37.

Es war nicht so, dass sie Kevin nicht mochte, dachte Nettie, während sie den Reißverschluss ihres Anoraks nach oben zog und die Hände in den Taschen vergrub. Es war kalt in dieser Woche, so viel stand fest. Sie blinzelte gen Himmel – die Farbe ein unfreundliches Dunkelgrau, das kurz davor war, der Nacht zu weichen – und überlegte, wann die Situation zwischen ihr und Kevin wohl gekippt war, wann es angefangen hatte, sie zu nerven, dass er sie offensichtlich küssen wollte, wann immer sie allein waren oder auch nicht allein waren, so wie heute auf der Terrasse von Lori’s Tearoom. Sie konnte schwören, Nicholas hatte sie auseinanderbringen wollen, als er sie im Café um Hilfe bat. Nicht, dass sie das in irgendeiner Weise gestört hätte, und dennoch: Es war ihr unangenehm, dass der Freund ihrer Mutter sie dabei beobachtet hatte, wie sie mit einem Jungen Zärtlichkeiten austauschte, zumal es nicht Damien war. Wie um Himmels willen sah das jetzt aus, und wie um alles in der Welt war sie überhaupt da hineingeraten?

Nettie schüttelte über sich selbst den Kopf. Diesen ganzen Mist, dachte sie, hatte sie sich selber eingebrockt. Sie hatte Kevin vorgeschlagen, sie zu küssen. Sie hatte mit ihm Händchen gehalten und ihn ins Hotel eingeladen und ihn ermutigt, sich wie jemand zu benehmen, der mehr war als nur ihr Schulfreund. Und sei es nur, weil Damien sie so furchtbar wütend gemacht hatte. Wie kam er dazu, sich erst monatelang nicht zu melden, dann, aus Eifersucht, mitten im Schuljahr nach Port Magdalen zu kommen, sie ein bisschen zu küssen, nicht einmal zuzugeben, dass er in sie verliebt war, und dann auszurasten, weil sie höchst notwendige Untersuchungen anstellte, ob diese ganze Sache zwischen ihnen es wirklich wert war, ihre Freundschaft dafür aufs Spiel zu setzen?

Von eurer Freundschaft wird nichts übrig bleiben, hallten Oscars Worte in Netties Ohr, wenn er eine andere hat.

Nettie blieb stehen und vergrub ihr Gesicht in beide Hände. Gott, sie benahm sich wie die letzte Idiotin, war es nicht so? Sie war stur und trotzig und unfähig, sich bei Damien zu entschuldigen oder zu kapieren, dass auch er zu kämpfen hatte, mit dieser Eifersucht zum Beispiel. Und mit dieser dummen Liste hatte sie nur noch mehr Öl ins Feuer gegossen.

Und dann?

Was hatte sie dann getan?

Sie hatte sich so schlimm mit Damien gestritten, dass er abgereist war, und dann hatte Kevin ihr eine Nachricht geschickt, und dann hatte sie sich mit ihm verabredet … Warum? Warum? Aus reiner Dickköpfigkeit, beschloss sie. Aus Groll. Aus … Was war denn nur los mit ihr? War sie völlig verrückt geworden, von allen guten Geistern verlassen? Sie war in Damien verliebt, sie wollte ihn haben, nicht Kevin, was tat sie denn hier?

Das Handy vibrierte in der Tasche ihrer Jeans, und Nettie stöhnte auf. Längst hatte sie die Hoffnung aufgegeben, es könnte Damien sein, der ihr schrieb – ganz im Gegenteil, sie hatte das Gefühl, er würde es so lange nicht tun, bis sie den ersten Schritt unternahm. Und, natürlich: Die Nachricht war von Kevin.

Ey, sorry, dass ich einfach so abgehauen bin, aber dieser Typ meinte, es könnte länger dauern. Was hältst du davon, wenn …

Nettie starrte auf das Display. Dann beschloss sie, die Nachricht nicht einmal aufzurufen, um zu sehen, wie sie weiterging, und steckte das Telefon weg. Allein die Ausdrucksweise. Ey! Abgehauen! Nettie rollte mit den Augen, während sie sich wieder auf den Weg zurück ins Hotel machte. Damien würde sich niemals so ausdrücken. Kevin klang die meiste Zeit wie ein Footballspieler aus einer dieser amerikanischen Highschool-Komödien, und er benahm sich auch so: wie ein Sechzehnjähriger, der denkt, er habe die Reife eines Fünfunddreißigjährigen, und dabei so albern wirkt wie ein Erstklässler. Und wie er küsste! Nettie erschauerte. Damien zehn, Kevin minus vier. So stand es nicht auf ihrer Liste, was nur bedeuten konnte, dass sie nicht einmal zu sich selbst ehrlich war. Und was half diese pragmatische Erörterung ihrer Gefühle dann überhaupt, wem nutzte sie?

