30. Kapitel
Der Anruf bei Maren kostete Lena weniger Überwindung als befürchtet. Sie hatte sich letztlich dafür entschieden, ein Treffen mit ihr auszumachen, um ihr von Angesicht zu Angesicht klarzumachen, dass sie sich aus ihrem Leben heraushalten sollte. Mathis’ Angebot, sich den Tag freizunehmen, um dabei zu sein, hatte sie abgelehnt. Unter keinen Umständen wollte sie, dass er mit diesem Teil ihrer Vergangenheit in Berührung kam. Stattdessen sollte Yvonne sie begleiten. Die hatte gerade Semesterferien und sich gerne dazu bereit erklärt.
Zur vereinbarten Zeit parkte Lena in Yvonnes Straße und wartete auf ihre Pflegeschwester, die sich wie immer verspätete. Pünktlichkeit war noch nie ihre Stärke gewesen. Lenas Anspannung war inzwischen so groß, dass ihre Kiefer schmerzten. Sie öffnete ihren Mund wie zu einem Gähnen, ließ den Unterkiefer kreisen, um die Muskeln zu entspannen. Während sie wartete, fragte sie sich, ob es ein Fehler war, Yvonne in die Sache zu verwickeln. Im Endeffekt war es nicht ihre Schuld, dass Maren sie als Teil ihrer aufzuarbeitenden Vergangenheit betrachtete. Für einen Rückzieher war es allerdings zu spät, denn genau in diesem Moment öffnete sich die Autotür.
»Na, bist du bereit?«, fragte Yvonne lächelnd. »Ich freue mich, dass du dich doch noch umentschieden hast. Du wirst sehen, das wird gar nicht so übel werden.«
Anscheinend erhoffte sie sich von dem Gespräch eine Familienzusammenführung mit anschließender Versöhnung. Lena hatte sie nicht über ihre wahren Absichten informiert. Genauso wenig wie sie ihr von dem Besuch der Polizistin erzählte, die ihr mitgeteilt hatte, dass ihre Mutter verstorben war. Davon durfte sie sich jetzt nicht ablenken lassen.
Die Fahrt über schwieg Lena beharrlich, während Yvonne munter vor sich hinplapperte. Im Gegensatz zu Lena war sie aufgeregt, Maren nach so langer Zeit wiederzusehen und gespannt, mehr über deren Leben zu erfahren.
»Interessiert es dich so gar nicht, was aus ihr geworden ist?«, fragte sie.
»Ehrlich gesagt nicht.«
Aus dem Augenwinkel sah Lena, wie Yvonne verwundert die Augenbrauen hochzog. Es hatte ihr wohl endlich die Sprache verschlagen, denn sie wandte sich dem Beifahrerfenster zu und starrte hinaus.
»Hier treffen wir uns? So weit draußen?«, fragte sie, als Lena den Blinker setzte und auf den Parkplatz des Freizeitzentrums bei Breitefeld abbog.
Das weitläufige Gelände lag etwas außerhalb von Frankfurt an einem kleinen See unweit ihrer Joggingstrecke. Es umfasste zwei Grillstationen, einen Spielplatz mit Kletterwand und einen Fußballbolzplatz mit Rasenspielfläche. Wie erwartet war es bei der spätsommerlichen Hitze gut besucht, obwohl keine Ferien waren und es Dienstag war. Soweit verlief alles nach Plan.
»Du bist nervös, hm?« Yvonne legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie aufmunternd. »Alles wird gut.«
Lena saß regungslos da und krallte ihre Hände ins Lenkrad. Sie nickte stumm. Ihr Hals war wie zugeschnürt und sie hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Im Rückspiegel sah sie eine Radfahrerin auf den Parkplatz rollen. Ihre Schultern verkrampften sich und sie hielt den Atem an. War das Maren? Hinter der Frau tauchten ein jüngeres Mädchen und ein Mann mit Kindersitz am Lenker auf. Lena stieß die angehaltene Luft aus.
»Komm, lass uns aussteigen.« Yvonne öffnete die Beifahrertür. »Wir schwitzen uns hier drin noch zu Tode.«
Erst als draußen eine angenehme Brise um ihre Beine streifte, merkte Lena, wie warm und stickig es im Wagen gewesen war. Sie ließ ihre Schultern kreisen und versuchte, ihre Nackenmuskulatur zu lockern. Ihr ganzer Körper fühlte sich an wie in eine Starre verfallen. Wenn sie das hier hinter sich gebracht hatte, brauchte sie erst mal einen Termin bei der Thaimassage.
Ein Linienbus, der nur im Sommer diese Haltestelle anfuhr, hielt vor dem Eingang zum Freizeitzentrum. Eine Familie mit Kleinkindern stieg aus, außerdem ein Rentnerpaar. Dahinter kam eine junge Frau zum Vorschein. Lena erkannte sie sofort. Ihre Instinkte riefen nach Flucht und sie musste sich nahezu zwingen, nicht davonzurennen.
