23.

Dafür, dass Nettie eigentlich mit Damien hatte besprechen wollen, wie es mit ihnen beiden weiterging, hatte sie wahrlich noch nicht viel gesagt. Gar nichts, um genau zu sein. Seit sie sich hier oben auf der niedrigen Steinmauer vor dem kleinen Kirchlein St. Magdalen niedergelassen hatten, hatte sie lediglich zwei Sandwichboxen aus ihrem Rucksack hervorgezogen, ihm eine davon in die Hand gedrückt und dann einen Becher Tee eingegossen, aus dem sie abwechselnd tranken, was ihm seltsam und unpassend vorkam. Seltsam, weil sie sich gerade erst geküsst hatten und sich das Teilen des Bechers nun irgendwie so ähnlich anfühlte. Und unpassend, weil … Ja, gerade deshalb ja.

Damien biss in sein Sandwich und starrte aufs Meer, das sich weit vor ihnen unter dem milchigen Himmel erstreckte. Ein anständiger Sonnenaufgang war das heute nicht gewesen. Stattdessen zeigte sich der Morgen so wolkenverhangen, wie man ihn sich für einen Wintertag vorstellte, weshalb sich die Sonne schwertat, mit ihren Strahlen hindurchzubrechen, und den Himmel stattdessen wie von innen beleuchtete, matt und gedämpft. Das Licht schien fahler als im Sommer. Als hätte man eine Sparlampe angeknipst, um nicht alle Energie auf einmal zu verprassen.

Damien griff nach dem Tee im selben Augenblick, in dem Nettie es tat. Ihre Fingerspitzen berührten sich. Doch statt zusammenzuzucken, sahen sie einander an, und nur ganz allmählich ließ Damien den Becher los.

Er hatte sie geküsst. Schon wieder. Und – Freunde küsste man nicht einfach, richtig? Zumindest nicht so. Und er wusste nicht, waren sie jetzt zusammen, oder … oder nicht?

»Nettie …«, begann er, genau als Nettie sagte: »Du küsst ziemlich gut.«

Damien klappte den Mund zu.

»Ich meine, soweit ich das beurteilen kann«, fügte Nettie hinzu. »Ist nicht so, als hätte ich riesengroße Erfahrung darin.« Sie nippte an dem Tee, bevor sie ihm den Becher hinhielt, und Damien schluckte.

Richtig. Kevin. Für den Bruchteil des Augenblicks hatte er den völlig vergessen. In seinem absoluten Übereifer, nach Charlottes Nachricht sofort in Richtung Cornwall aufbrechen zu müssen, hatte er sich eigentlich nie gefragt, was mit diesem Kevin war. Er hatte lediglich die Vorstellung davon, dass Nettie zu ihm gehörte. Was, wenn sie aber eigentlich in Kevin verliebt war?

Schmetterlinge.

Es war, als könnte Nettie dieses Gefühl nicht mehr abstellen, seit sie es einmal auf Papier festgehalten hatte. Es kribbelte und vibrierte in ihrem Inneren, immer dann, wenn sie Damien ansah. Und wenn er sie küsste …

Sie holte einmal tief Luft. Und dann, weil Oscars kleine Ansprache sie aufgerüttelt hatte und sie schon immer mehr für ihren Pragmatismus bekannt gewesen war als für vornehme Zurückhaltung, sagte sie: »Bist du hergekommen, um unsere Freundschaft zu retten, oder …« Und dann verlor sie für eine Sekunde doch noch den Mut. Was, wenn Damien sie für verrückt erklärte? Was, wenn er sie mit großen Augen ansah oder vor ihr zurückschreckte oder schreiend davonlief?

Er hat dich geküsst, du Dummchen, dachte sie.

»… oder weil du in mich verliebt bist?«

Sie hatte den Satz so schnell hinterhergeschoben, dass Damien für einen Moment überrumpelt wirkte. Nettie konnte zusehen, wie die Bedeutung ihrer Worte allmählich, aber unaufhaltsam in seinen Verstand sank, und tatsächlich weiteten sich seine Augen, bevor er zu lachen begann.

»Wow, das war direkt«, stellte er fest.

»Direkter als … torrda, torrda

Woraufhin er sie wieder ansah, erstaunt und … ehrfürchtig auf eine Art. Dann stieß er die Luft aus, wie es Sportler taten, bevor sie zu Höchstleistungen ansetzten, und dann sagte er: »Du bist viel mutiger als ich. Ich hatte auch eine kleine Ansprache vorbereitet, aber die ging eher in diese Richtung: Ich hab’s nicht mehr ausgehalten, dass wir gar nicht mehr miteinander reden. Und als ich dann erfahren hab, dass dieser Kevin …«

Nettie hob die Brauen.

»Ich dachte, wenn ich noch ein bisschen länger warte, ist es vermutlich zu spät«, schloss er.

Woraufhin Nettie für einige Sekunden schwieg. Er hatte auf ihre Frage nicht geantwortet, die wirklich reichlich direkt gewesen war, stattdessen hatte er von Kevin angefangen, als wäre er der einzige Grund, der Damien dazu verleitet hatte, sein Schweigen zu brechen, nachzugeben und zu ihr zu fahren. Eifersucht. Oder Angst. Was auch immer ihn angetrieben hatte, er würde ihr deutlicher sagen müssen, was er für sie empfand, bevor sie ihre eigene Unsicherheit ablegen konnte.

