Sonntag, 24.03.2024

13:12 Uhr    Ich spürte die vielen neugierigen Augenpaare im Gerichtssaal, wie sie mich abscannten, mir folgten, wenn ich hereinkam und an einem der dunkelbraunen Tische auf der rechten Seite Platz nahm. Keine drei Meter vom Staatsanwalt entfernt, der mich an jedem Verhandlungstag stumm, mit einem gleichgültigen Nicken, begrüßte, aber keinen weiteren Versuch unternahm, mir die Hand zu geben. Dabei lag mein Ausraster im Safe House mittlerweile viele Wochen zurück, und einen weiteren derartigen Zwischenfall hatte es nicht gegeben. Weder bei mir noch bei meinen Geschwistern. Trotzdem schien der Mann mir nicht mehr über den Weg zu trauen. Auf Anraten meiner Anwältin, die den Platz zwischen uns einnahm, hatte ich mich gleich am ersten Prozesstag bei ihm entschuldigt, irgendwas von Ausnahmesituation und Schlafmangel genuschelt und devot gelächelt. Leider ermutigte ihn meine Entschuldigung dazu, immer dann theatralisch den Blick von meinen Eltern zu mir und dann weiter zur Richterin wandern zu lassen, wenn sie die Aussage verweigerten oder es um die vielen Ungereimtheiten bei unseren Adoptionen ging.

»Es wäre auch zum Wohle Ihrer Kinder, die ein Anrecht auf die Wahrheit haben.« Der Blick zu mir. »Wie sollen sie sich fühlen, wenn Sie ihnen vorenthalten, was es noch über ihre Adoptionen zu wissen gibt?«

Der Staatsanwalt redete laut und überdeutlich, den Kopf gerötet, saß oder stand, zupfte Fussel von seiner schwarzen Robe und wurde seiner Rolle als Ankläger mehr als gerecht. Er genoss das öffentliche Interesse, wollte seinen Namen in der Presse lesen und durch Attribute wie »gnadenlos«, »unbarmherzig« oder »streng« ergänzt sehen. Er hatte sich fest vorgenommen, unsere Eltern ins Gefängnis zu bringen. Es ging ihm nicht um die Frage der Schuld, sondern um die Anzahl der Jahre, die er im Schlussplädoyer fordern würde. Das hatte er gleich zu Beginn der Verhandlung klargemacht. Dank des Beruhigungsmittels konnte ich Stunden in seiner unmittelbaren Nähe verbringen und seine gepresste Stimme hören, ohne dass die Schwärze ihren Auftritt hatte. Ich nahm die harten Gesten des Staatsanwalts und seinen Körpergeruch nicht mehr als bedrohlich wahr, obwohl Ausläufer davon hin und wieder meine Nase streiften. Nur selten kletterte mein Stresslevel in den roten Bereich, obwohl unser Leben in Trümmern lag. So wie bei den Zeichnungen von Yuma, die ich mir damals angeschaut hatte. Dieses umherirrende Kind auf dem Schlachtfeld war die bildliche Entsprechung meines Zustands. Ich hatte das Gefühl und vielleicht auch den Wunsch, mich aufzulösen, während ich mich gleichzeitig danach sehnte, Gewissheit über meine Herkunft und die von Farid und Yuma zu bekommen.

16:20 Uhr    Erneuter Anruf meiner Eltern. Sie wollen noch mal mit mir sprechen. Wahrscheinlich haben sie Angst, dass ich meinen Geschwistern erzähle, was ich weiß, oder der Polizei.

Als die Richterin die schriftlichen Aussagen der amerikanischen Einwanderungsbehörde verlas, hielt ich den Atem an. Zuerst ging es um Farid. Ich war aufgeregt, wollte kein Wort verpassen. Ich hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. In meinen Ohren rauschte es wie verrückt. Übelkeit stieg in mir auf. Ich hasste mich dafür, so schwach zu sein. Ich durfte jetzt nicht schwach sein. Ich presste die Kiefer aufeinander und versuchte, tief in den Bauch zu atmen, während die Richterin monoton wie eine Maschine Zeile für Zeile vorlas.

