Prolog
Ihre Augen starrten ihm mit leerem Blick entgegen. Es lag fast eine Art Vorwurf darin, in den blutunterlaufenen Tränensäcken und der zertrümmerten Nase. Ihr Mund mit den aufgeplatzten Lippen stand leicht offen und erinnerte ihn an eine Bockwurst, die zu lange im heißen Wasser gekocht hatte. Die Stirn lag in Falten, als hätte sie selbst im Tod noch genörgelt. In Gedanken konnte er ihre Stimme hören.
»Der Rand vom Klodeckel ist wieder voll mit deiner Pisse! Verdammt noch mal, du bist doch kein kleiner Junge mehr. Ich muss dieses Drecksding jetzt anfassen ...« Was hatte sie dann noch immer gesagt?
»Da siehst du, wo dich deine Nörgelei hingebracht hat«, sagte er laut und kicherte. »Jetzt pisse ich das ganze Klo voll, du dumme Sau.«
Er beugte sich runter und kniff die Augen zusammen. Ob sie auch wirklich nicht mehr lebte? Als würde er sie wecken wollen, tätschelte er ihre Wange und suchte ungelenk nach dem Puls.
Eindeutig, da tat sich nichts.
Ralf kippte den Rest des kleinen Fläschchens runter und warf es auf die tote Frau. Er kramte schwankend ein weiteres aus seiner Hosentasche, schraubte den Deckel ab und trank es zur Hälfte leer. Speichel und brennender Alkohol tropften ihm vom Kinn. Er rieb sich mit dem Hemdsärmel darüber.
Eigentlich war er gekommen, um noch mal über die ganze Sache zu reden. Warum sie ihn so plötzlich vor die Tür gesetzt hatte. Er wollte ihr nur klarmachen, dass sie ihn so nicht behandeln konnte.
Ich bin doch der Mann, verfluchte Scheiße. Wollte sie aus ihm einen Versager machen? Auf ihm rumtrampeln?
»Hure«, krächzte er. Abgemacht war abgemacht. Und jetzt diese Scheiße. Dabei hatte sie doch erlaubt, dass er bei ihr wohnte, bis er was Eigenes gefunden hatte, nachdem ihn seine zweite Ex-Frau rausgeworfen hatte.
»Nein, die dritte«, korrigierte er sich lallend. Wobei sie noch verheiratet waren, das Ex war also nicht offiziell.
Er leerte das Fläschchen und warf es zu dem anderen. Es landete direkt neben ihrem Ohr.
Als würde das jetzt noch eine Rolle spielen. Nur, weil die Schlampe es sich aus heiterem Himmel anders überlegt hatte, musste er nun seit zwei Wochen in der Laube des Schrebergartens seiner ... er zählte noch einmal nach. Ja, seiner dritten Ex auf der harten und viel zu schmalen Eckbank schlafen. Alternativ auf dem Boden, wenn er es dank des Alkohols nicht schaffte, sich dort oben zu halten.
Immerhin wusste er jetzt, warum es sich die blöde Fotze nach den Wochen – oder waren es sogar schon Monate gewesen? –, die er bei ihr untergekommen war, so plötzlich anders überlegt hatte. Er hatte den Brief gefunden.
Ralf rülpste und beobachtete eine träge Fliege, die seiner toten Ex-Frau über die Lippen kroch. Gleich würde sie im Mund verschwinden. Ja, die war eindeutig tot. Da würde selbst der Hartgesottenste wach werden, bevor so ein Kackviech in einen reinkrabbeln konnte. Am liebsten würde er diesen beschissenen Brief hinterherstopfen. Damit sie in der Hölle noch mal drüber nachdenken konnte. Mit der Fliege zusammen. Ralf lachte, verschluckte sich und hustete so lange, bis ihm Galle aus dem Magen in die Speiseröhre schoss.
Die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos warfen abstrakte Schatten an die Wand. Der Lichtstrahl wanderte langsam zu Boden und verlor sich in der Dunkelheit.
Dieser dumme Brief war ihr also wichtiger als ihre gemeinsamen Jahre? Ralf lehnte sich gegen die Kommode und rieb sich über die brennenden Augen. Sie war eine alte Hexe. Eine tote alte Hexe.
