Als Damien mit Saras Zelt den Weg zurück ins Hotel einschlug, war es dunkel geworden und die Sonne einem indigoblauen Himmel gewichen, gespickt mit Wolken und Sternen. In Brighton, dachte er, dort, wo er herkam, waren die Sterne nur selten so deutlich zu sehen wie hier draußen über dieser kleinen Insel, von der viel weniger Licht nach oben strahlte als in der Stadt. Er ging, den Blick gen Himmel gewandt, so lange, bis die ersten Baumwipfel ihm die Sicht versperrten.
Für das Stück durch den Wald hinunter zum Hotel schaltete Damien die Taschenlampe seines Handys ein. Und er versuchte, möglichst nicht daran zu denken, dass er allein und im Dunkeln durch ein Waldstück lief, denn – dies war schließlich Port Magdalen, richtig? Der idyllischste Ort auf Erden, mit einer Kriminalitätsrate, die vermutlich gegen minus zehn tendierte, und kaum mehr Aufregung als ein Freibad im Winter.
Was nicht ganz richtig war, zumindest nicht in diesen Tagen. Kaum war Damien zwischen den Bäumen hervorgetreten, drangen Stimmen an sein Ohr, Satzfragmente, von etwas weiter weg und kaum zu verstehen. Sie wehten aus Richtung der Klippen zu ihm herauf, begleitet von einem milchigen Licht, das seine These von gerade eben zu widerlegen schien. Die Dreharbeiten dauerten noch an. Was Damien daran erinnerte, dass es zwar bereits dunkel, aber noch nicht sonderlich spät war und dass er seit heute Morgen nichts mehr gegessen hatte.
»Ah, hallo, Junge. Habt ihr noch ein Zelt auftreiben können?« Theo Wilde stand vor seinem alten Schäferwagen beziehungsweise vor dem Vorzelt, das er aufgestellt hatte und nun offenbar mit einer Lichterkette zu verzieren gedachte. Er hielt das Kabel mit bunten Glühbirnen in der einen Hand und einen Tacker in der anderen, während er auf eine Trittleiter stieg. »Tut mir leid, dass unseres scheinbar in Flammen aufgegangen ist. Ich würde dich ja auf der alten Couch in meinem Wagen schlafen lassen, aber die ist wirklich zu klein für dich. Du bist ja noch mal gewachsen seit dem Sommer.«
»Also, ehrlich gesagt – nein, das nicht«, erwiderte Damien. Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare (die inzwischen ein gutes Stück zu lang waren, nach Theos Geschmack) und hob die andere, in der er eine Tasche hielt. »Miss Gibbs hat mir ihr Zelt geliehen. Jetzt brauch ich nur noch einen Platz, wo ich es aufstellen kann.«
»Wenn es hier inzwischen etwas gibt«, sagte Theo, »dann ausreichend Platz.« Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er hinter sich. »Du kannst das Zelt im Garten aufstellen, von dort hast du eine phänomenale Sicht aufs Meer. Allerdings auch auf die Hühner. Man weiß nie, wann sie einen morgens aus dem Schlaf reißen.«
»Wenn die Aussicht so phänomenal ist«, sagte Damien, »wieso haben Sie Ihren Wagen dann hier draußen aufgestellt? Mit Blick auf … äh …« Damien zögerte.
»Mit Blick auf dieses liebreizende Chaos, das die Filmleute hier zusammengeparkt haben?«, kam ihm Theo zu Hilfe. »Du hast keine Ahnung, wie aufregend das sein kann.« Er kicherte. Und prompt erinnerte sich Damien daran, dass er schon lange nicht mehr so fröhlich gewesen war wie dieser alte Mann. Seit dem Sommer nicht mehr, dachte er, seit er die Insel verlassen hatte.
»Hast du schon gegessen?« Theo betrachtete Damien, den Kopf zur Seite gelegt.
»Nein, noch nicht.«
»Na, dann komm mal mit, mein Freund. Jetzt zeige ich dir, wie aufregend es hier gerade ist.«
Damien folgte Theo durch die Eingangshalle und das Restaurant hinaus auf die Terrasse, wo ein weiteres Zelt aufgebaut worden war – eines, das die gesamte Fläche der Terrasse überspannte, wie ein riesiger, weißer Baldachin. Vereinzelte Heizstrahler sorgten an den darunter verstreuten Tischen und Stühlen für erträgliche Temperaturen, und erst als er in die künstliche Wärme trat, wurde Damien bewusst, wie kalt es draußen gewesen war.
