Freitag, 15.03.2024

10:12 Uhr    »Ich weiß, dass es schwer ist«, hörte ich Anne wie durch Watte sagen. Ihre Worte holten mich zurück in das karg eingerichtete Besprechungszimmer, zogen mich auf den unbequemen Holzstuhl, der bei jeder Bewegung knarzte. Vielleicht war es der Stuhl, den ich hatte zertrümmern wollen. Die Stühle hier drin sahen ja alle gleich aus. Solange ich draufsaß, ließ sich das nicht überprüfen. Vielleicht würde der Stuhl genau in dem Moment auseinanderbrechen, wenn ich mich entspannte. Vielleicht war das seine Rache.

Heute war unser drittes Treffen. Wir hatten mit einer Art Meditation begonnen. Mit geschlossenen Augen sollte ich mir verschiedene Gegenstände und Farben vorstellen und dem Strom meines Atems folgen. Davor hatte ich kurz von der Zeit erzählt, in der ich oft krank gewesen war, aber betont, wie gut sich unsere Eltern um mich gekümmert hatten. Um jeden von uns hatten sie sich gesorgt. Nie einen Unterschied zwischen Sina und uns, den Adoptierten, gemacht, wenn das der Punkt war, auf den sie hinauswollte. Ich sagte, wie lächerlich es war, dass der Staatsanwalt Paps andichten wollte, uns als Versuchskaninchen für medizinische Experimente missbraucht zu haben.

»Hast du den Mann eigentlich mal kennengelernt?«, fragte ich.

»Den Staatsanwalt?«

Ich nickte. »Er ist so was von unsympathisch. Und er ist voreingenommen. Er will unbedingt, dass unsere Eltern ins Gefängnis kommen, weil ihre Namen auf irgendwelchen Listen aufgetaucht sind.«

»Du weißt davon?«

»Auch hier drin ist man nicht ganz von der Welt abgeschnitten.«

»Hast du ihn deshalb bedroht?«

»Was?« Ich musste schlucken. Das Wort »bedroht« in Zusammenhang mit meiner Person kam mir falsch vor. Ich hatte den Staatsanwalt nicht bedroht, ich hatte nur meinem Ärger Luft gemacht. Das ist ein großer Unterschied. Genau genommen war ich das nicht mal selbst gewesen, diese Person, die da explodiert war.

»Ich … ich hab ihn nicht bedroht«, nuschelte ich. »Ich war wütend. Wütend, dass wir unsere Eltern nicht sehen dürfen und diesem Mann nichts Besseres einfällt, als die Zerstörung unserer Familie zu planen.« Ich holte tief Luft. »Wütend auf das hier.« Ich deutete mit dem Kopf in den Raum. »Wütend darauf, dass man uns behandelt, als hätten uns unsere Eltern etwas angetan. Und sehen dürfen wir sie auch nicht. Für Sina ist das schrecklich.«

»Das verstehe ich. Das ist alles … alles nicht optimal.«

»Nicht optimal.« Ich konnte mir ein Schnauben nicht verkneifen.

»Nicht, wie es sein sollte, wenn Kinder im Spiel sind. Das werde ich auch so weitergeben, Espe. Das sollte so nicht sein.«

»Genau. Und sag denen auch, dass es mir vor allem um Sina leidtut. Sie hat gestern ins Bett gemacht. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, mit zwölf wieder ins Bett zu machen, wie sich das für sie anfühlt?«

»Das muss anders laufen. Ich werde mich dafür einsetzen, dass ihr eure Eltern bald sehen dürft. Das verspreche ich dir.«

»Danke.«

»Sollen wir weitermachen?« Sie klickte mit dem Kugelschreiber. »Vielleicht gibt es noch ein paar Erinnerungen, die du mit früher verbindest.«

Ich versuchte, mich zu konzentrieren. Aber mir ging so vieles durch den Kopf. Ungeordnet.

