46.

Oscar schlief nicht sonderlich in dieser Nacht. Wie so oft schalt er sich in Gedanken dafür, Florence etwas vorzuspielen, anstatt ihr endlich die Wahrheit zu sagen. Florence wälzte sich ähnlich unruhig im Bett. Sie hatte es im vergangenen Jahr genossen, Weihnachten nicht zu Hause verbringen zu müssen, wo es oft anstrengend zuging und jeder gereizt war. Außerdem war sie nicht gern so lange von Oscar getrennt. Besonders seit sie im Hotel arbeitete und sich mit den Mitarbeitern des Wild at Heart zudem das kleine Cottage unten am Hafen teilte, fiel es ihr schwer, sich auch nur einen Tag von ihrem Freund zu verabschieden. Das war die Gewohnheit, sagte sie sich. Sie war es einfach nicht mehr gewohnt, Oscar nicht jeden Tag zu sehen.

Nettie hingegen schlief für gewöhnlich unerschütterlich, so auch in dieser Nacht. Obwohl ihr die Bettdecke allmählich zu kalt erschien in diesem ungewöhnlichen Winter, atmete sie ruhig und tief, während der Wind ums Haus jagte und der Himmel sich allmählich mit Schneewolken füllte. Wovon Nettie nichts mitbekam. Und auch sonst niemand im Wild-at-Heart-Hotel, zumindest jetzt noch nicht. Es war mittlerweile nach elf Uhr abends, und wer nicht schlief, hatte es sich hinter zugezogenen Vorhängen gemütlich gemacht.

Auch Nettie hatte ihr Zimmer abgedunkelt, weshalb sie nicht einmal die Chance hatte, die Silhouette zu erkennen, die sich da draußen ihrem Fenster näherte, selbst dann nicht, wenn sie wach gewesen wäre. Und als jene Silhouette dann ganz sacht gegen ihre Scheibe klopfte, hörte sie erst auch nichts davon. Da musste sich der nächtliche Besucher schon mehr Mühe geben.

»Nettie?«, flüsterte es. Erneutes Klopfen, lauter jetzt. »Nettie, schläfst du? Nettie?«

Es dauerte einige Momente, bis Nettie das kontinuierliche Hämmern und das stetige Wispern aus ihrem Traum in die Realität schob. Als ihr schließlich bewusst wurde, dass da draußen vor ihrem Fenster jemand stand, begann ihr Herz automatisch schneller zu schlagen.

»Nettie?«

Nettie riss die Augen auf. »Damien?« Sie warf die Bettdecke zurück, sprang auf und rannte zu ihrem Fenster, wo sie den Vorhang zur Seite riss und den Hebel entriegelte, alles in einem Atemzug. Sie schob den Rahmen nach oben. Und da stand er, als wäre es nicht das Unglaublichste, was sie sich in diesem Moment hätte vorstellen können, im Licht der Fassadenleuchten, die ihn noch zusätzlich wie eine Erscheinung wirken ließen. Damien. Damien Angove.

»Was … Was um Himmels willen tust du hier?«, fragte Nettie.

Damien, der ein Stück größer war als die Höhe, die das Fenstersims erreichte, beugte sich vor, um ihr in die Augen zu sehen. »Ich bin hier, um etwas klarzustellen«, sagte er. »Lässt du mich rein? Die Eingangstür ist scheinbar zugesperrt, jedenfalls kam ich nicht …«

»Wie um alles in der Welt bist du denn hergekommen, mitten in der Nacht?«

»Bus und Anhalter.« Damien zuckte mit den Schultern. »Hat etwas länger gedauert als gedacht. Ich bin heute Morgen schon losgefahren. Lässt du mich jetzt rein? Es ist ziemlich kalt hier draußen.«

»Was?«, fragte Nettie ungläubig, die nach wie vor nicht zu begreifen schien, wen sie da vor sich sah. »Was willst du klarstellen?«

Ein paar Sekunden lang schwieg Damien, dann schien er einzusehen, dass Nettie offenbar gar nicht daran dachte, ihm die Tür zu öffnen, also nahm er den Rucksack von seinen Schultern und reichte ihn ihr durchs Fenster.