Vor einer der zwei Fensterfronten war eine lange Theke aufgebaut worden, hinter der in Kochschürzen gekleidetes Personal in silbernen Kasserolen rührte und Salat anrichtete. Damien erkannte Oscar und Hazel, die beiden Jungköche des Wild at Heart, während Theo nach der Chefin Dorothy »Dottie« Penhallow Ausschau hielt, die allerdings nirgendwo zu sehen war. Dafür drängten sich einige der Filmleute vor den Pfannen und Töpfen und an den Tischen, wo sich bereits benutztes Geschirr türmte und halb geleerte Gläser sammelten.
Theo seufzte. »Nimm dir was zu essen, Junge, ich mach hier erst ein wenig sauber.«
»Ganz im Gegenteil.« Damien ging einen Schritt zurück und stellte die Tasche mit dem Zelt hinter der Glastür ab, die ins Restaurant führte. »Ich räume eben das Geschirr in die Küche, bin gleich wieder da.«
Würstchen. Das war das, was Theo in einer der Kasserolen entdeckte und daneben dampfender, frisch gestampfter Kartoffelbrei. Dazu gab es Röstzwiebeln, Senf, Ketchup und eine Schale voller Buttererbsen, und Theo füllte schon einen Teller damit, ohne überhaupt die Deckel der anderen Töpfe anzuheben.
»Was ist das?«, fragte Damien, der neben Theo aufgetaucht war.
»Veganes Kohlrabigratin«, antwortete Oscar, der hinter der Theke gestanden hatte. »Dazu gibt es Sellerieschnitzel und Salat.«
»Mmh.« Damien griff nach der Zange für die Würstchen.
»Mmh«, stimmte Oscar zu. Er ließ seinen Blick etwas länger auf Damien verweilen, als dem recht war, bevor er sich wieder dem Bund Schnittlauch widmete, das er in feine Ringe schnippelte.
Damien fragte sich, was wohl hinter Oscars Stirn vor sich ging. Ob er sich wunderte, dass er hier aß, mit Theo Wilde statt mit seiner Enkelin, der er während seines Aufenthalts im vergangenen Sommer kaum von der Seite gewichen war? Ob er sich fragte, was er überhaupt hier tat – so mitten im Schuljahr, ohne seine Väter? Ob er …
»Quatsch«, murmelte er schließlich vor sich hin. Vermutlich dachte Oscar gar nichts. Nicht jeder interessierte sich für ihn und seinen Gemütszustand.
»Also, erzähl mal, Junge. Was machst du hier?«, fragte Theo.
Oder eben doch, dachte der.
Letztlich umging Damien Theos Frage, doch diesem schien die ausbleibende Antwort nicht einmal aufzufallen: Nachdem sie sich an einem der schmiedeeisernen Tische niedergelassen hatten, wurde ihre Aufmerksamkeit vor allem von ihrer unmittelbaren Umgebung absorbiert. Direkt neben ihnen hatten sich die Hauptdarsteller niedergelassen, was Theo Damien wissen ließ, um einiges lauter, als es dem lieb war. Damien warf einen Blick auf die beiden. Er erkannte Noah Perry sofort, und obwohl er in diesem Schuppen-Kostüm, mit der fremdartigen Frisur und dem übertriebenen Make-Up ganz anders aussah als in der Serie, die ihn berühmt gemacht hatte, konnte er Charlottes Aufregung nachempfinden. Perry war in der Tat eine imposante Erscheinung, der Blick so intensiv, dass er nur hoffen konnte, er würde ihn nie auf Nettie richten. Was … absurd war. Er war viel zu alt für Nettie. Und selbst, wenn nicht …
»Isst du das noch?«
»Was?«
»Junge, du lässt die guten Würstchen kalt werden.« Theo lachte. Er spießte mit seiner Gabel eine der in der Tat unangetasteten Bratwürste auf und lud sie auf seinen Teller. Dann betrachtete er Damien etwas genauer.
