44. Kapitel
Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis sie das Video von den Kollegen der Schutzpolizei zugesandt bekamen. Genau genommen waren es zwei, eines aus dem Eingangsbereich des Krankenhauses und eines vom Parkplatz. Die Bereiche waren jeweils aus vier Perspektiven in vier Bildbereichen zu sehen. Fabian spulte das erste Band zu der Uhrzeit, von der sie vermuteten, dass Lena aus der Klinik verschwunden war. Tatsächlich vergingen nur wenige Minuten, bis man sie mit dem leuchtend weißen Kopfverband durch das Foyer laufen sah.
»Warum grinst sie so seltsam?«, fragte Thomas. Genau das war Fabian auch aufgefallen. »Und ziemlich fit wirkt sie auch, wie sie da so herumspaziert. Wenn man bedenkt, dass mit einem Ast auf sie eingeprügelt wurde, bis sie das Bewusstsein verloren hat.«
»Ein ordentliches Schmerzmittel kann Wunder bewirken. Aber ich gebe dir recht. Sie sieht mir etwas zu agil aus.« Fabian stoppte das Band, als man das Gesicht von Lena Junghans gut erkennen konnte. Es wirkte beinahe so, als würde sie direkt in die Kamera lächeln. »Sieht man so zufrieden aus, wenn man gerade erfahren hat, dass die Pflegeschwester im Koma liegt?«
Thomas zuckte mit den Schultern. »Höchstens, wenn man sie nicht besonders gut leiden kann.«
Fabian ließ das Band weiterlaufen. Lena Junghans ging zum Kiosk im hinteren Bereich und kaufte etwas. Als sie in Richtung Eingangstür lief, erkannten sie, worum es sich handelte. Sie futterte einen Schokoriegel.
»Da hat einem wohl das Abendessen nicht gemundet. Wo wir es gerade davon haben ...« Thomas nahm sich den Becher Müsli, den er vorhin beiseitegestellt hatte, und schaufelte es in sich hinein.
»Irgendwie nachvollziehbar. Ich würde ein Snickers auch jedem Krankenhausfraß vorziehen.« Nur ungern erinnerte Fabian sich an seinen letzten Klinikaufenthalt, als er von einem Verdächtigen angeschossen worden war. Er war froh gewesen, dass Josi ihm immer selbstgekochtes Essen vorbeigebracht hatte, denn ansonsten wäre er vermutlich verhungert bei der geschmacklosen Pampe, die man serviert bekam.
Auf dem Video hatte Lena Junghans inzwischen den Eingangsbereich verlassen. Sie beobachteten das Gewusel auf dem Monitor noch ein wenig, konnten aber nirgends Maren Eichner entdecken. Fabian startete das zweite Band und spulte vor, bis sie Lena aus der Tür kommen sahen.
Sie schaute sich kurz um und ging dann zielstrebig auf den Taxistand zu, wo sie mit einem der Fahrer sprach und rasch in den Wagen stieg. Das Taxi blieb noch einen Moment stehen, stieß es rückwärts aus der Lücke und fuhr in Richtung Ampel davon. Auf den ersten Blick war nirgends eine Spur von der jüngeren Schwester zu sehen.
»Eine Entführung war das definitiv nicht«, stellte Thomas überflüssigerweise fest.
»Bleibt die Frage, wo sie hingefahren ist. Warum ist sie nicht zu Hause aufgetaucht?«
»Vielleicht ist sie zu ihren Pflegeeltern gefahren, um ihnen beizustehen. Deren Tochter liegt immerhin mit einem Schädel-Hirn-Trauma im Koma.«
»Warum hat sie dann ihrem Lebensgefährten nicht wenigstens Bescheid gegeben? Der war am Nachmittag, als ich und Helga dort aufgebrochen sind, noch bei ihr. Sie entscheidet doch nicht spontan, wegzufahren, ohne ihm zu sagen, wo sie ist. Geschweige denn sich bei den Schwestern abzumelden.« Fabian glaubte nicht, dass die Erklärung so simpel war. Wenn man – vermeintlich – im Krankenhaus lag, machte man sich doch nicht einfach aus dem Staub, ohne jemanden zu informieren. Hatte sie Angst, dass ihr Lebensgefährte irgendwie in der Sache mit drinsteckte?
Nein, wie Thomas eben noch korrekt angemerkt hatte, wirkte sie nicht gerade betroffen, sondern eher gut gelaunt, wie sie durch die Gegend stolzierte. Aber was war es dann?
Hatte sie gelogen und wusste, wo ihre Schwester steckte, und wollte sie nun eigenmächtig für den Angriff bestrafen? Oder schützte sie die kleine Schwester, weil sie deren Taten nachvollziehen konnte oder gar guthieß? Doch warum hatte Maren Lena dann angegriffen und weshalb war Yvonne Kiefer bei dem Treffen der Schwestern dabei gewesen? Keine der Varianten klang in Fabians Ohren logisch.
»Ich rufe da jetzt einfach mal an, dann finden wir es raus«, sagte Thomas und drehte sich zu seinem Telefon.
Währenddessen spulte Fabian das Band noch mal zurück und achtete genauer auf die Umgebung. Dabei entdeckte er zwar nicht Maren Eichner, aber Helga, wie sie am äußeren Bildrand stand und rauchte. Offensichtlich hatte sie Lena gesehen, denn sofort, nachdem die Frau ins Taxi gestiegen war, stürmte Helga los. Kurz darauf sah man ihren Käfer, der dieselbe Richtung wie das Taxi einschlug. Sie hatte die Verfolgung aufgenommen.
