Donnerstag, 28.03.2024

03:40 Uhr    Der Raum, in dem wir uns trafen, war deutlich größer als der in der U-Haft. Es gab mehrere Nischen mit Tischen und Stühlen, die durch Plexiglasscheiben voneinander abgetrennt waren. Drei davon waren besetzt. Auf dem grauen Linoleumboden waren die Wege aufgezeichnet, die man gehen musste, sobald man den Raum von der Besucherseite aus betrat. Gelbe Pfeile führten hinein. Orangefarbene wieder hinaus. Die Besucher durften immer nur einzeln eintreten. Selbst bei Familien war das so. Überall stand der mehrsprachige Hinweis, dass man auf die anderen Besucher Rücksicht nehmen sollte.

Meine Eltern waren schon da. Sie saßen hinter einem der rechteckigen grauen Tische und wirkten nervös. Aber nervöser als ich konnten sie nicht sein. Und auch nicht wütender. Ich wollte endlich die Wahrheit wissen, die ganze Wahrheit.

Wir umarmten uns kurz. Das war gestattet. Zur Begrüßung und zum Abschied. Längere Berührungen hingegen nicht.

»Wie geht es dir jetzt?«, fragte meine Mutter. »Du warst so tapfer. Wir sind stolz auf dich.« Sie lächelte.

Ich ließ das Lächeln unerwidert. »Warum habt ihr gelogen«, zischte ich. »Warum hat Paps gelogen?«, korrigierte ich mich.

Meine Mutter wurde schlagartig ernst. Sie tauschte Blicke mit meinem Vater. Der deutete mit dem Kopf zu den Wärtern, von denen jeder die Augen auf einen Tisch gerichtet hielt.

»Was … was meinst du?«, fragte sie. Mum war so eine schlechte Schauspielerin.

Ich blickte zu meinem Vater. »Warum hast du bei Gericht nicht die Wahrheit gesagt? Warum hast du so getan, als wäre dir die Software egal und die Tests, die du mit uns gemacht hast? Was wolltet ihr verbergen?«

»Espe«, sagte mein Vater ungewohnt streng. »Das … das ist nicht der richtige Ort und auch nicht der richtige Zeitpunkt, um über Vermutungen zu sprechen.«

»Ich glaube nicht, dass es ›Vermutungen‹ sind.«

»Wir haben dir und deinen Geschwistern alles erzählt, was wir sagen können«, seufzte meine Mutter. »Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Auch wenn wir das gerne würden.«

»Paps hat für dich gelogen«, sagte ich lauter als beabsichtigt. »Damit du es nicht selbst tun musstest. Hab ich recht?«

Sie senkte den Blick. Einer der Beamten schaute zu uns herüber und deutete zu dem Schild mit den Verhaltensregeln. Ich lächelte entschuldigend, zuckte mit den Schultern und redete mit gesenkter Stimme weiter. »Ich dachte mit der Überwachung ist es vorbei, wenn das Urteil gesprochen ist. Das haben eure Anwälte doch gesagt.«

Meine Mutter schloss kurz die Augen und holte tief Luft. »Espe, ich weiß, was wir dir und deinen Geschwistern zumuten. Aber es geht nicht anders. Wir können dir nur das sagen, was du ohnehin schon weißt. Bitte versteh das.« Sie streckte ihre Hand nach meiner aus. Ich wich zurück.

»Wenn das so ist, dann müssen wir uns auch nicht mehr sehen.« Ich machte dem Wärter, der uns beobachtete, Zeichen, dass ich gehen wollte.

»Espe«, sagte mein Vater. »Espe, das ist doch nur zu eurem Besten.«

»Das wage ich zu bezweifeln.«

Der Beamte stand neben mir. »Wollen Sie auf die Toilette?«

»Nein, ich … ich will gehen.«

»Gut.« Er nickte einer Kollegin zu, dass sie sich um meine Eltern kümmerte. Ich erhob mich und schob den Stuhl an den Tisch.

»Darf ich meine Tochter noch umarmen?«, fragte meine Mutter heiser. Ich sah ihr an, dass sie kurz davor stand, zu weinen.

»Ja, natürlich, aber nur kurz.«

Ich war so perplex, dass ich wie angewurzelt stehen blieb, während meine Mutter um den Tisch herumging und mich umarmte.

»Espe«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Frag Anne nach Mute. Und bitte, bitte: kein Wort zu deinen Geschwistern, bevor du mit ihr gesprochen hast.«