»Hier, nimmst du den?«

»Damien …«

»Geh mal ein Stück zurück, bitte.« Er schob das Fenster noch ein bisschen höher, so weit es ging, und machte sich daran, kopfüber in ihr Zimmer einzusteigen.

»Bist du verrückt geworden? Hör auf damit, das ist viel zu schmal, da passt du nie im Leben durch!«

»Unterschätze nie die Willenskraft eines Entschlossenen«, murmelte Damien, und während er ächzend und stöhnend versuchte, sich durch den Fensterspalt zu quetschen, lief Nettie – nur in einem T-Shirt und Schlafshorts bekleidet – aus ihrem Zimmer und zum Hintereingang, um ihm die Tür aufzuschließen. Dann lief sie ums Haus herum zu ihrem Fenster.

»Damien! Oh, verdammt, ist das kalt.« Sie zupfte an dem Saum seiner Jacke, während Damien mit den Beinen in der Luft hing, halb in ihrem Zimmer, halb draußen. »Hör jetzt sofort auf damit und komm durch die Tür.«

»Als wir noch Kinder waren, hat das immer funktioniert«, hörte sie ihn dumpf, während er von seinem Versuch abließ, bei ihr einzusteigen, und sich wieder aufrecht hinstellte.

»Als wir Kinder waren, hat so einiges funktioniert«, erwiderte Nettie, schlang die Arme um ihren Körper und hüpfte von einem Fuß auf den anderen.

»Scheiße, hast du keine Schuhe an?« Und in dem Augenblick, in dem er das ausrief, hatte er seine Arme schon um Netties Taille geschlungen und sie hochgehoben.

»Damien!«, quiekte Nettie.

Damien hob sie noch ein Stück höher. »Schling deine Beine um meine Hüfte.«

»Was? Nein! Spinnst du? Lass mich runter.«

»Hör auf zu zappeln oder wir fallen beide auf den Hintern.« Er schob seine Hände unter Netties Po, und wie automatisch schlossen sich deren Beine um Damiens Taille, während sie ihre Arme um seine Schultern schlang. Es wäre ihr noch einiges zu sagen eingefallen, während ihr bester Freund aus Kindertagen sie am Haus entlang zum Hintereingang trug, Dinge wie: Mach dich nicht lächerlich, ich kann allein laufen oder Bist du auf einmal verrückt geworden oder Hast du wieder zu viele Schundromane gelesen? Doch sie äußerste keinen einzigen dieser Gedanken. Stattdessen spürte sie der Reaktion ihres Körpers nach, sich auf einmal mehr als bewusst, dass sie Damien noch nie so nah gewesen war wie in diesem Augenblick.

Das kann einen schon mal aus dem Tritt bringen.

»Hoppla.« Damien stolperte quasi in Netties Zimmer, fing sich wieder, wobei seine Hand unter ihr T-Shirt rutschte. Und er beließ sie dort. Und setzte Nettie auch nicht ab, stattdessen nahm er auf dem Rand ihres Bettes Platz, mit ihr auf seinem Schoß.

»Du hast Schnee in den Haaren«, sagte er, doch seine Hände blieben genau dort, wo sie waren, unter Netties T-Shirt, auf ihrer Haut, und weil sie wusste, was dies zu bedeuten hatte, lief sie ganz allmählich, aber stetig, rot an.

»Ich hab gar nicht gemerkt, dass es angefangen hat zu schneien.«

Nettie schwieg immer noch. Sosehr sie sich auch anstrengte, ihr wollte nichts einfallen, all ihre Sinne und sämtliche Nervenenden schienen sich an der Stelle ihres Körpers zu befinden, wo Damiens Daumen gerade klitzekleine sanfte Kreise zeichneten.

Nachdem sich gefühlt minutenlang niemand gerührt hatte, räusperte er sich. »Also«, begann er. »Ich habe beschlossen, deine Liste zu einem Abschluss zu bringen.«