Dass das Inferno nicht gleich am Sonntag über das Wild-at-Heart-Hotel hereinbrach, lag vor allem daran, dass die Zeitung zu der Zeit, als das Foto von Sara und Noah aufgenommen wurde, längst gedruckt worden war. Dass auch am Montag niemand aufgeregt und mit Druckerschwärze an den Fingerkuppen durch die Lobby lief, hing damit zusammen, dass auf besagten Fotos nicht wirklich viel zu erkennen war. Ein Tatumstand, der dazu führte, dass in der Redaktion der Sun nach wie vor darüber diskutiert wurde, ob man es riskieren konnte, eine so undeutliche Aufnahme gepaart mit so eindeutigen Anschuldigungen zu veröffentlichen. Inzwischen war es Freitag geworden. Aber, wie hieß es so schön: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Das würde den Beteiligten noch früh genug bewusst werden. Und ganz abgesehen davon war in dieser Woche ohnehin mehr passiert, als für eine so kleine Insel gut sein konnte.
Das Wetter beispielsweise hatte sich drastisch verschlechtert – tatsächlich war über Nacht der Frost gekommen, was dem Strandabschnitt vor dem legendären Herzfelsen hübsch zu Gesicht stand (der weiß gezuckerte Sand glitzerte in der Morgensonne, die Gräser auf den Klippen reckten sich knisternd in die frische Brise), den überraschten Insulanern jedoch Gänsehaut über die vom Golfstrom verwöhnte Haut jagte. Ein Teil des Caterings wurde nach innen ins Restaurant verlagert, und auch am Set kam es wegen des Temperatursturzes zu Komplikationen – mit einem Mal war eine Atemwolke vor den Schauspielern zu sehen, was in der Szene davor noch eindeutig nicht der Fall gewesen war. Sie verwob sich hervorragend mit der Wolke aus Wut, die seit der Pressekonferenz stetig über dem Kopf des Regisseurs zu wabern schien oder zumindest seit der Veröffentlichung von Heathers Skandalfoto. Während Minnie ihm noch einzureden versuchte, dass schlechte Presse besser sei als gar keine Presse, war die dem Meister der Inszenierung im Grunde sowieso einerlei. Was ihm dagegen nicht egal war, war die latente Unkonzentriertheit seiner Darsteller, die der ganze Wirbel mit sich brachte. Seit ihrer öffentlichen Diffamierung hatte die Maske einiges zu tun, Miss Mompellers vom Weinen gerötete Augen fachgerecht zu überschminken, während er damit beschäftigt war, sie zu einem gewissen Maß an Disziplin anzuhalten. Auch Noahs Aufmerksamkeit war schon einmal schärfer gewesen, wenngleich Ian ihm zugutehalten musste, dass dieser gewisse entschlossene Zug um den Mund seiner Rolle des leidenschaftlichen Barbaren eigentlich ganz gut stand.
Wie dem auch sei – die Dreharbeiten verliefen zäh, die ungewöhnliche Kälte tat ihr Übriges, und auch die Drehpausen halfen niemandem dabei, sich zu sammeln, denn sie wurden von beinahe allen Beteiligten hauptsächlich dazu genutzt, sich mit wem auch immer via Mobiltelefon auszutauschen.
Was Ian Grumbole nicht ahnte: Seit dem Eklat über das gemeinsame Foto von Heather Mompeller und Ivan Trust waren die beiden sich wieder nähergekommen, anstatt die vereinbarte Beziehungspause einzuhalten. Der weltgewandte und äußerst erfahrene Ivan war sich darüber im Klaren, dass es bei einer Produktion dieser Größe und Wichtigkeit zu solch ungewöhnlichen Arrangements kommen kann, wie beispielsweise zu Pressezwecken eine Liebesgeschichte vorzutäuschen. Daher hatte er sich dazu bereit erklärt und Heather sogar dazu gedrängt, diese Chance, die ihr eine Serie wie Unknown bieten konnte, nicht verstreichen zu lassen. Nun aber, nach dem Auftauchen dieses dusseligen Fotos von ihnen beiden musste er über die Ferne (und lediglich kurze Telefonate oder Textnachrichten) miterleben, welch katastrophale Folgen die ganze Geschichte auf die Psyche seiner Liebsten hatte. Heather war quasi ein Wrack. Zwar versuchte sie tapfer, an der von den PR-Leuten zusammenfantasierten Geschichte festzuhalten, doch machte es sie mehr und mehr nervös, unter scheinbar ständiger Beobachtung zu stehen. Sie fühlte sich allmählich verfolgt, ganz zu schweigen von der Verurteilung ihrer Person, die mit alldem einherging. Weshalb Minerva Barnes im Laufe der Woche Pressetreffen organisiert hatte, um die Wogen zu glätten, und Fotografen ans Set einlud, um die vorgeblich stimmige Chemie zwischen ihr und Noah Perry festzuhalten.
