Donnerstag, 14.03.2024

06:12 Uhr    Jan ist der Meinung, dass es nicht unsere Schuld ist, in der Klapse gelandet zu sein, sondern die Schuld des »Systems«. In einer gesunden Welt mit gesunden Erwachsenen würden Kinder nicht einfach krank im Kopf werden. Ich hab ihm erzählt, dass ich adoptiert bin und somit — statistisch bewiesen — auch in einem gesunden System (mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa fünfzig Prozent) psychische Probleme bekommen hätte. Von meinen Eltern, dem Prozess und so weiß er nichts. Das ist gut. Anonymität ist gut.

Ohne meinen Wutausbruch hätte ich Anne wahrscheinlich nie kennengelernt, nie danach gesucht, was es noch über unsere Eltern und ihre Forschung zu erfahren gab. Die Doktorarbeiten meiner Mutter sollten nur der Anfang sein.

In den kommenden Wochen füllte Anne die endlosen Stunden im Safe House mit ihrem blassen, leicht sommersprossigen Gesicht und machte das ziellose Grübeln und Warten für mich und meine Geschwister erträglicher. Sie hatte hübsche blaue Augen, war kaum geschminkt und trug meist Blusen mit Pflanzen- oder Tiermotiven, Stoffhosen und flache Lederschuhe. Im Gesamteindruck wirkte sie etwas bieder. Vielleicht war das ihr Business-Outfit, und privat kleidete sie sich ganz anders. Das unauffällige Anker-Tattoo an der Innenseite ihres rechten Handgelenks bildete einen kleinen Kontrast, gab einen Ausblick auf diese andere, weniger kontrollierte Seite. Jetzt sah sie mich erwartungsvoll durch die Gläser ihrer großen Brille an und lächelte. »Und, fällt dir was ein?«

»Die erste Erinnerung?«, wiederholte ich, begleitet von einem langsamen Nicken, als wäre ich begriffsstutzig. Ich versuchte, mich in der Gegenwart, in diesem unwirklichen Jetzt, einzufinden. Heute war das Gefühl, noch mit einem Bein in einem Traum festzustecken, besonders stark. Schon seit dem Frühstück, eigentlich seit dem Wachwerden, noch in der Phase zwischen Traum und Wirklichkeit, inmitten dieser flirrenden Leere, die nichts kennt, keine Wahrheit, keine Lügen, keine Vermutungen, nur Licht und Schatten in unterschiedlichen Gestalten, hatte ich gespürt, dass dieser Tag ein »Dazwischen-Tag« werden würde. Einer von vielen. Da und doch nicht. Halb am Leben. Ich fühlte mich ein bisschen wie Pinocchio, unfertig, grob geschnitzt. Eine steife Kreatur, die einem Menschen ähnelt, aber doch keiner ist, weil seine ungelenken Bewegungen, seine Wahrnehmung und Gedanken nicht in diese Welt passen, wo alles »Normale« eine klare Struktur und Symmetrie haben muss, um von der dominanten Masse nicht als Fehler erkannt und gemieden zu werden.

Dafür, dass ich auch jetzt, am frühen Nachmittag, noch neben mir stand, war ich relativ entspannt. Kein unwillkürliches Zucken meines linken Augenlids. Nur der chemische Nachgeschmack der Pfefferminz-Mundspülung auf der Zunge. Schlaflosigkeit sei für mein betäubtes Gefühl die Ursache, hatte die Ärztin gesagt, die nach meinem Wutausbruch da gewesen war. Auch für den dauerhaft erhöhten Puls. Aber außer Kopfschmerztabletten wollte ich trotzdem keine weiteren Medikamente nehmen. Ich wollte nicht ruhiger werden, ich wollte verstehen.