»Ihr habt ähnliche Symptome«, sagte er, »Nettie und du.«
»Wie bitte?«
Theo nickte, als würde er sich selbst bestätigen wollen. »Sie ist so dünn geworden, seit dem Sommer. Noch dünner als ohnehin schon. Und du siehst auch nicht gerade so aus, als würdest du zu viel zu dir nehmen.« Sprach’s und schob sich ein weiteres Stück von der gestohlenen Wurst in den Mund.
Theo kaute genüsslich. Damien schob Erbsen auf seinem Teller herum. Noah Perry sah neugierig zu ihnen herüber, während Heather Mompeller vor ihm mit einer Leidenschaft in ihr Handy tippte, die man ihr erst einmal nachmachen musste.
»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, erklärte Damien schließlich.
»Nun«, erwiderte Theo, »dann sage ich dir etwas, Junge: Meine Enkelin ist sechzehn. Und mit sechzehn, oh ja, das weiß ich noch sehr genau, da spielen die Hormone verrückt, die Fantasie schlägt Purzelbäume, aber das Herz ist auch besonders anfällig für tiefschürfende, niemals verheilende Wunden.«
»Ich würde Nettie nie …«
»Weil die, die sie zufügen, selbst erst zu wenige davon erlitten haben, um zu erspüren, was sie wirklich bedeuten. The First Cut Is The Deepest – kennst du den Song?« Theo seufzte. »Am Lagerfeuer haben wir den früher gesungen, voller Inbrunst, und obwohl keiner von uns dieselbe Erfahrung gemacht hat, waren wir uns im Grunde unserer Seelen einig.« Er sah Damien erwartungsvoll an.
»Ich würde Nettie nie wehtun«, sagte der, »nicht absichtlich und … unabsichtlich hoffentlich auch nicht.«
Theos Brauen hoben sich.
»Ich meine, falls ich ihr im Sommer … also, falls da …«
»Nettie ist nicht diejenige, um die ich mir Sorgen mache.«
Damien blinzelte. »Nicht?«
Theo schüttelte den Kopf, und dann grinste er: »Das junge Herz ist besonders anfällig, aber es hält auch viel mehr Schmerzen aus als ein altes. Falls dich das tröstet.«
Unnötig zu sagen, dass Damien eine ganze Weile lang an dem zu knabbern hatte, was Theo Wilde ihm da eröffnet hatte. Nicht um Nettie machte er sich Sorgen, sondern um ihn, Damien, wenn es darum ging, heil aus dieser vertrackten Angelegenheit zwischen ihm und seiner Enkelin herauszukommen. Tatsächlich knabberte Damien mehr an diesen Gedanken als an seinem Essen, während sie ihre Mahlzeit auf der Terrasse des Wild-at-Heart-Hotels abschlossen. Nur nebenbei nahm er wahr, dass Theo mittlerweile Dottie entdeckt hatte und sich über einige Tische hinweg mit ihr unterhielt – unterhielt oder sie aufzog, je nachdem, wie man es formulieren wollte. Damien hoffte sehr, dass er in Theo Wildes Alter auch noch so gut gelaunt, witzig und schlagfertig sein würde.
Noch. Er schnaubte. Als wäre er das jetzt – gut gelaunt und witzig. »Ich meine, ich war es mal«, murmelte er vor sich hin und fing sich dafür einen misstrauischen Blick vom Nachbartisch ein. Heather Mompeller wirkte ebenfalls nicht gerade so, als wäre sie in blendender Stimmung, fiel Damien auf. Und auch Perrys Lippen malten nur mehr einen schmalen Strich in sein Gesicht. Weshalb Damien sagte, laut und zu niemandem im Besonderen: »Überall das Gleiche.«
Als er aufstand, warf Noah Perry im Vorbeigehen einen Blick auf Damien. Und dann zwinkerte er ihm zu, ganz kurz nur.
Auch Nettie schenkte er ein Lächeln, als er an ihr vorbei ins Restaurant lief (und von dort aus ins Foyer und dann hoch in sein Zimmer, wo er sich ein Bad einlassen würde, um den Stress des Drehtages von sich zu waschen … und noch so einiges mehr). Nettie dagegen nahm den Schauspieler überhaupt nicht wahr. Sie hatte nur Augen für den Jungen, der mit ihrem Großvater am Tisch saß, vor sich hin murmelte und in seinem Essen herumstocherte.