Erneut blieb sie stehen, erneut griff sie nach ihrem Handy. Sie ignorierte Kevins Nachricht, rief stattdessen Damiens Nummer auf und begann zu tippen.

Nur um wieder damit aufzuhören.

Und erneut damit anzufangen. Entschlossener diesmal. Und von einer plötzlichen Wut getrieben, auf Kevin, auf Damien und auf sich selbst.

Du kannst unmöglich mir allein die Schuld für alles geben. Du hast dich drei Monate lang nicht gemeldet. Drei Monate! Um dann auf einmal hier hereinzuplatzen, mich an dich zu reißen und

Zwei Sekunden lang starrte Nettie auf die Nachricht, dann machte sie sich daran, den Text wieder zu löschen, wobei sie versehentlich auf den Senden-Pfeil kam.

»Ach, shit.« Sie seufzte entnervt und überlegte, wie sie ihren Ausbruch ein wenig abmildern und ihm eventuell noch eine graziöse Wendung verpassen konnte, da tauchten die drei Punkte auf, die Damiens Nachricht ankündigten. Und dann …

Witzig, sportlich, gut aussehend? Kann ich mir vorstellen, mit ihm Sex zu haben? Küsse 4, Damien 9??? Vielleicht verzeihst du mir, Nettie, wenn ich darüber erst ein wenig nachdenken muss, bevor ich dazu bereit bin, DAS auszudiskutieren. Ganz abgesehen davon, dass du überhaupt mit ihm … Ach. Vergiss es.

Nettie plusterte die Wangen auf. Stieß die überschüssige Luft aus und setzte seufzend ihren Weg fort.

Sie war dabei, das letzte Stück zum Hotel zurückzulegen, nur um kurz vor ihrem Ziel auf ein weiteres Hindernis zu stoßen: Minerva Barnes, zur Weißglut genervte Aufnahmeleiterin der preisverdächtigen Serie Unknown, hatte wegen des unerwartet heftigen Flashmob-Vorfalls die Security nicht nur austauschen, sondern zudem verschärfen lassen, was in den vergangenen Tagen bereits einigen zum Verhängnis geworden war, Mitglieder von Hotel- und Filmcrew eingeschlossen. Als Nettie an diesem Nachmittag das letzte Stück Wald vorm Wild at Heart durchquerte, leuchtete ihr schon von Weitem die gelb-weiß geringelte Weste des Sicherheitsmanns entgegen und außerdem der Spazierstock von Bruno Fortunato, der damit vor dem stoischen Security-Mann herumfuchtelte.

»Sie wollen es nicht begreifen, habe ich recht?«, hörte sie ihn schimpfen. »Wer zum Donnerwetter führt auf einer Insel wie Port Magdalen einen Ausweis bei sich, wenn er das Haus verlässt? Ich gehöre zu den ältesten Freunden der Familie Wilde. Lassen Sie mich durch, und ich hole den alten Theo, der wird Ihnen das bestätigen. Außerdem mache ich die Wäsche, Sie Stronzo! Bruno Fortunato, wenn Sie vielleicht noch mal auf Ihrer Liste nachsehen?«

»Ausweis«, sagte der Mann tonlos.

Bruno fluchte wild auf Italienisch.

»Was ist denn hier los?«, fragte Nettie, als sie zu den beiden Männern trat. Bruno war ganz rot im Gesicht. Er sah aus, als würde er jeden Augenblick anfangen zu schreien. Weshalb Nettie einigermaßen erleichtert war, als er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorbrachte: »Dieser Mann will mich nicht vorbeilassen, weil ich eure Telefonnummer nicht im Kopf habe.«

»Haben Sie eventuell ein Mobiltelefon, wo die Nummer eingespeichert ist?«, fragte der Sicherheitsmann gelangweilt.

»Wenn ich ein Telefon …«, begann Bruno lautstark, und Nettie, die eigentlich wirklich für heute genug Aufregung hatte, legte eine beschwichtigende Hand auf seinen Arm.