Anne schwieg. Wir beide schwiegen. Aber das war kein unangenehmes Schweigen, es entspannte mich, weil sie mir den Raum dazu gab. Im Hintergrund das Rauschen der Heizung, die sich alle paar Sekunden verschluckte. Anne stand auf und kippte eines der großen Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Als sie an mir vorbeiging, bemerkte ich den Duft ihres Parfums. Sie hatte wenig aufgetragen, dezent, passend zu ihrer zurückhaltenden Art. Ich erkannte den Duft trotzdem wieder. Mum benutzte das gleiche Parfum von Chanel. Auch wenn die Jasmin-Note bei der Psychologin stärker herausstach und schneller verflog, weil der Eigengeruch ihrer Haut ein anderer war, fügte sich die Verbindung der Moleküle in der trockenen Heizungsluft zum selben blumigen Ergebnis. Vor meinem geistigen Auge sah ich den dunkelblauen rechteckigen Flakon, der im Badezimmerschrank direkt neben der rosa Schachtel mit Yumas Migränetabletten stand. Paps hatte das teure Parfum zu Weihnachten für unsere Mutter ausgesucht. Nicht alleine. Wir, Sina, Farid und ich, hatten ihn dabei beraten. Unsere Nasen waren besser als seine. Seit seiner Corona-Infektion roch für ihn alles entweder süß oder nach Seife. Wenn er asiatisches oder indisches Essen beim Lieferservice bestellte, dann extrascharf, um überhaupt etwas zu schmecken.

Kurz erreichte der Duft meine Zungenspitze, wo er sich wie Puderzucker in seine Bestandteile auflöste. Eine leicht süßliche Note — vermutlich Sandelholz — blieb zurück. Und der kühle Hauch des Alkohols, aus dem sich die Essenzen verflüchtigt hatten. Der Duft ließ meinen Puls absinken und meinen Atem tiefer gehen. Schemenhaft kehrte die Erinnerung an Mums schwarzes Etuikleid mit dem Paillettenbesatz und dem broschenverzierten Kragen zurück. Ihr einziges richtiges Abendkleid, wie sie immer betonte. Das meiste in ihrem Kleiderschrank war Secondhandmode. Marken interessierten sie nicht. Sie kaufte gerne auf Flohmärkten ein. Auch Bücher, Zeitschriften, Schallplatten und Möbel. Das hatte nicht in erster Linie mit Umweltschutz zu tun. Sie mochte Gegenstände, die eine Vorgeschichte hatten. Ich ekelte mich vor Secondhandkleidung. Der spezielle Geruch in den Boutiquen, in denen sich auch Sina und Farid gerne neue Sachen besorgten, löste in mir ein mulmiges Gefühl aus. Ich musste niesen, und mein ganzer Körper spannte sich an.

Ich sah Mum vor mir, wie sie sich ausgehfertig machte. Barfuß, im Schlafzimmer vor dem großen Spiegel, die Zehennägel rot oder silbern lackiert, die dicken Haare hinter dem Kopf kunstvoll hochgesteckt. Wie sie strahlte, glücklich war, loslassen konnte, sich freute. Ich spürte ihre Freude. Spürte sie auf meiner Haut und darunter, fragte mich, ob sie jemals wieder so glücklich sein würde.

Auch Farid mochte das eng anliegende Kleid. Obwohl der Stoff an seinem knochigen Körper schlackerte wie an einem Kleiderständer. Er bediente sich nach Lust und Laune aus dem Schrank unserer Mutter und betrachtete sich von allen Seiten im Spiegel. Er tanzte vor uns herum, vor seinen Geschwistern, zeigte, wie gut er sich bewegen konnte, ließ sich von uns schminken, ohne daran zu denken, dass es da draußen Menschen gab — vor allem Männer —, die nicht verstanden, warum ein Junge die der Weiblichkeit zugeschriebene Weichheit und Eleganz entdecken wollte, um sich selbst zu verstehen und durch dieses Verstehen zu wachsen. Warum dieses »Spiel« so wichtig für ihn war, nicht nur, um seiner leiblichen Mutter nah zu sein, sondern um die Anteile aller Geschlechter in sich zu vereinen und sich seiner Vorstellung vom Selbst, der Summe aller Eigenschaften, auf verschiedenen Ebenen anzunähern.