»Was ist mit Charlotte?«, fragte sie.

»Was?« Damien blinzelte. Gerade dachte er noch darüber nach, welche Antwort die richtige auf Netties Frage war – die Wahrheit, nämlich: Ja, ich bin ich dich verliebt. Oder war das die Falle, und sie würde ihm daraufhin sagen: Dann ist es wohl besser, wir sehen uns nie wieder. Weil ich nicht so empfinde. Oder neuerdings Kevin liebe. Oder …

»Ich meine, du redest nicht gerade supernett über sie, aber trotzdem hatte sie deine Nummer, und damals, im Schwimmbad …« Diesmal ließ Nettie den Rest des Satzes zwischen ihnen hängen, gespannt wie eine Seifenblase.

Stirnrunzelnd betrachtete Damien seine Freundin, die seinem Blick standhielt, ziemlich entschlossen sogar. Die ganzen letzten Monate über hatte er sich Vorwürfe wegen dieses Kusses gemacht und dafür, die beste Freundschaft zerstört zu haben, die er jemals hatte, und nun … nun fragte er sich, ob der Grund für Netties abweisendes Verhalten womöglich gar nicht in dem Kuss an sich begründet lag, sondern in etwas ganz anderem.

»Ich finde Charlotte furchtbar«, sagte er. »Und sie hat meine Nummer, weil sie mir mein Handy aus der Hand gerissen und von meinem Apparat eine SMS geschickt hat. Ich meine, ich weiß, sie ist deine beste Freundin, obwohl ich noch nie verstanden habe, weshalb eigentlich, doch ich finde sie … grauenvoll.« Damien schluckte. Wieso war ihm früher nie aufgefallen, wie groß Netties Augen wirkten in diesem schmalen Gesicht mit dem riesigen, wirren Haarschopf drum herum? Wie hatte er nur all diese Jahre mit ihr befreundet sein können, ohne sie in einer Tour küssen zu wollen? Wo er jetzt scheinbar überhaupt nicht mehr damit aufhören mochte?

Wieder sahen die zwei sich an, wieder hatte Damien das Gefühl, dass es allmählich an der Zeit sei, den nächsten Schritt zu unternehmen oder sich für immer in das Loch zu verkriechen, in dem er sich die vergangenen Monate verkrochen hatte. Gerade öffnete er den Mund, um Nettie einfach die Wahrheit zu sagen, da bat sie ihn:

»Küss mich noch mal.«

Damien blinzelte. »Was? Ich …«

Nettie nahm ihm den Tee aus der Hand, stellte den Becher ab und drehte sich mit dem ganzen Körper zu ihm um, sodass sie jetzt rittlings auf der kleinen, vom Morgentau klammen Mauer saß. »Küss mich noch mal«, wiederholte sie. Und bevor Damien ihrer Aufforderung nachkommen konnte, hatte sie sich bereits vorgebeugt und ihre Lippen auf seine gedrückt.

Nettie hätte nie gedacht, dass sie so etwas je tun würde, doch sie ließ Damien quasi gar keine andere Wahl, als sich ihrem Kuss hinzugeben. Sie hielt sein Gesicht so fest umklammert, dass es ihm unmöglich war auszuweichen; sie brachte ihre Zunge derart entschieden ins Spiel, dass Damien gar nichts anderes übrig blieb, als einen winzigen ergebenen Laut von sich zu geben, und sie drängte sich so entschlossen an ihn, dass sie unausweichlich auf seinem Schoß landete.

Dieser Kuss – wilder, feuchter und um einiges intensiver als die beiden davor – war all das und noch viel mehr, was Nettie sich darunter vorgestellt hatte. Er setzte ihren Verstand außer Kraft, und ihr Herz geriet in Wallung, er vernebelte ihre Sinne und schmolz jeglichen Widerstand in ihr. Beinahe wäre sie nicht mehr daraus aufgetaucht, beinahe hätte sie vergessen, wo sie war, mit wem und warum sie sich gegen diese Brust presste, als sich doch ein Gedanke zurück in ihr Bewusstsein schob. Also fuhr sie noch einmal mit ihren Händen durch Damiens Haare, sog erneut seinen Duft ein, schmeckte ein letztes Mal sein ganz eigenes, köstliches Aroma, und löste sich dann von ihm.

Hätte sie eine Brille getragen, sie wäre jetzt beschlagen gewesen.

So aber sah sie lediglich mit verklärtem Blick in seine ebenfalls verhangenen Augen und flüsterte heiser: »Wow. Das war …«

»Allerdings«, murmelte Damien, »das war …«, bevor er sich vorbeugte, um da weiterzumachen, wo Nettie aufgehört hatte.

Nettie seufzte. Dann vergaß sie den Rest.

Nach wie vor hatte Damien ihre Frage nicht beantwortet, aber …

Und schon war ihr entfallen, wie der Satz hätte weitergehen sollen.