»Also bei den Kiefers ist sie nicht«, sagte Thomas. »Die wollten sie heute früh besuchen, da sie noch nicht zu ihrer Tochter durften.«
»Helga könnte wissen, wo sie hin ist, sie ist ihr nämlich hinterhergefahren.« Fabian setzte erneut den Timer zurück und wählte in dem Videoprogramm die Einstellung so, dass er nur die Perspektive auf den Taxistand sah.
»Das hilft uns nicht, wenn wir sie nicht erreichen. Sie verfolgt eine wichtige Zeugin, die Opfer eines tätlichen Angriffs wurde und sich eigenmächtig und ohne jemanden zu informieren, aus dem Krankenhaus entlässt. Später ruft sie dich von irgendwo aus an, wo sie keinen Empfang hat, und ist seitdem verschwunden. Was zum Teufel geht da vor sich?«
»Uns kann vielleicht noch jemand verraten, wo Lena sich hat hinbringen lassen«, sagte Fabian und tippte auf den Monitor. In der Heckscheibe des Taxis war deutlich die Ordnungsnummer zu erkennen.
Thomas stellte eine Anfrage beim Straßenverkehrsamt, das ihnen den Taxiunternehmer des Fahrzeugs mitteilte. Dieser gab ihnen bereitwillig Auskunft darüber, wohin der Fahrer Lena Junghans gebracht hatte. Zielort der Fahrt war das Freizeitzentrum bei Breitefeld gewesen.
»Warum um alles in der Welt lässt sie sich um diese Uhrzeit zu so einem abgelegenen Ort fahren?«, fragte Thomas, als Fabian das Gespräch mit der Taxizentrale beendet hatte.
»Umso seltsamer, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet dort am Vormittag der Angriff durch Maren Eichner stattfand.«
Thomas runzelte die Stirn und massierte sich seine Augenbrauen. »Breitefeld ... ist da nicht die alte Munitionsfabrik der Wehrmacht in der Nähe?«
»Kann gut sein.«
»Doch, doch! Ich bin mir sicher. Muna wird die, glaube ich, genannt. Schau mal nach.« Er deutete auf Fabians Monitor.
»Ja, kein Stress.« Fabian warf Thomas einen skeptischen Blick zu. Dann rief er Google Maps auf und gab Muna Breitefeld ein. Tatsächlich lagen zwischen dem Freizeitzentrum und dem Kasernengelände nur knapp anderthalb Kilometer Luftlinie.
»Wusste ich es doch.« Thomas nickte stolz, als habe er eine bahnbrechende Entdeckung gemacht. Fehlte nur noch, dass er sich auf die Brust klopfte.
»Seit wann interessierst du dich für Geschichte? Und viel wichtiger, inwiefern hilft uns das jetzt weiter?«
»Keine Ahnung, ob uns das weiterhilft, aber in den Bunkern der Muna wurde Lena Junghans damals aufgegriffen, als sie von zu Hause ausgerissen ist. Stand in der Ermittlungsakte.«
»Ach, das war dort?« Fabian erinnerte sich. Ein Förster hatte ihr Versteck entdeckt und sie bei der Polizei abgeliefert.
»Exakt«, sagte Thomas. »Lena verlässt das Krankenhaus, will zu ihrem ehemaligen Zufluchtsort. Helga folgt ihr, ruft dich von unterwegs an. Dazu passt, dass sie keinen Empfang hatte. Was ist dann passiert?«
Fabian rief sich in Erinnerung, was Horst vorhin gesagt hatte. »Helga hatte Zweifel an der Aussage von Lena Junghans. In einem Punkt hat sie uns angelogen, nämlich dass sie keinen Kontakt zu der Sozialarbeiterin hatte.« Fabian zeigte auf den Schaltplan – Genogramm hatte Horst es genannt.
»Ich versteh nur Bahnhof.«
»Da geht es dir wie mir. Feststeht wohl jedenfalls, zumindest in Helgas Augen, dass sie uns nicht die Wahrheit gesagt hat. Ehrlich gesagt ist es mir gleich seltsam vorgekommen, dass sie behauptet hat, bei dem Namen würde nichts bei ihr klingeln.« Im Nachhinein ärgerte Fabian sich, dass er nicht sofort genauer hingeschaut hatte. Er war in dem Moment zu nervös gewesen, was bei Peitsch und Thomas rausgekommen war, sodass er es einfach übergangen hatte. Im Gegensatz zu Helga.
»Warum sollte die Junghans in diesem Punkt lügen?«
Fabian überlegte einen Augenblick. »Möglicherweise ist es so, dass nicht Ralf und Maren Eichner auf einem gemeinsamen Rachefeldzug sind. Stattdessen bringen die beiden Schwestern jeden um, der sie in ihren Augen auseinandergebracht hat.«
»Warum dann diese Attacke?«
Fabian hob ratlos die Hände. »Zur Ablenkung? Ich weiß es nicht.«
»Dann hätten Maren und Lena auch behaupten können, dass ihr Vater sie verfolgt und angegriffen hat. So ist doch klar, dass wir nach der Schwester suchen.«
Thomas hatte recht. Das ergab keinen Sinn. In jedem Fall aber war Helga einer Sache auf die Spur gekommen und daraufhin womöglich in Schwierigkeiten geraten. »Was es auch ist, ich bin mir mittlerweile sicher, dass wir die Antwort in einem der Bunker finden«, sagte Fabian. »Und Helga hoffentlich auch.«