Sie mochte Noah, wirklich. Er wäre niemals der Mann, den sie darüber hinaus attraktiv finden würde, aber sie verstand sich ehrlich gut mit ihm, und er war nett. Nett, und höchst verständnisvoll, was Heathers nervliche Belastung und ihre Gefühle für Ivan anging. Plus: Er war der Einzige, mit dem sie über beides sprechen konnte (die Auswahl war nach Unterzeichnung der Verschwiegenheitserklärung nicht sonderlich groß), also tat sie es neuerdings auch. Sie erzählte ihm davon, dass sie sich nicht habe vorstellen können, wie schlecht es ihr dabei gehen würde, alle um sie herum anzulügen.
Sogar die nette Hotelinhaberin.
All das erzählte sie Noah. Der wiederum gab Heather gegenüber diesen einen denkwürdigen Satz zum Besten: Dinge passieren, wenn man am wenigsten damit rechnet.
Ja, dachte Heather. Mmmh.
Noah hatte die Woche über damit verbracht, eine gute Miene zum bösen Spiel aufzusetzen, für die Kameras zu lächeln, für den Regisseur zu funktionieren und Heather ein verständnisvoller Partner zu sein. Darüber hinaus hatte er unter einem Vorwand (»Ich möchte meiner Mutter Blumen schicken. Können Sie mir den Kontakt zu Ihrer Gärtnerin verraten?«), Saras Nummer herausbekommen, und seither, das heißt, seit nunmehr zwei Tagen in jeder freien Minute an sie geschrieben.
Sie hatten nicht mehr miteinander gesprochen und sich auch nicht mehr gesehen. Und Noah hatte angestrengt versucht, nicht an diesen einen, einzigen Kuss zu denken, den die beiden vor beinahe einer Woche miteinander getauscht hatten. Doch diese kleinen Nachrichten hier und dort hatten ohnehin ausgereicht, um eine Sehnsucht in ihm zu schüren, die er womöglich nicht mehr allzu lange zu unterdrücken in der Lage war.
Gerade hat mich ein Windhauch gestreift. Ich stelle mir vor, wie er an den Klippen entlang zu den Gärten weht, um dir einen Gruß von mir zu übermitteln.
Ist angekommen. Von dem schmierigen Echsenverschnitt, hat es geheißen.
Schmierig? Echsenverschnitt? Du solltest dir die Mühe machen, das Kostüm einmal genauer zu betrachten. Oder zumindest das darunter.
PS So hab ich es übrigens nicht gemeint.
Nein? :-) Dann werde ich es auch besser nicht kommentieren.
Ich bin übrigens nicht im Garten, sondern im Hotel. Weihnachtsdekoration.
Heißt das, wir sehen uns später?
Was auch immer Noah erwartet hatte, er bekam keine Antwort mehr auf diese Frage.
Gretchen stand vor dem Eingang des Hotels und rieb sich mit den Händen über die Arme, die lediglich mit dem dünnen Stoff ihres Blazers bedeckt waren. Sie blickte in den Himmel, der düster und grau auf sie zurückstarrte, und dann zur Fassade des Wild at Heart hinauf, die einen weitaus freundlicheren Anblick darbot. Das halbrunde Schild über dem Eingang war bereits mit einigen Girlanden aus künstlichen Weihnachtssternen und Mistelzweigen verziert worden, unterhalb der Dachrinne zog sich eine Kette aus kleinen sternförmigen Lichtern. Sobald es zu dämmern begann, glitzerte und funkelte das Hotel in den wärmsten Weißtönen, und Gretchen musste unwillkürlich lächeln bei dem Gedanken daran, wie gemütlich und anheimelnd diese Zeit war. Doch dann fiel ihr ein, dass sie nach wie vor nicht entschieden hatten, wie und in welcher Runde sie Weihnachten in diesem Jahr verbringen würden, und das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Sie musste sich mit Theo besprechen. Und mit Nicholas. Sie mussten entscheiden, wie sie das Jahr ausklingen lassen wollten und wie das neue beginnen.
Ja, der Wind pfiff ums Haus an diesem Freitagnachmittag. Er raschelte in den Wipfeln der Bäume und hob die Spitzen von Gretchens Haaren an. Im gleichen Augenblick pfiff er durch das Dachfenster des Hotels und spielte mit den Papieren, die Bruno und Theo um sich herum verstreut hatten, und er fuhr durch das Tor in den Stall, wo Nettie sich mit Paolo die Zeit vertrieb.
Der Wind strich über Port Magdalen, streichelte den Herzfelsen und das Dach des Wild-at-Heart-Hotels, und es war, als trüge er ein Versprechen mit sich, ein vages nur, auf das, was da noch kommen würde.