Es war nicht das erste Mal, dass Noah Perry durch die Hintertür einer Hotelbar in ein Auto geschoben wurde, tatsächlich war es ihm in den vergangenen sechs Jahren des Öfteren passiert: Der Erfolg von Out of Answers überschlug sich geradezu, und der Wahnsinn um die Serie setzte einen Impuls in Gang, der einem bergab rollenden Schneeball gleichkam. Alles wurde mitgerissen, was nicht rechtzeitig nach rechts oder links wegsprang. Seine Karriere, seine Privatsphäre, zum Teil sogar seine Würde. Fanatische Fans waren das eine, übergriffige Chaoten das andere. Als er sich im Fußraum von Sara Gibbs Wagen wiederfand, geduckt und mit einer Plane zugedeckt, die nach Feuchtigkeit und Erde roch, rief er sich exakt dasselbe in Erinnerung, das er sich auch an zermürbenden Tagen am Set immer wieder sagte: Augen auf bei der Wahl des Traumjobs. Und dann Augen zu und durch.
»Autsch.«
»Oh sorry, dieses Kopfsteinpflaster ist nicht gerade rückenfreundlich. Aber wir haben es gleich geschafft.«
»Wo sind wir?«
»Auf dem Damm nach Marazion.«
»Und? Sind noch Leute da?«
»Ich sehe niemanden, aber das heißt nichts. Es ist ziemlich dunkel hier draußen.«
»Ist uns jemand nachgefahren?«
»Nicht, soweit ich sehen kann.«
Mit einer Hand schlug Noah die Plane zurück und setzte sich in dem engen Raum umständlich auf.
»Hey, was machen Sie denn da? Wir sind noch nicht aus der Gefahrenzone. In dieser Gegend wimmelt es von alleinstehenden Damen – oder auch nicht so alleinstehenden –, die nur darauf warten, sich auf Sie zu stürzen.«
Über den Rückspiegel warf Sara Noah einen Blick zu, und er erkannte das Lachen in ihren Augen. Intuitiv beugte er sich vor, um den Abstand zwischen ihnen beiden zu verringern. Das war etwas, das er in den vergangenen Tagen oft getan hatte, dachte er. Er hatte versucht, den Abstand zwischen sich und dieser Frau zu verringern, hatte ihre Nähe gesucht.
»Sie machen sich über mich lustig«, stellte Noah fest. »Das ist nicht besonders nett.«
»Ich hab Ihnen gerade das Leben gerettet, oder etwa nicht?«
»Das stimmt allerdings.« Mittlerweile hatten sie den Fahrdamm zwischen Port Magdalen und Marazion verlassen und bogen auf die Hauptstraße ein. »Auch wenn es Ihnen offensichtlich Spaß macht, mich dabei zu quälen. Wohin bringen Sie mich eigentlich?«
»In meine Wohnung.« Erneut warf Sara ihm über den Rückspiegel einen Blick zu. »Wenn das in Ordnung ist. Sie ist mir als Erstes eingefallen.«
Noah nickte. Gerade eben noch langweilte er sich mit Heather vor dem Kamin in der Lobby, nun saß er bei der Frau, die er den ganzen Abend über nicht aus den Augen hatte lassen können. Noah wusste nicht genau zu benennen, was es war, das ihn an Sara Gibbs faszinierte, doch vom ersten Augenblick an hatte er das Gefühl, auf magische Weise in ihren Bann gezogen worden zu sein.
Und nun nahm sie ihn mit in ihre Wohnung. Was Noahs Herzschlag beschleunigte und noch schlimmer wurde, als sie jetzt sagte: »Ich hoffe, Gretchen und die anderen konnten Ihre Freundin in Sicherheit bringen. Am besten rufen wir gleich im Hotel an, wenn wir bei mir sind.«
»Richtig.« Noah räusperte sich, und einmal mehr traf ihn Saras Blick im Rückspiegel ihres Wagens. Dabei hatte er das Wort gar nicht laut sagen wollen, vielmehr war es die Ermahnung an ihn selbst, dass er offiziell mit Heather zusammen war und sich tunlichst von Komplikationen jeglicher Art fernhalten sollte, auch wenn sie noch so schöne Haut und umwerfend schokoladige Augen hatten. Und die Haare … Sie sahen aus wie dunkler, samtiger Satin. Noah fragte sich, wie sie sich anfühlten, seit er der Gärtnerin das erste Mal begegnet war. Was seine Ausgangsposition nicht gerade verbesserte.
»Da wären wir.« Sara hatte den Wagen in der Einfahrt eines kleinen, zweistöckigen Cottages zum Stehen gebracht, und Noah machte bereits Anstalten auszusteigen, doch sie hielt ihn zurück.
»Augenblick. Ich will nur eben sehen, dass keiner von den Nachbarn hier draußen ist.«
Es musste inzwischen schon reichlich spät sein, dachte Noah. Mindestens zehn. Er fragte sich, ob es nicht besser wäre, gleich zurück ins Hotel zu fahren, denn wie lange konnten sie dort schon brauchen, um der Eindringlinge Herr zu werden? Sicher war die Luft längst wieder rein, und sicher … sicher wäre es gar nicht nötig gewesen, ihn gleich an einen anderen Ort zu bringen, oder? Sie hätten sich genauso gut in den Stall schleichen können oder in einen der Filmwohnwagen, um dort die Turbulenzen auszusitzen. Trotzdem hatte sie ihn hierhergebracht. Und ein weiteres Mal innerhalb weniger Minuten spürte er, wie sein Herzschlag sich bei dem Gedanken daran beschleunigte, dass diese schöne Gärtnerin womöglich seine Nähe suchte, genauso wie er ihre.