Sie würde ihm helfen, das Zelt aufzubauen. Dann würde sie weiter an der Liste arbeiten, die sie nach Oscars Worten begonnen hatte, und dann würde sie darüber schlafen, wie Damien und sie die kommenden zwei Tage miteinander umgehen würden.
Wenn sie ihn jetzt dort sitzen sah, die Stirn gerunzelt, die dunklen Haare ganz zerzaust von den vielen Malen, die er seine Hand darin vergraben hatte, dann … zog etwas in ihrem Inneren, das sie unmöglich ignorieren konnte. Sie war absolut und bis zur Sprachlosigkeit verblüfft gewesen, ihn heute hier auf Port Magdalen zu sehen. Aber schon jetzt fühlte sie sich hundert Mal besser, als sie sich die vergangenen drei Monate gefühlt hatte.
»Na, habt ihr schon miteinander geredet?« Gretchen war neben Nettie aufgetaucht und legte ihrer Tochter einen Arm um die Schultern.
Anstelle einer Antwort verdrehte Nettie die Augen.
»Was denn? Das war eine völlig harmlose Frage! Was denkst du, weshalb er hergekommen ist? Mitten im Schuljahr? Die weite Fahrt, nur für ein Wochenende?«
»Mum, ehrlich.« Diesmal schüttelte Nettie ihre Mutter ab, warf ihr einen strafenden Blick zu und griff dann nach einem mit Kartoffelstampf und Würstchen gefüllten Teller, den Oscar eben an ihr vorbeitragen wollte.
»Hey!«, rief der empört.
»Ich esse auf meinem Zimmer«, erklärte Nettie.
Sowohl Oscar als auch Gretchen blickten ihr nach, als sie sich mit dem gestohlenen Teller durchs Restaurant auf und davon machte.
»Wir klären das unter uns«, rief sie über ihre Schulter. »Kümmer du dich um dein Liebesleben, Mum. Und du auch, Oscar.«
»Ach, du gibst also zu, dass es etwas mit Liebe zu tun hat?«, rief Gretchen ihr hinterher, doch da war ihre Tochter – einen letzten entnervten Ton auf den Lippen – bereits durch die Schwingtür in die Lobby verschwunden.
»Tja«, sagte Oscar.
»Kümmer dich um dein eigenes Liebesleben?« Gretchen musterte den Jungkoch mit erhobenen Brauen.
Der wollte gerade ein paar intelligente Worte erwidern (wenn ihm nur etwas eingefallen wäre), da war seine Chefin auch schon von einem der Filmleute beiseitegezogen worden, um weiß der Himmel was zu besprechen, Oscar wusste es nicht. Also lief er zurück hinter die Küchentheke und machte erneut den Teller fertig, den der Regisseur ans Set bestellt hatte. Unterdessen setzte sich Gretchen, wie beinahe jeden Abend, mit der Aufnahmeleiterin Minnie auseinander, Damien griff sich sein Zelt und schlug damit den Pfad zum Garten ein, während Dottie mit einem letzten Augenrollen in Richtung Theo in ihrer Küche verschwand.
Theo selbst machte sich auf den Weg zurück zu seinem alten Schäferwagen, um die Arbeit an der Verschönerung des Vordachs aufzunehmen. Er hatte die Lichterkette eben befestigt und wollte sich mit einem Schlückchen Nachtisch zurücklehnen, um sein Werk zu bewundern, als es passierte: Während sich der alte Mann in seinen Liegestuhl fallen ließ, sackte eine Seite des Holzgestells in den Boden, und der alte Theo landete keuchend auf seinem Hinterteil. Er hatte nichts von seinem Whisky verschüttet, Gott sei Dank, aber sicherlich einen blauen Fleck davongetragen. Und während Theo sich noch fragte, was da gerade geschehen war, stellte er fest, dass sich unter ihm ein Loch aufgetan hatte – ein schwarzes, eher eckiges als kreisrundes Loch, das ihm schlichtweg den Boden unter den Füßen weggezogen hatte.