»Geht es um die Adoption?«, fragte ich und merkte, wie mein Magen krampfte. »Glaubst du auch, dass unsere Eltern kriminell sind?«

»Es spielt keine Rolle, was ich glaube. Ich will nur helfen, dass es euch wieder besser geht. Deshalb bin ich hier.«

Ich nickte stumm. In Gedanken blätterte ich durch mein Fotoalbum, sah es aufgeschlagen auf dem Geburtstagstisch liegen, unscharf dahinter meine Geburtstagstorte mit den ausgeblasenen Kerzen. Ich dachte an den Kartenausschnitt, den Paps von Hand auf die erste Seite in mein Album gezeichnet hatte. Das Gebiet zwischen den USA und Mexiko, diesen »tödlichen Flaschenhals«, wie es im Englischbuch, gefolgt von einem Text über die menschenunwürdigen Bedingungen in den Auffanglagern, stand. Ein grünes Kreuz, fünfzehn Kilometer südlich der Grenze zu den USA, markiert den Beginn meines zweiten Lebens. Ein kleiner Ort, ein Dorf, ein Waisenhaus, in dem mich meine Mutter bei einem Einsatz für Ärzte ohne Grenzen entdeckt hatte. In dem maroden Kloster seien die Zustände ähnlich »prekär« gewesen wie überall in der Nähe der Grenze, sagte mein Vater.

Die wichtigen Stationen meiner Kindheit waren mit Längen- und Breitengraden, Höhenmetern, Nationalflaggen, Landes- und Stadtwappen versehen. Der Weg über die USA nach Europa. Zuerst Berlin, dann Amsterdam, Moskau, London, Stockholm. Dann Hamburg, Wien, Bonn und St. Engbert. Richtig erinnern, so mit Bildern, Gerüchen und Gefühlen, konnte ich mich eigentlich nur an die letzten drei Städte.

»Versuchen wir es anders.« Anne erhob sich. Sie holte eine dicke Papierrolle aus einer Sporttasche und legte sie auf den Tisch. »Oft geht es mit dem Erinnern leichter, wenn wir aktiv werden.« Sie zog das eierschalenfarbige Papier von der Rolle, legte es quer über den Tisch und befestigte es mit Tesafilm. »Spielst du eigentlich auch ein Instrument, wie deine Geschwister?«

»Ein bisschen Klavier und Schlagzeug. Aber nicht so gut wie Yuma oder Sina. Yuma sollte später unbedingt Musik studieren. Sie spielt wahnsinnig gut Cello, aber auch Gitarre. Und sie schreibt eigene Songs. Kannst du vielleicht mal fragen, ob sie ihr Cello wiederhaben kann oder wenigstens die Gitarre? Ich glaube, das würde ihr guttun.«

»Ich schau mal, was ich tun kann, aber jetzt bleiben wir noch ein bisschen bei dir.«

Sie zeichnete einen langen Zeitstrahl auf das Papier und redete von den Höhen und Tiefen meines bisherigen Lebens, als sei ich steinalt. Erneut bat sie mich, gedanklich so weit wie möglich in die Vergangenheit zurückzugehen und diesem Anfang entweder ein Wort oder ein Bild zu geben. Ich kam mir vor wie im Kunstunterricht, nur, dass sich der Wachsstift in meiner linken Hand schwer anfühlte, wie aus Blei, und ich zu schwitzen begann. Ich setzte die Spitze auf das raue Papier. Sofort begann meine Hand zu zittern, als weigerte sie sich, mehr über mich preiszugeben als meinen Namen.

»Espe«, sagte die Psychologin. »Versuch es mal mit deiner schwachen Hand.«

»Was?«

»Das hilft zu entspannen.«

»Okay.«

Ich schrieb Buchstabe für Buchstabe, langsam, wie in Trance. Das ging deutlich besser als gedacht. HIGHWAY, hatte ich in Blockschrift an den unteren Rand geschrieben. Dann wechselte ich zurück zu meiner starken Hand und zeichnete das Teilstück einer breiten Straße aus der Seitenperspektive. »Sorry«, sagte ich. »Ich glaub, ich hab die Aufgabe falsch verstanden.«

»Nein, alles gut. Erzähl mir was über diese Straße. Woher kennst du sie? Was verbindest du damit?«

Ich legte den Stift aus der Hand und zögerte.