»Nettie Wilde«, sagte sie ruhig. »Meiner Familie gehört das Hotel.«

»Ausweis?«

Nettie blinzelte. »Ausweis? Ich bin schon gestern an Ihnen vorbeigekommen, erinnern Sie sich? Mein Name stand auf Ihrer Liste.«

»Seitdem sind etwa zwei Dutzend Nettie Wildes an diversen Punkten unserer Sicherheitskette ans Set gelangt. Weshalb der Zutritt seit heute nur noch mit Ausweis gestattet ist. Ausweis?«

Nettie knurrte etwas, das glücklicherweise niemand verstand, zog ihr Handy aus der Hosentasche und rief im Hotel an, woraufhin Theo mit einem Berechtigungsschein angelaufen kam, unterschrieben von Minerva Barnes höchstpersönlich. »Gehört ihr das Hotel inzwischen auch?«, murrte Bruno, und Nettie konnte ihm nur recht geben. So allmählich ging selbst ihr dieser ganze Rummel gehörig auf die Nerven, weshalb sie beschloss, dringend mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, dass solche Sicherheitsmaßnahmen nicht im Sinne aller Beteiligten waren. Nicht nur, dass sie Damien nicht auf der Liste des Security-Mannes hatte entdecken können, war sie sich zudem nicht sicher, ob er einen Ausweis dabeihaben würde. Und falls er wirklich noch einmal in den nächsten zwei Wochen nach Port Magdalen kommen wollte, sollte doch so ein dummer Wachposten ihn nicht daran hindern, zu ihr zu gelangen (wo sie doch selbst weiß Gott schon genügend Hindernisse zwischen sich aufgebaut hatten). Auch wollte sie nicht darüber nachgrübeln müssen, ob Damien tatsächlich nicht gekommen oder nur an der Kontrolle vorm Hotel gescheitert war.

Sehr kurz nur flogen ihre Gedanken zu Kevin. Sie würde sichergehen, dass sein Name erst gar nicht auf dieser Liste erschien.

»Hey, Oscar.«

»Nettie.« Im Vorbeigehen nickte der Koch ihr zu. Er stand vor dem Eingang zur Terrasse und rauchte eine Zigarette, und plötzlich kam Nettie eine Idee.

»Lässt du mich mal ziehen?«, fragte sie, als sie kehrtmachte, zu ihm zurückging und neben ihm stehen blieb.

»Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?«

Nettie zuckte mit den Schultern, aber Oscar machte keine Anstalten, ihr die Zigarette zu überlassen, stattdessen trat er sie aus.

»Hast du dich je gefragt«, begann Nettie, »ob Florence tatsächlich die Richtige für dich ist? Ich meine, was, wenn dieser ganze Quatsch es gar nicht wert ist? Dieses Gerede von Chemie und Neugier und Anziehung und Sex.«

»Wie bitte?« Oscar sah sie an, der Gesichtsausdruck eine Mischung aus Ungläubigkeit und Horror.

»Der, äh … Sex, Oscar.« Nettie räusperte sich. »Woher weiß man, nach, sagen wir, ein paar Küssen, ob diese Verbindung wirklich die richtige ist? Oder ob man nur einer Vorstellung aufgesessen ist, dieser Vorstellung davon, wie schön etwas wäre, obwohl man keine Ahnung hat, wie sich alles in der Realität entwickeln wird? Ob er/sie/es auch der/die Richtige ist dafür? Was, wenn wir uns am Ende fragen, ob es nicht besser gewesen wäre, eine Freundschaft zu pflegen, die uns mit so viel Glück erfüllt hat, anstatt etwas nachzugeben, das es womöglich gar nicht wert war?«

Zu Netties Verteidigung ließ sich sagen, dass sie zumindest furchtbar rot wurde bei dieser kleinen Ansprache, was Oscar dennoch nicht darüber hinwegtäuschen konnte, dass er keine Lust hatte, mit der Tochter seiner Chefin derlei Themen zu erörtern. Er wusste ja nicht einmal, weshalb sie ausgerechnet ihn dazu auserkoren hatte. Oder gut. Vielleicht konnte er es erahnen. Trotzdem.

»Wie alt bist du noch mal?«, fragte er unnötigerweise, woraufhin Nettie erwartungsgemäß die Augen verdrehte.

»Du weißt ganz genau, wie alt ich bin.«

»Dann mach dir nicht jetzt schon über solchen Quatsch Gedanken«, sagte Oscar, während er in die Tasche seiner Schürze griff, eine Schachtel Zigaretten herausholte und sich eine davon genau in dem Augenblick an die Lippen hob, als Gretchen Wilde auf sie zukam.

»Wenn du schon rauchst, Oscar«, rief sie ihm entgegen, »dann hinterm Haus. Was sollen die Leute denken, wenn unser Koch hier mit Tabakfingern herumläuft?«

Woraufhin Oscar die Zigarette seufzend zurück in ihr Päckchen schob.

Gretchen nickte den beiden zu und verschwand im Hotel. Nettie sah den Koch erwartungsvoll an.

»Die Tatsache, dass du dir in deinem sechzehnjährigen Kleinhirn derlei Gedanken machst«, erklärte Oscar, »besagt eigentlich nur, dass du aus dieser Sache sowieso nicht mehr rauskommst. Ob der Typ nun der Richtige ist oder nicht.«