Die Autotür öffnete sich, und Sara steckte den Kopf ins Innere. »Die Luft ist rein«, flüsterte sie. »Hier, halten Sie sich meine Jacke über den Kopf, nur für alle Fälle.«
Noah lachte.
»Was? Ich mache mich nicht über Sie lustig«, sagte Sara grinsend. »Ehrlich nicht.«
»Alles klar.« Noah nahm ihr die Jacke aus der Hand, hielt sie sich über den Kopf und folgte Sara durch das kleine Gartentor den schmalen Weg entlang zur Eingangstür, die Stufen hinauf und hinein ins Cottage, wo sie ihn in den ersten Stock führte, in der ihre Wohnung lag.
»Da wären wir. Willkommen im Hause Gibbs.«
»Hübsch.« Durch die Eingangstür waren sie unmittelbar in einer geräumigen Küche gelandet, wobei Noah schnell klar wurde, dass es sich dabei wohl auch um Saras Wohnzimmer handelte. Es gab eine Sofaecke mit einem kleinen Fernseher, einen gemütlichen, mit Kissen ausgelegten Erker, einen schmalen Kachelofen und nur eine weitere Tür, die, so erklärte ihm seine Retterin nun, in ein Schlafzimmer mit angrenzendem Badezimmer führte.
»Es ist sehr klein, ich weiß«, sagte sie, »besonders, wo Sie doch … Ich meine, Sie sind vermutlich anderes gewohnt.« Für einen Augenblick hatte Noah den Eindruck, als wäre es Sara auf einmal unangenehm, ihn hergebracht zu haben. Einen Wimpernschlag später lächelte sie wieder. »Bier? Es ist nicht vom Fass, aber ich habe ein sehr gutes Lager im Kühlschrank.«
Sara wusste nur zu gut, dass sie Noah Perry erstens nicht hätte in ihre Wohnung bringen müssen, und dass sie zweitens wahrlich kein Herzklopfen haben sollte, weil sie es dennoch getan hatte. Jetzt war es ohnehin zu spät, dachte sie, während sie ihn beobachtete, wie er es sich in ihrem Erker gemütlich machte. Er telefonierte mit weiß Gott wem von seiner Crew und sah dabei so umwerfend aus, dass sie ihn am liebsten für immer in ihrer Wohnung behalten hätte. Von der Plane, die sie im Auto über ihn geworfen hatte, waren seine dunklen Locken noch ein Stück zerzauster als sonst, und er hatte die Ärmel seines weißen Henley-Shirts nach oben geschoben, was Sara einen ziemlich guten Blick auf seine Unterarme gewährte. Konnten Unterarme tatsächlich sexy sein? Scheint so, dachte Sara, der auf einmal klar wurde, dass sie ihn anstarrte und dabei auf ihrer Unterlippe herumkaute. Mist. Was mache ich hier? Als hielte es die Antwort auf ihre Fragen bereit, begann das Handy in Saras Hosentasche zu vibrieren. Eine Textnachricht von Gretchen leuchtete auf, als sie es hervorzog.
Wo hast du ihn hingebracht? In deine Wohnung?
Noch mal Mist.
Nicholas meinte, bring ihn hier raus, und auf die Schnelle ist mir kein besserer Ort eingefallen.
Das Arbeitszimmer wäre ein besserer Ort gewesen. Der Hintereingang zur Küche. Der Stall. Netties Zimmer. Die Aufnahmeleiterin ist ziemlich wütend, dass Noah Perry Heather hier allein zurückgelassen hat. Sie brüllt gerade in ein Telefon. Ich will gar nicht wissen, welcher arme Tropf sich diese Tirade anhören muss.
Falls es Noah ist, geht es ihm gut. Er sitzt vor mir und telefoniert, sieht aber ganz entspannt dabei aus.
Wie um sich ihrer eigenen Worte zu versichern, sah Sara auf und zu Noah hinüber, der sie ihrerseits zu beobachten schien. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er, und Sara hob die Hand und winkte, nur um im gleichen Augenblick eine Grimasse zu ziehen.
Winken, Sara? Wirklich?
Schnell richtete sie ihren Blick zurück auf das Handy-Display, wo Gretchen offenbar gerade an einer Erwiderung schrieb. Der Dauer nach zu urteilen, musste das eine reichlich ausschweifende Antwort ergeben, doch als der Text bei Sara aufploppte, stand da nur:
Pass auf dich auf.
Saras Magen zog sich zusammen bei dem Gedanken an das, was Gretchen nicht geschrieben hatte. Vergiss nicht, er hat eine Freundin. Das war keine sonderlich schlaue Idee von dir. Der Ärger, den das hier verursacht, hast zu einem großen Teil du zu verantworten. Mach keine Dummheiten. Als ich sagte, du solltest dir wieder einen Mann suchen, meinte ich nicht einen, der schon einer anderen gehört.
»Alles in Ordnung?«
Als habe man sie bei etwas Verbotenem ertappt, zuckte Sara zusammen und hätte im gleichen Augenblick beinahe ihr Telefon fallen lassen. »Alles bestens«, stammelte sie, doch in seinem Blick las sie, dass ihre Zweifel womöglich in ihr Gesicht geschrieben waren – mit Neonfarbe. Einige Sekunden lang sahen sie einander an. Dann sprachen beide gleichzeitig.
»Ich kann Sie zurück ins Hotel bringen, sofort, wenn Sie wollen.«
»Wie war das gleich mit dem Bier?«
Einige weitere Sekunden lang starrten die zwei sich an, dann begannen sie zu lächeln, erst Noah, dann auch Sara. Und während sie sich umdrehte, um zum Kühlschrank zu laufen, spielte sich Gretchens Mahnung in ihrem Kopf ab wie eine gesprungene Schallplatte.
Pass auf dich auf. Pass auf dich auf. Pass auf dich auf.