»Was denkst du gerade?«

»Nichts.« Das stimmte nicht. Ich dachte an einen wiederkehrenden Traum, der seine Entsprechung in der Wirklichkeit hatte. An ein überbelichtetes Foto mit blassen Farben, das mich neben meiner lächelnden Adoptivmutter zeigte. Sie saß in der Hocke und hatte einen Arm um mich gelegt. Im Vordergrund, unscharf: aufgeplatzter Asphalt. Im Hintergrund: endlose Wüste. Büsche und Bäume. Besondere Bäume. Joshua Trees, wie sie entlang des Highway 62 verstreut stehen, außerhalb jeder Symmetrie und trotzdem miteinander verbunden. Hochgewachsene Kreaturen mit kräftigen Armen und Palmfächerhänden. Eine Mischung aus Kaktus und Baum. Fremde Wesen inmitten einer kargen, unendlich weiten Wüstenlandschaft.

»Die einzigartigen Bäume erzählen eine Geschichte des Überlebens, der Unverwüstlichkeit und der Schönheit, die durch Beharrlichkeit entsteht.« So steht es auf der Seite des Joshua-Tree-Nationalparks. Vielleicht war das der Grund, weshalb ich so fasziniert von diesen Bäumen war, weil ich wie Farid an manchen Tagen das Gefühl hatte, eine Überlebende zu sein.

Ich versuchte, einen dieser Bäume zu zeichnen. Das ging besser als gedacht.

»Wo ist das?«, fragte die Psychologin. »Wo gibt es diese … diese Bäume?«

»In einem Traum«, hörte ich mich, weshalb auch immer, sagen. »Es sind Joshua Trees, keine richtigen Bäume, sondern eine besondere Palmenart.«

»Dieses Bild hat aber auch etwas mit der Wirklichkeit zu tun?«, hakte Anne nach.

Ich nickte. »Es gehört zu einer Serie von Bildern, in einem Album. Auf einem davon bin ich zu sehen, in den Armen meiner Mutter. Ist in Kalifornien. Wir sind damals durch die Wüste gefahren. Ich muss so fünf, sechs Jahre alt gewesen sein. Mit einem großen sonnengelben Camper. Damals haben wir noch in Boston gelebt. Das war der Anfang.« Ich zuckte mit den Schultern. »Das glaube ich zumindest.«

»Daran kannst du dich noch erinnern, an diese Reise?«

»Nur an dieses Foto. Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich diesen Ort zuerst riechen, bevor ich das Bild dazu sehen kann.«

»Schließ kurz die Augen.«

Ich zögerte.

Sie legte ihre Hand auf meine. Es war das erste Mal, dass sie mich berührte. Sie strich mit dem Daumen über meinen Handrücken. »Vertrau mir.«

Ich schloss die Augen.

»Wonach duftet es, wenn du diese Straße vor dir siehst?«, fragte Anne sanft.

»Sand und noch etwas, wie … wie Staub mit … mit Zitrone. Ein kühler Geruch. So was wie Salbei, nur stärker konzentriert, und etwas Medizinisches. Ja, da ist auch etwas Medizinisches, das nicht dorthin passt. Desinfektionsmittel, etwas in der Art, nur positiver.«

»Positiver«, hörte ich Anne sagen. Gefolgt von dem Kratzen ihres Bleistifts. Wie Mum schrieb sie am liebsten mit dem Bleistift. Ihre Hand löste sich von meiner. Der Duft in meinem Kopf mischte sich mit dem Duft ihres Parfums. Für Sekunden fühlte ich mich entspannt, bis die Mischung sich auflöste und nur noch eine Ahnung zurückblieb.

Ich öffnete die Augen wieder und holte tief Luft.

Anne lächelte. »Gut«, sagte sie, die Hände über ihrem aufgeschlagenen Notizbuch gefaltet. »Woran erinnerst du dich noch, wenn du an die Wüstenbilder denkst? Es darf auch abstrakter sein. Ein Gefühl. Eine Ahnung.«

»Wärme«, sagte ich und nickte langsam. »Ich erinnere mich an die Wärme. An ein Gefühl von Geborgenheit. So ein Alles-wird-gut-Gefühl.« Tränen stiegen mir in die Augen, während ich die Worte mit den Lippen formte und das Gefühl der Einsamkeit in mich eindrang. Ich sehnte mich nach dieser Geborgenheit. Ich vermisste meine Eltern. Ich wollte sie zurückhaben, meine Familie, dieses »Wir«. Ich brauchte es zum Atmen, dieses zweite Leben.