Maren war dem Monster wie aus dem Gesicht geschnitten. Tiefliegende Augen unter markanten Augenbrauen, dazu hängende Wangen, die ihr das Aussehen einer Bulldogge verliehen. Sie war eine weibliche Kopie ihres Vaters.
»Ist sie das?«, fragte Yvonne, die ihren Blick bemerkt hatte.
Lena brachte nur ein Nicken zustande. Bleib ruhig, beschwor sie sich. Denk immer an dein Ziel.
»Wir sollten zu ihr gehen.«
Das war nicht nötig, denn Maren hatte Lena offenbar ebenfalls erkannt und bewegte sich auf die beiden zu. Unschlüssig blieb sie vor ihnen stehen. Yvonnes Arme zuckten kurz nach oben, als ob sie Maren umarmen wollte, dann hielt sie sich aber zurück. Vermutlich fiel ihr das nicht gerade leicht, denn sie war ein sehr körperlicher Mensch, der anderen bei jeder sich bietenden Gelegenheit um den Hals fiel.
Keine von ihnen sagte etwas, Maren und Lena starrten sich einfach nur an. Wobei Lena nicht ihre Halbschwester vor sich sah, sondern ihren Stiefvater. Sie war mit einem Mal wieder zwölf, Angst und Wut beherrschten ihren Körper.
Schließlich war es Yvonne, die zuerst das Wort ergriff. »Das nenne ich mal eine herzliche Begrüßung«, versuchte sie, die angespannte Situation aufzulockern.
Maren lachte gezwungen, es klang falsch. »Mann. Da habe ich mir dieses Aufeinandertreffen so lange im Kopf ausgemalt und mir zurechtgelegt, was ich sagen will, und dann stehe ich hier, als hätte ich meine Sprache verloren.«
»Lasst uns doch ein Stück gehen.« Lena musste sich geradezu zwingen, diese Worte hervorzuwürgen.
Sie setzten sich in Bewegung und schlugen den Weg in Richtung Waldrand ein.
»Ich bin wirklich froh, dass du dich doch für ein Treffen entschieden hast«, sagte Maren, nachdem sie eine ganze Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren.
»Ja.« Mehr wusste Lena nicht darauf zu erwidern. Von sich konnte sie das nicht behaupten. Sie schaute sich um. Außer ihnen war weit und breit niemand zu sehen. Mittlerweile hatten sie sich ein ganzes Stück vom Freizeitzentrum entfernt. Die Bäume am Wegesrand spendeten etwas Schatten und machten die Temperaturen erträglich.
»Lustig.« Maren deutete auf eine Stelle im Dickicht, wo die verfallenen Überreste eines Hochsitzes standen. »Ich glaube, hier waren wir mal zusammen.«
Lena fragte sich, was daran lustig sein sollte. »Nicht, dass ich wüsste«, antwortete sie wahrheitsgemäß.
»Doch. Ich erinnere mich genau. Es gab Streit zu Hause.« Ein dunkler Schleier legte sich über ihr Gesicht. »Wir haben uns rausgeschlichen und du hast mich dann auf den Gepäckträger genommen und wir sind hierhergefahren. Haben noch darüber gesprochen, wie es wäre, wenn wir uns hier eine Höhle bauen würden, in der wir leben könnten. Wenn wir nie wieder zurück zu Mama und ... und zu Ralf müssten.«
Lena schüttelte den Kopf. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an solch eine Situation erinnern. Aber falls es stimmte, hätte Maren damals von ihrem Versteck wissen können. Der Bunker, in dem sie mit fünfzehn einige Nächte verbracht hatte, nachdem sie von zu Hause ausgerissen war, lag nicht weit entfernt. War sie etwa so schnell gefunden worden, weil Maren verraten hatte, wo sie stecken könnte? Sie hob den Blick, schaute dem Abbild des Monsters ins Gesicht und meinte, einen Anflug von Hinterhältigkeit darin zu erkennen.
»Mann, was haben wir Dresche bezogen, als wir am Abend zurückgekommen sind«, sagte Maren so beiläufig, als würde sie von ihrem letzten Einkauf erzählen.
»Wir?«, fragte Lena. Sie konnte nicht glauben, was Maren da von sich gab.
»Ja, wir«, sagte Maren zu ihrer Verwunderung. »Glaubst du, Ralf hat sich nur an dir ausgelassen?« Sie schien überzeugt von dem, was sie sagte. Dabei wusste Lena es besser.
»Ralf ...« Lena schnaubte abfällig. »Bezeichne ihn doch einfach als das, was er ist: dein gottverdammter Vater.«
Maren starrte betreten auf ihre Füße. Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und rann ihre Wange hinab.
Abermals ärgerte Lena sich, dass sie entschieden hatte, Yvonne mitzubringen. Die Show, die ihre Halbschwester hier abzog, war beinahe glaubwürdig. Mit ihrem Geheule würde sie es schaffen, Mitleid zu erregen und wieder mal so zu tun, als wäre sie das alleinige Opfer.
»Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Außerdem haben wir beide gleichermaßen unter ihm gelitten.«
»Das kann nicht dein Ernst sein.« Lena spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss. »Ich bin es doch gewesen, die die Prügel von deinem Vater einstecken musste, während du und unsere Mutter tatenlos danebenstanden. Wenn du Pech hattest. Mit Glück wurdest du in dein Zimmer geschickt, wenn ich grün und blau geschlagen wurde.« Für Maren hatte Ralf sich nicht mehr interessiert, nachdem er seine Wut an ihr ausgelassen hatte und jetzt versuchte sie, sich hier als Opfer darzustellen.
»Oh, vielleicht reden wir über etwas anderes«, meldete sich Yvonne das erste Mal zu Wort, seit sie vom Parkplatz losgelaufen waren.
War ja klar gewesen, dass sie die Wahrheit nicht ertragen konnte. Für sie herrschte in der Welt immer eitel Sonnenschein und es gab für alles eine Lösung. Dass es Menschen auch mal anders gehen konnte, lag wohl außerhalb ihres Vorstellungsbereiches.
»Warum? Weil du nicht hören willst, welche Scheiße ich dank ihres Vaters durchmachen musste?«, giftete Lena sie an. »Tut mir leid, wenn ich dir dadurch den Tag verderbe.«
Yvonne schaute sie schockiert an, aber Lena ließ sich nicht beirren. »Du warst es doch, die mich zu diesem Treffen überredet hat. Was hast du gedacht? Dass es hier nur Frieden, Freude und Eierkuchen für alle gibt?«
»Hey, komm mal runter«, wehrte sich Yvonne. »Niemand will dir ans Bein pinkeln. Ich glaube nicht, dass deine Schwester dir abspricht, dass du Schreckliches durchmachen musstest.«
»Meine Halbschwester.« Lenas Stimme war schrill, hinter ihren Augen flirrte es.
»Ich will überhaupt nicht aufwiegen, wem von uns beiden es schlechter ging. Wir beide haben unser Päckchen zu tragen.«
Lena fuhr herum, funkelte ihre Schwester an. »Halts Maul! Hör auf, dich in den Mittelpunkt zu drängen, du dumme Schlampe!«
»Ich bin eine Schlampe, ja? Du hast mich einfach in dieser Hölle zurückgelassen, als du abgehauen bist. Kein Stück hat es dich interessiert, was aus mir wird. Wenn man dich nicht so schnell gefunden hätte, du hättest mich bei unseren Eltern verrotten lassen.«
»Red nicht so eine Scheiße. Dir ging es doch gut.«
»Gut ging es mir? Was redest du da? Was glaubst du, warum ich zwischen Psychiatrie und Heim, wo ich als Verrückte das Mobbingopfer Nummer eins war, hin- und hergereicht wurde, während du behütet in einer Pflegefamilie aufgewachsen bist? Weil es mir so gut ging? Du hast mittlerweile ein wunderbares Leben, während ich niemals auch nur ein richtiges Zuhause hatte.«
Lena lachte abschätzig auf. »Das machst du mir jetzt zum Vorwurf? Du warst doch selbst daran schuld. Hast dich verhalten wie eine Psychopathin. Frag doch Yvonne.«
»Wow! Jetzt reicht’s!« Hilflos sah Yvonne zwischen Lena und Maren hin und her. »Lena, ich habe dir gesagt, dass ich mich nicht mal daran erinnern kann.«
»Ich war traumatisiert!«, brüllte Maren. Die Wut in ihrem Blick verlieh ihr noch mehr das Aussehen des Monsters.
»So siehst du das also. Du bist das arme Opfer in der ganzen Geschichte und jetzt lässt du dich dazu herab, dich versöhnen zu wollen. Wie dankbar wir doch sein können ...« Lena trat einen Schritt zur Seite, um Maren besser im Blick zu haben. Yvonne tat es ihr gleich, stellte sich zwischen die Schwestern.
»Lass das«, zischte Lena.
»Sonst was?« Yvonne stemmte die Hände in ihre runden Hüften.
»Ja, sonst was?«, wiederholte Maren die Frage. »Wirst du sonst das weitergeben, was du als Kind gelernt hast?«
Lena schloss die Augen. Blinde Wut kochte in ihr hoch, brodelte wie Säure in ihrer Kehle. Wie aus dem Nichts übernahmen ihre Instinkte die Kontrolle. Sie schoss nach vorne, packte mit der einen Hand in den Haarschopf ihrer Pflegeschwester und stieß ihr mit der anderen mit voller Wucht vor die Brust. Yvonne taumelte, machte einen Schritt nach hinten und trat in ein Erdloch. Vor Schreck schrie sie auf, stürzte und schlug mit dem Kopf ungebremst auf dem Asphalt auf. Sofort trat Blut aus einer Platzwunde.
Mit geballten Fäusten wandte sich Lena Maren zu, die die Szene mit ausdruckslosem Gesicht beobachtet hatte. »Das ist alles deine Schuld!«