Gut, sie hatten sich schon vor Jahren getrennt und er hatte wieder geheiratet und ein Kind mit seiner Neuen bekommen. Aber das hatte sie vorher auch nicht gestört, da hatte sie ihm bereitwillig das versiffte Sofa angeboten, das sie damals zusammen gekauft hatten. Ihre Wohnung stank immer wie die Hölle, und der ganze Müll hatte nicht gerade für eine heimelige Atmosphäre gesorgt, aber das hatte er ausblenden können.
»Aber über eine verpisste Klobrille nörgeln«, murmelte er.
Es war allemal besser als diese verdammte Laube. Bald kam der Herbst und dann war es dort mit den einfach verglasten Scheiben mit Sicherheit zu kalt.
Andersrum war es momentan manchmal so heiß da drinnen, dass er glaubte, ersticken zu müssen.
Er hatte ja nur noch einmal mit ihr reden wollen. Um ihr zu erklären, dass sie ihn nicht so einfach im Stich lassen konnte. Erst hü, dann hott.
»Jetzt musste sie mit den Konsequenzen leben.« Er lachte über diesen dummen Satz. Mit zittrigen Fingern zog er die letzte Flasche aus der Hosentasche und leerte sie in einem Zug.
Tja, eine schnelle Lösung, aus der Gartenlaube rauszukommen, hatte sich jetzt wohl erledigt. Er hatte sich das Gespräch anders vorgestellt, aber gewissermaßen hatte sie bekommen, was sie verdiente. Dafür, dass sie ihn so hatte hängen lassen.
Er prostete ihr mit dem leeren Fläschchen zu und stopfte es in die Tasche. Dann stieß er sich von der Kommode ab und sammelte die beiden anderen ein, mit denen er nach ihr geworfen hatte. Was hatte er eigentlich alles angefasst? Er war ja schon stolz auf sich, dass er die Fläschchen eingesammelt hatte, aber seine Gedanken vernebelten immer mehr. Was wollte er eben noch machen? Es ergab doch gar keinen Sinn, zu leugnen, dass er hier gewesen war. Alleine an der Pisse auf der Klobrille würde man ihn eindeutig identifizieren. Dann die Haare auf den Sofakissen, Fingerabdrücke an Kühlschrank, Fenstergriffen, Wänden und Türen. Wahrscheinlich lag irgendwo noch eine Socke herum, die sie noch nicht gewaschen hatte. Ein paar Wochen hatte er bestimmt hier gelebt und die Nachbarn hatten das sicherlich mitbekommen.
Dass die dämliche Fotze ihn dann rausgeworfen hatte, hatten einige der Hausbewohner ebenfalls bemerkt, so einen Aufstand hatte sie gemacht. Rumgebrüllt wie eine Furie, ihn durchs Treppenhaus gejagt, weil er sich nicht so einfach hatte vertreiben lassen. Die Mutti des Türkenclans aus der Wohnung untendrunter hatte garantiert am Türrahmen gestanden und rausgelinst. Bestimmt hatten es noch mehr Nachbarn gehört.
Ob ihn jemand gesehen hatte, als er reingekommen war? Es war bereits dunkel und die meisten hier kümmerten sich schon am Tag nur um ihre eigenen Angelegenheiten. Im Treppenhaus war ihm jedenfalls niemand begegnet. Und wenn, konnte er es jetzt nicht ändern. Er würde sich schon irgendwie aus der Sache rauswinden. Jetzt musste er erst mal schleunigst von hier verschwinden.
Er schnappte sich die Flasche Asbach, die er vor seinem Rauswurf auf dem Wohnzimmerschrank deponiert hatte. Zum Glück hatte die Fotze die nicht angerührt. Dann wankte er zur Wohnungstür und lauschte. Es schien niemand draußen zu sein. Er zeigte seiner zweiten Ex noch ein letztes Mal den Mittelfinger, dann zog er den Ärmel seiner Trainingsjacke über die Hand, machte die Tür auf und verließ die Wohnung.
Erst als er irgendwann in den Morgenstunden in der Laube auf dem harten Boden aufwachte, fiel ihm ein, dass er etwas übersehen hatte.