Meine Eltern hatten Farid mit echten Adoptionspapieren und falscher Identität nach Europa gebracht. Das galt mittlerweile als gesichert. Auch, dass ein Zufall den Stein ins Rollen gebracht hatte. Beim Routineabgleich von Genmaterial, das man nach dem Brand in der Schweinezucht gefunden hatte, wurde versehentlich auch ein Abgleich über die europäischen Grenzen hinweg durchgeführt. Und dieser Abgleich hatte rund zehntausend Kilometer entfernt zu einem Treffer geführt. In den USA. Und das war eigentlich nicht möglich, denn die festgestellte DNA gehörte zu einem namenlosen, einem etwa zweijährigen Kind, das bei der Bootsüberfahrt — der Flucht — von Kuba in die USA ertrunken war.

Einen Fehler schloss der Sachverständige der Forensik aus. Wie es unseren Eltern gelungen war, Fingerabdrücke, DNA und Fotos des toten Jungen mit denen von Farid zu verknüpfen, sagten sie nicht. Um so etwas zu machen, brauche es Helfershelfer und jede Menge kriminelle Energie, sagte die Richterin in hartem Tonfall. Sie appellierte an unsere Eltern, ein Geständnis abzulegen, damit das ertrunkene Kind vielleicht doch noch unter seinem echten Namen beerdigt werden konnte.

»Wahrscheinlich ist das nicht der einzige Fall. Wahrscheinlich hat diese Täuschung Methode«, sagte der Staatsanwalt. »Das würde bedeuten, dass Angehörige vergeblich nach ihren Kindern, Brüdern und Schwestern suchen.«

»Das ist totaler Quatsch!«, fuhr unser Vater aus der Haut. Das war das erste und einzige Mal, dass er vor Gericht die Fassung verlor. »Wir haben keine weiteren Kinder aus dem Lager geholt. Und … und die Daten zu fälschen war die einzige Möglichkeit, Farid eine angemessene medizinische Versorgung zukommen zu lassen, die ihm nach den schweren Verbrennungen an den Unterschenkeln eine Zukunft ohne Rollstuhl ermöglichte, bevor es zu spät war.«

»Das sei dahingestellt. Dazu werden wir noch Fachleute befragen«, sagte der Staatsanwalt unbeeindruckt. »Es würde mich trotzdem interessieren, wie Sie das gemacht haben, und nach welchen Kriterien Sie die anderen beiden Kinder ausgewählt haben.«

»Dazu kann ich Ihnen nur das sagen, was Sie ohnehin schon wissen.«

»Dann erwarten Sie nicht von mir, dass ich Mitgefühl habe. Die Einzigen, mit denen ich Mitgefühl habe, sind Ihre Kinder.«

Unsere Eltern hatten Farid nach einem Feuer in einem Aufnahmelager in Südflorida, bei dem etliche Menschen ums Leben gekommen waren, schwer verletzt aus dem Lager geschleust, um seine Brandwunden von Spezialisten behandeln zu lassen. Wer ihnen dabei geholfen hatte, darüber schwiegen sie sich aus. Weiterhin ungeklärt war Farids richtiger Name. Mein Bruder galt nirgendwo als vermisst. Seine Ankunft im Lager war nicht registriert. Ob er allein gewesen war oder, wie es in seinem Album auf der zweiten Seite stand, sich eine Frau um ihn gekümmert hatte, war nirgendwo dokumentiert. Seine Spur, die Spur seiner DNA, hatte man, wie gesagt, nach dem Brand in der Schweinezucht im Schwarzwald entdeckt. Aber er war nicht der Täter, er war dort gewesen, um den Brand zu löschen. Bei dem Versuch, einige der Schweine vor den Flammen zu retten, hatte er sich an der Hand verletzt. Die Polizei hatte sein Blut fälschlicherweise für das Blut des Brandstifters gehalten, die DNA in die Datenbank eingegeben und einen Treffer gelandet, der zu dem Auffanglager führte und zu dem toten Jungen. Die Polizei vor Ort hatte sofort die Ermittlungen aufgenommen. Über Kreditkartenabrechnungen unserer Eltern von Farids Krankenhausbehandlung waren sie ihnen letzten Endes auf die Spur gekommen.

