Sonntag, 17.03.2024

01:40 Uhr    Die Psychologen hier sind darauf geschult, uns wieder vom Kopf auf die Beine zu stellen, damit wir uns nicht länger im Kreis drehen und dem Schwindel entkommen, der einen befällt, wenn man sein Ich zwanghaft in seine Einzelteile zerlegt, weil man gerne wissen würde, wer man ist, wo man hinwill und welche Rolle die Vergangenheit bei dieser Entscheidung spielen soll und warum Sätze so lang werden, wenn man verwirrt ist.

Jan behauptet, dass er die Stimme seiner toten Mutter hört. Ich glaub, er will sich wichtigmachen. Ich denke an Yuma. Vielleicht hat sie wieder Kontakt zu Insa. Das würde ihr bestimmt guttun. Auch wenn sie sich in St. Engbert zum Schluss gestritten hatten, war Insa eine wichtige Person in Yumas Leben. Vielleicht sollte ich Insa schreiben, dass sie den ersten Schritt macht.

Feststellung: Hier drin läuft es komplett anders als draußen. Die Leute mit den krassesten Fehlschaltungen im Kopf bekommen den größten Respekt.

Im Gegensatz zu den anderen Experten traute sich Anne als Einzige zu sagen, dass alles wieder gut würde. Ihr wollte ich das sogar glauben, weil es sich aus ihrem Mund nicht wie eine Floskel anhörte, sondern wie ein realistisches Szenario. Sie wirkte nicht so professionell distanziert wie die anderen Leute, die uns ausfragten, sondern als würde sie unser Schicksal tatsächlich berühren, als wäre es ihr wichtig, dass die Geschichte für uns gut ausging. Für alle aus unserer Familie, auch für Farid, der wie ein Tiger in einem Käfig murrend im Haus und auf dem Grundstück umherstrich und, um die Zeit totzuschlagen, mit Krafttraining begonnen hatte.

Immer wenn ich kurz davor stand, zu weinen, nahm Anne meine Hand, sagte mit ruhiger Stimme »Alles wird gut« und drückte sie fest, um mir zu zeigen, dass sie an diesen Satz glaubte und ich dasselbe tun sollte.

Wenn ich von Schwere sprach, sprach Anne von Traurigkeit, wenn ich von Glück sprach, wollte sie, dass ich ihr dieses Glück auf allen Ebenen erklärte und nach Verknüpfungen im Außen und Innen suchte. Die Veränderung der Farben, das Gefühl der Leichtigkeit, die Bilder und Szenen in meinem Kopf. Gesichter und Emotionen, die ich damit verband. Wie diese Gesichter aussahen. Detaillierte Beschreibungen. Ob es einen Zusammenhang mit dem Verhalten meiner Eltern und dem meiner Geschwister gab. Auch das wollte sie wissen. Wo ich meine Gefühle auf einer Skala von eins bis zehn einordnen würde. Jedes Ereignis, das ich auf der Timeline markierte, bekam eine Reihe von Stichworten, selten nur noch Zeichnungen. Schritt für Schritte näherten wir uns der Gegenwart. Dem Tag, als die Polizei unser Haus gestürmt und uns auseinandergerissen hatte.

Das interessierte auch den Psychiater. Zusätzlich wollte er wissen, was ich gegessen und getrunken hatte, ob ich die Pille nahm oder andere Medikamente von meiner Mutter verschrieben bekommen hatte. Als hätten unsere Eltern vorgehabt, uns zu vergiften. Zweimal interviewte mich der vollbärtige Mann anhand eines mehrseitigen Fragebogens, den er auf einem nach Holzspänen riechenden Klemmbrett befestigte. Er selbst war auf der Geruchsebene harmlos. Frittierfett und ein billiges Deo, das mich aufgrund seiner würzigen, aber künstlichen Schärfe zum Niesen brachte. Kein unangenehmer Körpergeruch. Kein Testosteron, nur der harmlose Geruch von Cola-Fläschchen, wenn er mal in meine Richtung sprach.

Ähnliche Fragebögen kannte ich in digitaler Form bereits von unserem Vater. Er hatte sie für seine Software verwendet, um die »User-Experience« zu optimieren und die Wirksamkeit des Programms abzuschätzen. Wir durften sie nach den Tests selbst ausfüllen und zum Schluss Vorschläge machen, was wir ändern würden. Schließlich waren Jugendliche und junge Erwachsene die Hauptzielgruppe der ersten käuflichen Version.

Der Psychiater schaute mir immer nur kurz in die Augen, was mich derart verunsicherte, dass ich mich ständig verhaspelte und meine Antworten korrigierte. Vielleicht gehörte das dazu. Vielleicht sollte diese Befragungstechnik das Lügen schwerer machen. Obwohl ich nicht vorhatte zu lügen. Wozu auch? Unsere Eltern hatten uns nichts angetan. Ich sagte, was ich dachte, nicht, was ich für die beste Option hielt, gab dem Mann zu verstehen, dass es keinen Grund gab, unsere Eltern wie Verbrecher zu behandeln.

Weder der Psychiater noch Anne fragte nach dem Schmerz. Niemand wollte von mir wissen, wie ich den Schmerz aushielt, mich an all das zu erinnern, was in den letzten Monaten schön gewesen war. An die Stille, den Winter. Den Frühling und die singenden Vögel. An den Sommer mit den heftigen Gewittern. An Farids leuchtende Augen, wenn er uns stolz die Choreografien vorführte, die er im Tanzstudio lernte. An Sinas Liebe zu Paulo, einem abgemagerten Esel, den unsere Eltern dem herzlosen Besitzer eines Freizeitparks abkaufen mussten, damit unsere kleine Schwester nicht in den Hungerstreik trat. An Yumas verrückte Zeremonien am Lagerfeuer, bei denen sie uns mit Asche Zeichen auf die Stirn gemalt hatte, um unsere Kräfte und unsere Seelen gegen das Böse zu bündeln, das dabei war, die Welt und die Menschen zu infizieren.

Der Schmerz über den Verlust meiner Familie, die gleichzeitig meine Heimat war, war kaum auszuhalten.

Obwohl mir bei den medizinischen Untersuchungen im Krankenhaus eine geringe physische Schmerzempfindlichkeit, unterhalb von »normal«, attestiert wurde, hatte ich Schmerzen. Am ganzen Körper. Zähne und Kiefer schmerzten beim Sprechen. Die Ärzte sagten, es wäre alles nur psychisch, Einbildung, nichts Körperliches. Körperlich sei ich gesund. Für mich machte das keinen Unterschied.