, fragte ich und drehte mich zu Paps, der mit gerunzelter Stirn auf die beiden Laptops starrte.
»Sie hatte keine Lust mehr.« Er blickte mich besorgt an. »Hattest du einen Albtraum?«
Ich nickte. »Der Unfall«, sagte ich und musste mich schütteln. »Ich glaub, das ist noch vom Unfall. Ich hatte plötzlich das Gefühl, zu fallen.«
»Zu fallen«, wiederholte er und machte sich Notizen. »Das sollte eigentlich nicht passieren, dass man einschläft und in eine Traumphase wechselt. Wird Zeit, dass der Testraum fertig ist. Jetzt lassen sich Fehler im Ablauf noch korrigieren. Später, wenn noch die Resonanz dazukommt, wird es schwieriger.« Paps sah besorgt aus.
»Aber … aber sonst, sonst hat es sich gut angefühlt«, sagte ich, obwohl ich erneut ein Flashback von der Tischdecke und den fremden Augen hatte. Mein Puls beschleunigte wieder. »Die Auflagen sind echt krass«, redete ich benommen weiter. »Fühlt sich an, als würde einem jemand die Wirbelsäule massieren.«
Ich drückte mit der flachen Hand auf die Matratze. Jetzt war sie wieder hart und kalt. Der Stoffbezug fühlte sich klamm an. Wahrscheinlich hatte ich geschwitzt.
»Im Matratzenkern befinden sich mehrere Kugeln, die durch Elektromagnete gesteuert werden, um die Muskeln zu stimulieren. Auf ähnlichen Unterlagen sollen später Astronauten liegen, die man auf eine Marsmission schickt. Sind nur eine Leihgabe.«