Mithilfe einer Anwaltskanzlei war es unseren Eltern gelungen, die Adoption von Farid rückwirkend zu beantragen, seine wahre Herkunft zu verschleiern und seinen Aufenthaltsstatus zu legalisieren. Zwei Experten waren als Zeugen geladen, um den Weg, mit all den Gesetzen und Ausnahmen, die es in den USA gab, zu erklären.

An dieser Stelle begann meine Mutter zu weinen. Es war das erste Mal, seit der Prozess begonnen hatte. Sie weinte lautlos, während mein Vater tröstend ihre Hand hielt.

Ich war wie gelähmt. Ich war da und doch nicht. Ich hörte die Worte, schaffte es aber nicht, sie in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen.

Die Richterin versuchte, die Erkenntnisse für alle Anwesenden zusammenzufassen und Farids Weg bis nach St. Engbert darzulegen. Ihre Stimme klang belegt. Man sah ihr an, wie viel Kraft es sie kostete, nicht aus der Rolle zu fallen.

Um meinen Bruder nach seiner »Entführung«, wie es der Staatsanwalt nannte, halbwegs legal adoptieren zu können, hatten sich unsere Eltern zuerst an terre des hommes gewandt (E-Mail, Beweisstück 17/B_06), wo man sie abgewiesen hatte. Erst dann hatten sie sich an die Anwaltskanzlei gewandt, die ihnen gegen viel Geld die notwendigen Papiere besorgt hatte, um Farid mit nach Europa zu nehmen.

Ich war die Einzige von uns dreien, bei der die Adoption den normalen Weg vom Waisenhaus über anerkannte Adoptionsstellen genommen hatte und lückenlos belegt werden konnte. Aber irgendwas an der Beweisführung störte mich. Ein Punkt folgte auf den anderen. Eine Station auf die nächste. Doch genau das machte mich stutzig. Dass es scheinbar auf jede Frage die passende Antwort gab.

Bei Yuma endete die Spur in einem mittlerweile geschlossenen Waisenhaus in Mexiko, das privat geführt worden war und mit illegalen Adoptionen in Verbindung gebracht wurde. Eine Expertin erklärte, dass in dieser Zeit Waisenhäuser in Mexiko, aber auch in Guatemala wie Pop-up-Stores gegründet wurden, um Geschäfte mit gut betuchten, kinderlosen Ausländern zu machen. Arme Familien hätten sogar Kinder abgegeben, in der Hoffnung, ihnen eine bessere Zukunft zu schenken. Es seien aber auch Fälle dokumentiert, in denen Säuglinge oder Kleinkinder entführt wurden, um sie über Waisenhäuser, die wie Zwischenhändler fungierten, weiterzuverkaufen. »Dort wurden sie dann mit gefälschten Papieren ausgestattet.«

Die Polizei habe erst spät, und auf Druck ausländischer Behörden, eingegriffen, weil auch dort Einzelne an diesem Handel mitverdient hätten. »Dasselbe System gab es in dieser Zeit verstärkt auch in anderen Ländern Lateinamerikas. Kinder wurden zur Exportware erklärt.«

Unsere Eltern nahmen zu den Vorwürfen des Staatsanwalts, als Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen von diesen Praktiken gewusst zu haben, keine Stellung.

In einem gelöschten und wieder hergestellten Ordner meiner Mutter hatte die Polizei Notizen entdeckt, die darauf hinwiesen, dass in ihrem Auftrag Urkunden gefälscht worden waren, um Yuma nach Deutschland zu bringen. Diese Aufzeichnungen waren ein wichtiger Beweis. Das Waisenhaus war zur Zeit ihrer Adoption in den Schlagzeilen gewesen, weil von dort auch einige Hollywoodgrößen ihre Kinder adoptiert hatten und mehrere Mitarbeiter später wegen Menschenhandels und Kindesmissbrauchs verhaftet worden waren.