Sie waren meine Eltern und würden es immer bleiben. Egal, was sie getan hatten, um mich über die Grenze zu bringen. Egal, ob der Name in meinem Pass nun stimmte oder nicht. Egal, ob die Geschichte, die sie mir erzählt hatten, der Wahrheit entsprach. Egal, ob die Geschichten von Farid und Yuma stimmten. Sie hatten uns gerettet, zu Geschwistern gemacht. Uns dreien eine Chance auf der privilegierten Seite der Welt gegeben. Dafür durfte man sie nicht bestrafen, dafür nicht.

Ich zeichnete die Umrisse einer großen Plakatwand, die neben dem Highway aufragte, und begann die leere Fläche mit Bleistift zu schraffieren. Ich erinnerte mich an das Plakat, unscharf im Hintergrund, aber nicht daran, was darauf zu sehen war. Wahrscheinlich der Hinweis, genügend Wasser zu trinken oder die Straße nicht zu verlassen. Die feinen Unebenheiten des Holztischs drückten durch das Papier und gaben der Fläche Schattierungen. Dann begann ich damit, unsere Mutter zu zeichnen. Yuma hatte mir beigebracht, wie man Gesichter zeichnete. Die Symmetrie. Die Hilfslinien. Augen, Nase und Mund. Die Besonderheiten. Der seitliche Lichteinfall, der ein Gesicht plastischer wirken lässt, ihm die Tür zur Wirklichkeit öffnet und es lebendig macht. Auf dem Foto blickte sie direkt in die Kamera. Ihr Lächeln durchströmte mich. Es war fast so, als würde sich der Moment wiederholen, jetzt, wo ich daran dachte. Ich als dünnes Kind in ihren Armen. Ich mit wachen glänzenden Augen, in denen sich das Licht der untergehenden Sonne voller Dankbarkeit spiegelte.

Das Foto klebte auf der siebten Seite meines Albums. Die erste Erinnerung. Immer mehr Details kamen mir in den Sinn. Ich zeichnete weiter. Das musste die erste Erinnerung an dieses neue Leben sein. Hinter der mexikanischen Grenze. Auf der anderen Seite. In diesem neuen Leben.

»Kannst du dem Bild eine Emotion zuordnen?«, fragte die Psychologin. »Das, was du spürst. Was du jetzt spürst?«

Ich überlegte. Ich beschwor das Gesicht meiner Mutter erneut herauf. Stellte mir vor, wie mein Vater dieses Foto machte. Versuchte, mir die Stimme von Mum vorzustellen, wie sie mit mir sprach. Wahrscheinlich hatte sie mir von der Landschaft und den Bäumen erzählt, davon, was sie so besonders macht, und gesagt, wie stark ich sei. Vielleicht hatte sie kurz davor ein Lied gesungen. Vielleicht hatte sie gerade gesagt, dass sie mich liebte. Vielleicht sah ich deshalb so glücklich aus.

Ich schrieb das Wort »Liebe« neben die Zeichnung. Dann »Vertrauen«. Und »Zukunft«. Der Stift in meiner Hand wurde wieder schwerer. Das Zittern kehrte zurück. Ich begann erneut zu weinen. Mein ganzer Körper bebte. Ich war überrascht, als Anne vor mir in die Hocke ging, mir ein Taschentuch reichte und mich in die Arme nahm. Ich hörte mein Schluchzen, fühlte mich einsam und verlassen. Anne drückte mich fest an sich und strich mir übers Haar. Sie flüsterte, dass es gut sei, zu weinen, dass auch ich das Recht habe, schwach zu sein. Dass jeder Mensch dieses Recht hat. Ich ließ meinen Kopf auf ihre Schulter sinken, spürte, dass ich von Anne gehalten wurde, dass sie mich stützte, während ich Rotz und Wasser heulte.

Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Fühlte mich erleichtert und müde. Wir machten eine Pause, setzten uns nebeneinander auf das ausgeblichene rote Sofa. Schweigend schenkte mir Anne Tee ein, Pfefferminztee, und fragte, ob wir für heute Schluss machen sollten. Zwei Stunden waren vergangen. Die großen Zeiger der Wanduhr hatten sich unbemerkt weitergedreht. Ich verneinte. Ich wollte das dicke Papier mit weiteren Erinnerungen füllen. Ich wollte daran glauben, dass alles wieder gut würde. Ich wollte nicht, dass die Straße hier endete.